„Die Zeitung ist jetzt eigentlich besser“ Was tun Sportredaktionen in sportfreien Zeiten?
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30. April 2020, 17:38 Uhr
Regionalsport-Redaktionen müssen in diesen Wochen umdenken. Die Zeiten, in denen die Terminkalender ihre Agenda bestimmten, sind erst einmal vorbei. Denn auf absehbare Zeit werden keine Sportereignisse stattfinden - abgesehen vielleicht von Spielen ohne Publikum in den obersten Fußballligen. Wir haben mit einigen Redaktionen darüber gesprochen, wie sie mit der Situation umgehen.
„Eine langfristige Vorausplanung ist derzeit nicht möglich“
„Es ist ziemlich erstaunlich, dass eine Woche vor Hitlers Selbstmord ein Fußballspiel stattfinden konnte“, hat vor einigen Jahren der britische Historiker Ian Kershaw gesagt. Er zählt zu den Koryphäen in der Forschung zum Thema Nationalsozialismus. Kershaws Satz bezog sich damals auf das letzte Münchener Fußballderby vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das der FC Bayern mit 3:2 gegen den TSV 1860 gewann.
Liest man den Satz heute, wird einem klar, in welcher historischen Sondersituation sich der Sport derzeit befindet. Abgesehen vielleicht von sogenannten Geisterspielen im Profifußball, wird es bis mindestens September 2020 keinen Wettkampfsport geben. Das ist vermutlich die längste Pause in der Geschichte des organisierten Sports. Für den regionalen Sportjournalismus bedeutet das, dass er sich nahezu komplett neu orientieren muss.
Anne Toss, Leiterin des Sportressorts bei der Volksstimme in Magdeburg, sieht das Hauptproblem darin, dass „eine langfristige Vorausplanung derzeit nicht möglich ist“. Die Volksstimme hat die Umfänge im überregionalen Sportteil mittlerweile auf zwei Seiten reduziert - freitags und montags sind es sonst drei bis vier Seiten. Das Magdeburger Lokalsportressort hat man von zwei Seiten auf eine eingedampft.
Im Handball gab es noch was zu berichten
„Durch den April sind wir aber noch relativ gut durchgekommen“, sagt Toss. Denn bei der Sportredaktion der Volksstimme dreht sich neben dem Fußball-Drittligisten 1. FC Magdeburg sehr viel vor allem um die Handballer des SC Magdeburg, die in der ersten Liga spielen. Und so lange die Handball-Bundesliga noch darüber diskutierte, ob sie ihre Saison fortsetzt, ließ sich über den SCM noch regelmäßig aktuell berichten. Am 21. April beschloss aber auch die Handballbundesliga, die Saison abzubrechen. „Wenn alle Entscheidungen darüber, wie es mit dem Liga-Betrieb weiter geht, durch sind, wird das Themenfeld karger“, sagt Anne Toss.
Tino Meyer, Sportchef der Sächsischen Zeitung, sagt, seine Redaktion profitiere jetzt davon, „dass wir unsere Berichterstattung schon in den letzten vier, fünf Jahren weiter gefasst und uns nicht nur auf Ereignisberichterstattung, sondern auch auf Geschichten jenseits des Wettkampfgeschehens konzentriert haben“. Ein aktueller Text aus dieser neuen Kategorie erzählt die Geschichte des in Dresden lebenden Kanuten Tom Liebscher und der in Budapest lebenden Kanutin Dóra Lucz - beziehungsweise die einer „Fernbeziehung im Ausnahmezustand“: Die beiden Wassersportler hätten jetzt eigentlich mehr Zeit, sich zu sehen, weil die Olympischen Sommerspiele in Folge der Corona-Krise verschoben wurden und beide auch weniger trainieren müssen. Nun leben sie aber wegen Corona „durch zwei geschlossene Grenzen voneinander getrennt“, wie es im Text heißt.
Artikel über alte Sporthelden funktionieren immer
Anne Toss von der Volksstimme sagt, ihr Ressort sei auch dazu da, dafür zu sorgen, dass im Blatt etwas anderes vorkomme als Corona. Vielerorts setzen die Sportredaktionen der Zeitungen jetzt auf historische Stoffe. Die Volksstimme hat die Rubrik „Damals war’s“ neu eingeführt. Die erinnert dann zum Beispiel an einen Kreispokalsieg des VfL Gehrden (Landkreis Anhalt-Bitterfeld) im Jahr 1993, der deshalb erwähnenswert ist, weil der damalige Matchwinner schon 45 Jahre alt war. Bei der Sächsischen Zeitung sei ein großes Interview mit der heute in Nordrhein-Westfalen lebenden Ex-Schwimmerin Rica Reinisch „richtig gut gelaufen“, sagt Tino Meyer. Reinisch holte 1980 als 15-Jährige bei den Olympischen Spielen dreimal Gold für die DDR und litt später unter den Folgen von Doping. Der Artikel sei dank „der starken Reizworte DDR, Olympia, Doping“ erfolgreich gewesen, sagt Meyer.
Artikel über alte Sporthelden, die Geburtstag feiern, funktionierten immer, sagt Thomas Sprafke, Leiter der Sportressorts in der Gemeinschaftsredaktion des Freien Worts (Suhl), der Südthüringer Zeitung und der Meininger Zeitung. Solche Beiträge soll es bald in Serienform geben. Die Lokalredaktionen in Sonneberg und Hildburghausen haben bereits eine Serie über „Südthüringer Fußball“ gestartet. Ein Leser habe zudem angeregt, eine Serie über alte Liga-Mannschaften der DDR aufzulegen, sagt Sprafke. „Liga“ - so lautete einst der schlichte Name für die zweite Fußball-Spielklasse im Osten.
Fitness-Tipps für die Menschen zu Hause
Eine Idee, die während der Corona-Krise entwickelt wurde, könnte sich als zukunftsträchtig erweisen: Mit der in Oberhof lebenden Bob-Olympiasiegerin Mariama Jamanka produzieren Sprafke und Co. die Serie „Fit in der Krise“. Sie erscheint allerdings nicht im Sportteil, sondern auf der Freizeitseite. Die Serie ist auf 20 Teile angelegt, und Sprafke kann sich vorstellen, nach Corona Ähnliches mit anderen prominenten Sportlern aus der Region fortzuführen. Ansonsten ist er froh, dass seine Zeitungen zum Beispiel über den laufenden Bau des neuen Stadions von Carl Zeiss Jena und den Umbau der Austragungsstätte für die Biathlon-Weltmeisterschaft 2023 in Oberhof berichten können. Sorgen, in den kommenden Monaten die Zeitung nicht füllen zu können, macht sich Sprafke „eigentlich nicht. Da fällt uns schon noch das eine oder andere ein.“
Chance zur Vielfalt
Der Journalistikprofessor Thomas Horky, der an der Macromedia-Hochschule in Hamburg auf das Lehrgebiet Sportjournalismus spezialisiert ist, sagt: „Die Redaktionen haben jetzt die Chance, Vielfalt zu demonstrieren. Wenn der Sport-Terminkalender die Agenda vorgibt, ist das nicht gut, aber bei einem Großteil der Regionalzeitungen war das bisher so.“
Dass man bei der Themenplanung jetzt „neu denken muss“, habe auch seine Vorteile, sagt Thomas Sprafke vom Freien Wort. Und er geht sogar noch einen Schritt weiter: „Die Geschichten sind nicht mehr termingetrieben, sondern themen- und personengetrieben. Das gilt ja nicht nur für den Sportteil - und jeder, mit dem ich rede, sagt, dass die Zeitung jetzt eigentlich besser ist.“ Als Privatperson vermisst Sprafke die Normalität des Sports aber sehr wohl - wenn auch nicht den „großen Fußball“, wie er betont. Ihm fehlt es, mit den Spielern der Alten Herren des 1. Suhler SV nach dem Training zusammen zu sitzen. Sprafke ist schließlich Coach der Mannschaft.
„Verantwortung für den Sport in der Region“
Beim MDR hat die Pandemie es mit sich gebracht, dass „wir mehr Zeit und Ressourcen für den Breitensport und Sportarten jenseits des Fußballs aufwenden“, sagt Raiko Richter, Hauptredaktionsleiter Sport beim MDR. Dabei sei der Anteil von olympischen Sportarten und Breitensport im MDR-Fernsehen ohnehin schon höher als in allen anderen Dritten Programmen der ARD.
Richter betont auch: „Wir nehmen unsere Verantwortung für den Sport in der Region wahr - und adressieren die derzeit vorherrschenden Probleme.“ In einer Sonderausgabe der Sendung „Sport im Osten“ (SpiO) zum Thema „Corona und die Folgen für den Sport“ lief etwa ein Beitrag über die querschnittgelähmte Ex-Bahnradfahrerin Kristina Ludwig, die aufgrund ihrer Behinderung derzeit als Risikopatientin gilt. Ein weiterer Film machte deutlich, dass die Amateurfußballvereine mit ganz anderen Problemen konfrontiert sind als die Wirtschaftsunternehmen der Profiwelt: Verbandsligist FSV Barleben zum Beispiel hat schon schwer daran zu knabbern, dass für den Kunstrasen monatlich eine Kreditrate von 700 Euro fällig wird.
Und es ist sogar möglich, einen halbwegs lockeren Zugang zum Thema pandemie-bedingte Sportbeschränkungen zu finden, wie ein Beitrag über Mitglieder des Cospudener Yachtclubs Markkleeberg zeigte, die beim E-Sailing am Bildschirm Schwimmwesten tragen, um ihrem virtuellen Zeitvertreib zumindest ein bisschen Authentizität zu verleihen.
Auch bei den „SpiO-Talks“, per Videokonferenz geführten und live im Netz gestreamten Interviews, die zwischen fünfzehn Minuten und etwas weniger als einer halben Stunde lang sind, spielen nicht nur die großen Sportarten eine Rolle. So kam in dieser Reihe auch Christian Baude zu Wort, der neue Skeleton-Bundestrainer aus Zella-Mehlis. Der „SpiO-Talk“ widmet sich der Lage von Vereinen und Einzelsportlern in Zeiten von Corona.
Die„Verantwortung für den Sport in der Region“ (Richter) drückt sich auch in der Bereitschaft des MDR aus, eventuelle Geisterspiele in der Fußball-Regionalliga Nordost (4. Liga) allesamt live im Netz zu streamen. Die Entscheidung, ob Spiele dieser Art überhaupt stattfinden, steht allerdings noch aus.