Musikjournalismus Kreative Ideen trotz Corona
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10. Juni 2020, 10:00 Uhr
Musikmagazine brauchen Konzerte, Gigs, Tourneen, über die sie berichten können. Doch die fallen jetzt seit Monaten aus. Ähnlich sieht es bei neuen Alben aus. Von einer „existenzgefährdenden Bedrohung“ ist die Rede. Es gibt aber auch viele kreative Reaktionen auf die derzeitigen Schwierigkeiten. Und an neuem Stoff mangelt es nicht, denn es erscheint immer noch sehr, sehr viel Musik. Bloß anders.
Ein Hilferuf an potenzielle Abonnenten
Dass Redaktionen gegenüber den Lesern schonungslos ihre finanzielle Lage offenlegen, ist nicht unbedingt die Regel im Zeitschriften-Business. Das Online-Magazin Groove, das über elektronische Musik berichtet, hat sich kürzlich angesichts der Corona-Pandemie aber für radikale Transparenz entschieden. Die Werbeeinnahmen hätten sich „im März binnen zwei Wochen auf 0 Euro reduziert“, lautet die Begründung. Denn weil Live-Events nicht stattfinden können, fehlen zwangsläufig Werbeanzeigen von Veranstaltern - und das noch über viele Monate hinweg. Eine Konsequenz: Groove musste die Zahl der Redakteurinnen und Redakteure von vier auf zwei halbieren und nach eigenen Angaben das „Budget für die freien Autor*innen auf ein absolutes Minimum reduzieren“. Die Macher sprechen nun von „unserer letzten Chance“. Auf der Groove-Website findet sich derzeit ein Aufruf: „Wenn ihr 1.500 Abos abschließt, kann die Groove bis April 2021 überleben.“
Immerhin sind die Experten für Techno, House und Artverwandtes krisenerprobt. Vor knapp zwei Jahren wurde die gedruckte Ausgabe des Magazins eingestellt.
2018 war ohnehin das große Krisenjahr für den Musikjournalismus. Die Zeitschrift Spex, wie Groove im Verlag Piranha Media zu Hause, musste ebenfalls auf rein digitales Erscheinen im Netz umstellen. Und auch das Spex-Team sieht die Corona-Pandemie aktuell als „existenzgefährdende Bedrohung“.
2018 verschwand auch die Print-Ausgabe des 1952 in London gegründeten New Musical Express (NME), der eine Zeitlang als die „Pop-Bibel“ galt. Ein Grund für diese strukturelle Krise: Kaum jemand braucht heute noch Musikjournalisten, um sich über neue Musik zu informieren, weil sie bei Spotify jederzeit zu hören ist. Viele Magazine sind daher in Wahrheit sogar mit zwei Krisen konfrontiert: der dauerhaften strukturellen des Musikjournalismus und der virus-bedingten aktuellen Schieflage.
22 Seiten mit den 100 „besten unbekannten Platten“
Die Pandemie hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass Classic Rock im April mit einer Nummer aussetzte. Die Juni-Ausgabe des Musikexpress aus dem Axel Springer Mediahouse - dort erscheinen auch Rolling Stone und Metal Hammer - schrumpfte im Vergleich zum Vormonat um 16 auf 100 Seiten. Weil es derzeit kaum Möglichkeiten gibt, internationale Musiker zu Interviews und Ähnlichem zu treffen, hat die Redaktion gleich 22 Seiten mit „100 Geheimtipps“ zu den „besten unbekannten Platten“ gefüllt. Solche kommentierten Bestenlisten erscheinen normalerweise eher in Magazinen, deren Leser die Vergangenheit interessanter finden als die Gegenwart. Die Zielgruppe des Musikexpress ist aber relativ jung.
Im Traum zum Interview reisen
Wie man auf die Reisebeschränkungen kreativ reagiert, zeigt ein Text in der aktuellen Ausgabe des vierteljährlich erscheinenden Magazins Das Wetter. Eigentlich war ein Interview mit dem HipHop-Künstler Lil Uzi Vert eingeplant. Das fiel jedoch dem Einreisestopp für die USA zum Opfer. „Das Gespräch findet dennoch statt, wir reisen im Traum ins Grillrestaurant Johnnie Bleu in Philadelphia und tragen dabei Atemschutzmasken“, heißt es nun. Es sei „einfach“, im „Traum zu reisen“, der Schriftsteller Vladimir Nabokov habe das in den 1930er Jahren für seinen Roman Die Gabe ja auch getan, als er sich „in seinem Berliner Untermietzimmer nach Zentralasien träumte“. Im Kontext von Das Wetter ist so ein Text durchaus stimmig, weil das Magazin nicht nur über Musik berichtet, sondern auch literarische Texte veröffentlicht. Gastautorin in der aktuellen Ausgabe, entstanden gemeinsam mit den Münchner Kammerspielen, ist die Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.
Für Stadtmagazine ist Musik wichtig
Beim Leipziger Stadtmagazin Kreuzer besteht der große Musikteil normalerweise gleich aus drei Teilen: Selbstrecherchierte Geschichten, Konzertankündigungen, Plattenrezensionen. Der mittlere Teil entfällt derzeit naturgemäß komplett. In der Leipziger Szene rechne „vor Oktober niemand mit einer Besserung“, sagt Musikredakteur Kay Schier.
Deshalb ist der Aufmacher im Juni-Heft des Kreuzer ein Interview mit einem Filmemacher, der derzeit bei den vielen Musik-Livestreams Regie führt: Ruben Günther hat das Projekt Leipstream gegründet, das es Leipziger Musikern ermöglicht, über Konzert-Übertragungen im Netz bei ihrem Publikum präsent zu bleiben. „Wir sind mit dem Kameraobjektiven teilweise zehn Zentimetern vor den Gesichtern“, sagt Günther in dem Gespräch. Weil man für einen Stream im Netz anders filmen muss, als wenn eine Band auf einer großen Bühne vor Publikum spielt, entsteht hier eine neue Bildsprache, eine andere Art der Musikvermittlung – und damit auch neuer Stoff für Musikjournalisten.
Kay Schier vom Kreuzer berichtet von einem Zwiespalt: Einerseits wolle er nicht immer nur darüber berichten, welche Folgen die Corona-Pandemie für die Musiker habe. Denn das ginge möglicherweise den Lesern auf die Nerven. Andererseits bleibe das Thema natürlich wichtig. Mindestens ebenso wichtig sei es aber, darauf hinzuweisen, dass „immer noch viel Musik erscheint“. Als Signal dafür, dass ein Stadtmagazin auch eine Art Verantwortung für die Szene vor Ort hat, kann man es sehen, dass zwei von sieben Platten im Rezensionsteil des Juni-Hefts von Bands aus Leipzig stammen.
„Music is the healing force of the universe“
Zwar haben in den vergangenen Wochen namhafte Künstler und Bands wie Depeche Mode, Alanis Morissette und Alicia Keys Veröffentlichungen verschoben, weil sie Pandemie-bedingte Einnahmeverluste befürchten. Kay Schier sagt aber, er bekomme „weiterhin fünf digitale Rezensionsexemplare pro Tag“. Und das Musikmagazin Mojo, das beim britischen Ableger der in Hamburg ansässigen Bauer Media Group erscheint, wirbt auf dem Cover der aktuellen Ausgabe mit „161 Reviews“, also Rezensionen. Darunter sind allerdings auch Besprechungen von Wiederveröffentlichungen. So gesehen mangelt es Musikjournalisten nicht an Arbeit. Der Musikexpress hatte den Rezensionsteil seiner Mai-Ausgabe sogar unter ein trotzig-optimistisches Motto gestellt: „Music is the healing force of the universe“. So heißt ein Album des Jazz-Musikers Albert Ayler, das vor rund einem halben Jahrhundert erschienen ist. Mit Blick auf die aktuelle Lage ließe sich das frei übersetzen mit: Alles wird gut, dank der Musik.