Das Interview zum Nachlesen Journalismus, Transparenz und Ansprüche der Gesellschaft
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10. Januar 2023, 11:16 Uhr
Vor einigen Jahren veröffentlichte Journalistin Anja Reschke ihr Buch "Haltung zeigen!". Seitdem ist viel passiert im Journalismus. Wir fragen die Moderatorin des ARD-Politmagazins "Panorama", was sie vom Vorwurf "Haltungsjournalismus" hält und wieviel Haltung im Journalismus wirklich angemessen ist.
MEDIEN360G: Frau Reschke, ich will mal anfangen bei diesem viel diskutierten Tagesthemen-Kommentar 2015 zu den Flüchtlingen, die damals kamen. Dafür haben Sie den Titel "Journalistin des Jahres" bekommen. Seitdem sind sie ja so ein bisschen die Vorzeige "Haltungs-Journalistin" in Deutschland. Ist Ihnen das recht? Ist das eigentlich Segen oder Fluch?
Anja Reschke: Ich habe mit dem Begriff Haltung kein Problem, auch wenn dieser Begriff in den letzten Jahren ganz schön diskreditiert wurde und irgendwie so ein bisschen beschmutzt wurde, weil Haltung ist eigentlich was ganz Tolles. Und früher war das auch was Edles, wenn man sagte: Jemand hat Haltung. Dann heißt es, er hat Rückgrat. Und er steht gerade und steht für was. Ich finde, Haltungsjournalismus wird ja immer gleichgesetzt mit Gesinnungsjournalismus. Das ist ein blödes Wort. Und man wird damit in eine Ecke gerückt. Und das ist natürlich ein ganz klares Ziel von bestimmten Gruppierungen, einen in diese Ecke zu rücken, weil das bedeutet: Du bist eigentlich nicht jemand, der journalistisch arbeitet oder handwerklich sauber arbeitet, sondern du verbreitest nur in irgendeiner Form irgendeine Art von Gesinnung, Meinung, Haltung. Da gehen ja die Begriffe auch immer durcheinander. Und das ist natürlich nichts, was man als Journalistin gerne ist.
MEDIEN360G: Ist das dann quasi auch eine Frage der Ächtung? Hat sich der Korridor, in dem sich Haltung bewegen kann, in den vergangenen Jahren verschoben? Was beobachten Sie da?
Anja Reschke: Ich würde sagen, so seit 2015, total! Als ich diesen Kommentar gesprochen habe, war Haltung noch was Gutes. Und ich hätte auch niemals ein Buch geschrieben, was "Haltung zeigen" heißt, wenn Haltung schon so ein schmutziger Begriff gewesen wäre. Und mir tut es irgendwie leid um diesen Begriff, weil es eigentlich ein schönes Wort ist. Aber es ist natürlich ganz bewusst auch in medialen Kampagnen, und in politischen Kampagnen vor allem, benutzt worden, um eine bestimmte Form des Journalismus zu diskreditieren. Und das ist jetzt ein Kampfbegriff, nach dem Motto: "Das ist ja nur eine Haltungs-Journalistin" oder "Das ist ja ein Gesinnungsjournalist" oder wir "Wir können diesen Gesinnungsjournalismus nicht mehr aushalten". "Deswegen müssen wir die Öffentlich-Rechtlichen abschaffen, die Zwangsgebühren abschaffen." Das kommt ja alles in einem Zuge, meistens. Deswegen hat sich da massiv was verschoben in den letzten Jahren.
MEDIEN360G: Dieses negative Narrativ: Wird das Ihrer Ansicht nach bewusst aus einer gewissen politischen Ecke bedient? Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem gewachsenen Populismus, dem rechtsextremen Populismus vielleicht auch und diesem verschobenen Korridor, was Haltungsjournalismus angeht?
Anja Reschke: Vorher war es irgendwie gar nicht so ein Thema, ob jemand Haltungs-Journalist ist oder nicht. Also zumindest habe ich das nie wahrgenommen in den Jahren davor. Ich weiß noch, als ich anfing bei Panorama, da wurde mir immer gesagt: Wenn man Panorama moderiert, dann muss man Haltung haben. Das heißt natürlich übersetzt: Das sind harte Themen und die werden auch Kritik oder Widerruf hervorrufen. Von daher muss man da stehen. Das hieß das Wort "Haltung haben". Und dann hat sich das natürlich verändert; und zwar ganz klar in Richtung "linksgrünversiffte" Haltung. Also sprich: Es ist natürlich eine politische Intention, die dahintersteckt. Und die ist schon durch den aufkeimenden Populismus und natürlich auch durch das Erstarken der AfD und den Einzug der AfD in den Bundestag und das Erstarken des parlamentarischen Flügels der neuen Rechten massiv viel stärker geworden. Und diese Angriffe gegen ganz bestimmte Journalisten - weil dieser Begriff wird ja benutzt, um ganz bestimmte Journalisten zu diskreditieren - ist natürlich sehr offensichtlich geworden
MEDIEN360G: Als ein Ideal des Journalismus, weil Sie ja auch gerade von früher sprachen, galten lange Zeit die Neutralität und die Ausgewogenheit. Also viele Dinge, die man in der journalistischen Ausbildung an die Hand bekommt. Wie passen Haltung zeigen und Neutralität bewahren zusammen?
Anja Reschke: Ich finde, der Begriff Neutralität ist ein schwieriger Begriff für alles. Weil wir Menschen uns ja sehr schwer neutral verhalten oder neutral bewegen können. Man kann Sachen ja nicht neutral gegenüberstehen. Der Begriff Objektivität, finde ich, ist enorm wichtig für Journalismus, weil es unsere Aufgabe ist - selbst wenn man eine Haltung hat zu einer Sache – Dinge so zu recherchieren, dass man alle Seiten so gut wie möglich nachvollziehen und beleuchten kann. Ob man dann später in einem Bericht sagt: Okay, ich fokussiere mich jetzt auf diese These oder auf diesen Aspekt, ist dann etwas Anderes. Aber erstmal muss man versuchen, eine größtmögliche Offenheit an dieses Thema zu legen. Und natürlich ist es so, dass dadurch, dass wir ja Themen auswählen und dadurch, dass wir uns auf einen bestimmten Aspekt fokussieren, wir ja sowieso schon immer auswählen. Das heißt: Was ist denn dann neutral? Und damit ist es so ein Begriff, der irgendwie an sich dann schon ad absurdum geführt wird. Allerdings kann man trotzdem eine Haltung haben. Das, was ich aber meinte mit Haltung, ist natürlich eigentlich eher eine Haltung: Stehe ich auf dem Boden des Grundgesetzes? Habe ich eine progressive Haltung im Sinne von: Ich möchte, dass alle Menschen gleichbehandelt werden? In unserem investigativen Journalismus, das steht auch in den Statuten unserer Sender, ist natürlich festgeschrieben, dass wir Minderheiten achten müssen und dass wir auch auf das Funktionieren der Demokratie achten müssen. Und deswegen ist ja unsere Arbeit die, auf Missstände hinzuweisen.
MEDIEN360G: Bei den Rezipienten entsteht oft das Gefühl, dass Minderheitenmeinung extrem stark vertreten werden; gerade auch durch die Haltung, dass Minderheitenmeinungen populärer gemacht werden sollen. Haben Sie den Eindruck auch manchmal? Oder ist das ein Eindruck, der vielleicht auch fälschlicherweise entstanden sein könnte?
Anja Reschke: Naja, mit Minderheiten und Mehrheiten ist es ja lustig. Wenn ich Zuschriften bedenke, die ich immer so kriege… Da sagen die meisten Leute, Beispiel nur: Deutschland will keine Flüchtlinge und das denken alle. Jeder glaubt von seiner Meinung, das sei die Mehrheitsmeinung. Darum geht es aber überhaupt nicht, weil wir ja nicht berichten, was die Mehrheit sagt oder was die Minderheit sagt. Das ist gar kein journalistisches Kriterium. Sondern was ich mit Minderheiten meinte, bedeutet, dass wir im Journalismus natürlich - wenn man sagt, wir sind auch dafür da, das Funktionieren der Demokratie mit zu sichern oder die Demokratie mit zu bewahren, wenn man das pathetisch ausdrücken möchte – dann gehört natürlich dazu, dass man aufpasst, dass das Gewicht der Kräfte irgendwie gleich verteilt ist und dass eben nicht eine bestimmte Gruppierung unter die Räder kommt. Oder dass eben Rechte von Minderheiten beispielsweise verletzt werden. Also würde man auf die achten. Was aber nicht bedeutet, dass wir Minderheitenmeinungen verbreiten. Das ist aber ganz oft das, was verlangt wird. Das haben wir ja gesehen, beispielsweise jetzt auch in der Corona-Krise. Dass wahnsinnig oft verlangt wurde, dass wir doch auch bitte die Meinung eines Arztes hören, der aber eine sich komplett außerhalb der allgemeingültigen wissenschaftlichen Erkenntnisse bewegenden Theorie vertritt. Dann würden wir Minderheitenmeinungen verbreiten. Aber das ist eigentlich nicht unser Job.
MEDIEN360G: Sie moderieren Panorama und damit ein klassisches öffentlich-rechtliches Angebot. Dazu gehört natürlich auch der Rundfunkstaatsvertrag, der sozusagen die Unparteilichkeit verpflichtend und inhärent hat. Erlauben Staatsverträge und Co. überhaupt Haltungsjournalismus im Öffentlich-Rechtlichen? Oder haben Sie da manchmal Bedenken, dass Sie sich in einer rechtlichen Grauzone befinden mit dem, was Sie machen?
Anja Reschke: Was heißt, sie erlauben Haltungsjournalismus? Ich weiß gar nicht, was Haltungsjournalismus ist. Also ich finde, Haltungsjournalismus hat nichts verloren im Sinne von Gesinnungsjournalismus. Darum geht es nicht. Aber natürlich habe ich eine Haltung, und das haben die meisten Menschen, die A in Deutschland leben und B auch im Journalismus natürlich arbeiten, weil es ja darum geht. Wofür sind wir denn da? Wir sind dafür da, zu informieren, der Bevölkerung Informationen an die Hand zu geben, mit denen sie ihre Wahl treffen können, unter anderem eine politische Wahl. Also ist es doch meine Aufgabe zu gucken: Was passiert im Streit der Parteien zu Thema XY. Was ist mit dem Steuerrecht? Ist das gerecht oder nicht? Werden da bestimmte Gruppierungen schlechter behandelt. Was ist mit dem Wohnrecht? Was ist mit der freien Meinungsäußerung? Werden manche Gruppierung besser gesehen oder schlechter gesehen? All diese Sachen. Das ist die Haltung, die dahintersteckt. Im Prinzip kannst du die ersten Artikel unseres Grundgesetzes nehmen. Daran kannst du fast jeden Panorama-Film runterdeklinieren, weil es eigentlich immer darum geht: Werden Rechte von Minderheiten verletzt? Werden Meinungsfreiheit, Freiheit der Presse, die Freiheit der Religionsausübung verletzt und so weiter? Darum geht es eigentlich. Und deswegen ist es kein Haltungsjournalismus, sondern es ist Journalismus, der auf den Prinzipien und auf den Regeln unserer Demokratie fußt. Und die guckt: Werden die eingehalten oder nicht? Oder werden die gebrochen oder sind die in Gefahr? Das ist unser Job.
MEDIEN360G: Die Kritiker des öffentlich-rechtlichen Systems sehen ja nicht selten linke Positionen im Journalismus gefühlt überrepräsentiert. Würde es denn aus ihrer Sicht helfen, wenn vermeintlich nicht-linke Haltung in angemessener Weise – und da sind wir wieder bei False Balancing - mehr Raum gegeben würde?
Anja Reschke: Naja, wenn ich da jetzt ja sagen würde, würde das ja heißen, dass ich die Grundthese annehme. Nämlich dass wir linke Meinungen verbreiten und das würde ich ja schon bestreiten. Natürlich ist Journalismus ganz grundsätzlich, ich glaube, das liegt in der Natur des Journalismus, progressiv. Weil er ja Dinge und Situationen anguckt, vielleicht verbessern oder verändern will. Und nicht, dass Dinge alle so bleiben. Deswegen, glaube ich, ist da tatsächlich konservativ und progressiv so ein bisschen gegeneinander. Das wird dann immer gerne als links oder als konservativ oder als rechts bezeichnet. Das ist so ein bisschen simpel. Wenn man mal in die Geschichte von Panorama geht und sagt: Es muss so sein. Die Frau bleibt zuhause und hütet die Kinder und der Mann darf arbeiten gehen und darf der Frau sagen, ob sie auch arbeiten gehen darf. Dann wäre das eine Position, die in den Sechzigern und Siebzigern noch Geltung hatte, die heute keine Geltung mehr hat. Das ist progressiv, dass sich das verändert hat. Konservativ wäre, wenn es immer so geblieben wäre. Von daher finde ich das schwierig. Ist es jetzt links? Keine Ahnung. Ich glaube, es ist eben einfach die Gleichstellung von Mann und Frau.
MEDIEN360G: Noch mal zu diesem Gefühl einiger Rezipienten, bevormundet zu werden. Wie gehen Sie mit dem Anspruch um, wenn jemand sagt: "Ihre Haltung, Frau Reschke, interessiert mich nicht. Ich will schon selber entscheiden, was ich davon halten soll"?
Anja Reschke: Ja, das finde ich ein absolut berechtigtes Interesse. Ich möchte auch gerne selber entscheiden, was ich denke. Das ist ja ein großes Privileg, dass wir das dürfen in unserem Land. Dass wir frei entscheidenden, frei meinen und frei denken dürfen. Ich möchte auch niemanden bevormunden oder ihm sagen, wie er zu denken hat. Ich kann ja immer nur als Journalistin aufzeigen und darauf hinweisen, wo Probleme liegen oder wo was ins Rutschen gekommen ist. Das kann ich machen. Und wenn man das nicht hören will, dann wird man vielleicht sagen: Ich werde bevormundet. Aber das merkt man ja immer sehr deutlich in dieser Gender-Debatte. Alle Kritiker sagen immer: "Jetzt wird überall gegendert. Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, dass ich gendern muss." Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand in den Medien dem Zuschauer gesagt hat: Du musst jetzt gendern oder Gendersprech machen. Und ich kriege immer nur böse Briefe, wenn man gegendert hat. Ich habe aber noch nie einen bösen Brief gekriegt, dass ich nicht gegendert habe. Also hat das, glaube ich, auch sehr viel damit zu tun, wie es beim Empfänger ankommt und welche Meinung oder welche Haltung der Empfänger dazu hat. Und niemand schreibt irgendjemanden vor, wie er sprechen soll oder darf. Aber die Leute haben das Gefühl, dass wir es ihnen vorschreiben wollen, einfach nur, weil ihre Positionen infrage gestellt wird. Und das müssen wir aushalten. Ich finde, man muss aushalten, dass man sich mit Positionen, die man selber hat, auseinandersetzt. Das ist, was der Diskurs ist in der Demokratie. Aber das heißt ja nicht, dass man das befolgen muss. Man kann ja trotzdem meinen, was man will. Niemand kriegt den Mund hier verboten.
MEDIEN360G: Ich will noch mal den Fokus auf einen anderen Schwerpunkt richten, nämlich: Welche Rolle spielen eigentlich die Protagonisten in dieser ganzen Diskussion? Warum, glauben Sie, ist es wichtig, dass gerade prominente Journalisten Position beziehen? Sie sind Beispiele dafür. Georg Restle ist natürlich ein Beispiel dafür. Warum, glauben Sie, ist es wichtig, dass Sie sozusagen vielleicht auch manchmal die Leute so ein bisschen zumindest darauf hinweisen, was schiefläuft?
Anja Reschke: Ich glaube, es ist gar nicht so entscheidend, ob das Journalistinnen oder Journalisten sind. Aber ganz grundsätzlich gibt es wahrscheinlich auch schon immer ein Bedürfnis der Menschen, irgendjemanden zu haben oder irgendetwas zu haben, an dem man sich orientieren kann. Und letztendlich ist ja auch Journalismus, dass man Dingen eine Stimme verleiht. Und ich glaube, deswegen bieten sich vielleicht auch Journalistinnen und Journalisten an, Positionen noch mal klar zu benennen, weil sie sich ja auch damit auseinandergesetzt haben. Sodass es wahrscheinlich auch viele Menschen gibt, die sagen: Ah, okay, wenn der das sagt und das in voller Überzeugung sagt, dann kann ich mich dem anschließen oder dem vertraue ich oder dem misstraue ich. Oder ich stelle mich total dagegen. Aber das sind natürlich insofern interessante Figuren, weil wir uns ja mit den Themen sehr auseinandersetzen. Ich finde, Künstler haben eine ganz ähnliche Rolle. Wenn Künstlerinnen und Künstler irgendwie ein Statement abgeben zu irgendetwas: Dann wird es ja auch sehr stark aufgenommen. Und ich glaube, es ist schon wichtig, dass Leute Orientierung haben in dieser Welt. Weil wir ja dauernd unseren inneren Kompass und auch unseren moralischen Kompass anpassen müssen und gucken müssen, bin ich jetzt richtig oder falsch? Und ich finde, das ist noch viel herausfordernder geworden in dieser Zeit dieser Unmengen von Informationen und Ideen und Meinungen und Behauptungen, die da so täglich auf einen einprasseln, dass man irgendjemanden hat und an dem orientiere ich mich jetzt.
MEDIEN360G: Haltung zeigen und Positionen beziehen, Frau Reschke. Welche Grenzen hat das? Was glauben Sie, wie weit kann man da gehen als Journalist?
Anja Reschke: Ich würde sagen, es gibt eine Grenze, bei der es nicht mehr geht, dass man nichts sagt. Und das ist eben zum Beispiel Rechtsextremismus. Also ich finde einfach, dass ist dann nicht mehr zu verhandeln in Deutschland. Antisemitismus oder Rassismus. Das sind einfach Dinge, da geht es nicht mehr darum, ob ich jetzt diese oder jene Position habe. Sondern ich finde, da muss man überhaupt als Bürger in diesem Land eine Haltung zu haben. Und wenn man nun mal die Gelegenheit hat, in der Öffentlichkeit zu stehen, kann und sollte man die gefälligst auch öffentlich kundtun. Ansonsten, finde ich, haben persönliche Meinungen und Haltungen überhaupt nichts verloren in der Arbeit, weil es nicht darum geht, ob ich jetzt irgendwie finde, dass dieses oder jenes ist. Es geht um die Sache. Und unsere Aufgabe ist es, eine Sache zu recherchieren. Dass ich natürlich mit einer Grundhaltung an ein Thema rangehe, ist überhaupt nicht zu vermeiden, weil wir sind ja keine Roboter. Jeder von uns hat ja ein inneres Korsett aus Werten und Vorstellungen. Bin ich ein liberaler Mensch, bin ich ein konservativer Mensch? Das kann man ja nicht ablegen. Aber man sollte überhaupt nicht an Themen rangehen und sagen: Ich mache jetzt ein Thema, weil ich finde es blöd. Das ist, finde ich, kein Kriterium.
MEDIEN360G: Diese berühmte Schere im Kopf… Ihr Kollege Georg Restle tritt als Redner auf einer Demonstration auf, wird damit öffentlich wahrnehmbar zum Aktivisten. Passt das zum Job?
Anja Reschke: Das ist eine total schwierige Frage, finde ich, mit den Demonstrationen. Ich glaube, wenn ich jetzt Berichterstatter im Hauptstadtstudio wäre und mein Berichtsgebiet wäre die AfD, würde nicht auf eine Demonstration gegen die AfD gehen. Dann vermischen sich irgendwie Berichterstattungsgebiet und meine persönliche Meinung. Wenn ich als Bürger dieses Landes, was Georg Restle auch ist, meine, ich müsste auf einer Demonstration gegen Rechtsextremismus oder Rechtsterrorismus oder gegen die AfD auftreten, ist es sein gutes Recht. Aber er muss natürlich wissen, dass wenn er das macht, er sich ganz klar positioniert. Das will er auch. Und das ist dann eben ein Preis, den er dafür bezahlt. Er ist ganz klar positioniert. Also man würde wahrscheinlich Georg Restle nie mehr irgendeine konservative Haltung oder eine rechte Haltung abnehmen. Aber das ist ja auch gut, weil es gibt ja auch andere. Dann kann man wieder sagen: In der großen Bandbreite der veröffentlichten Berichte, Meinungen, Moderationen muss es ja solche und solche und solche geben, an denen du dich orientierst. Und damit hast du wieder ein pluralistisches, breites Meinungsbild. Es tritt ja auch ein Ulf Poschardt auf oder ein Julian Reichelt oder ein Jan Fleischhauer. Das sind ja Leute, die absichtlich gesagt haben: Okay, wir haben die andere oder eine andere Position. Die treten ja auch öffentlich auf. Ich finde, im Wettstreit dieser Haltungen bildet sich ja auch ein Diskurs raus, aus dem ich mir auch eine Meinung bilden kann.
MEDIEN360G: Jetzt haben Sie vermutlich unbewusst etwas gemacht, was hochinteressant ist und die Diskussion eigentlich auch ganz gut abbildet. Wissen Sie, was die alle, die Sie aufgezählt haben, gemeinsam haben?
Anja Reschke: Es sind Männer. Sie sind alle aus der Presse, also nicht aus dem Fernsehen. Sie sind aus der freien Presse.
MEDIEN360G: Genau. Das sind alles Menschen, die für private Verleger oder private Anstalten oder wie auch immer geartete arbeiten, die privatwirtschaftlich organisiert sind. Herr Restle arbeitet für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der Leipziger Politikwissenschaftler Christian Hoffmann verweist darauf, dass es Unterschiede zwischen öffentlich-rechtlichen Angeboten und privatwirtschaftlich Publikationen gibt. Kurz gesagt: Wer beispielsweise die taz kauft, weiß eben, für welche Tendenz er sein Geld ausgibt. Und wer gebührenfinanzierte Öffentlich-Rechtliche nutzt, der hat eben einen Anspruch auf Ausgewogenheit, sagt er. Inwieweit teilen Sie diese Einschätzung, dass man da trennen muss zwischen öffentlich-rechtlich und privat?
Anja Reschke: Ich finde, es gibt einen massiven Unterschied zwischen öffentlich-rechtlich und privat. Verlage oder private Fernsehsender können im Prinzip eine Grundhaltung haben oder eine Grundausrichtung, wie sie sie eben haben wollen. Man darf ja nicht vergessen, dass die Presse-Lizenzen damals sogar danach vergeben wurden, wer sozusagen welches Klientel bedient. Von daher ist es total in Ordnung. Und der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat eine andere Aufgabe, weil er eben von allen finanziert wird. Das heißt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss gucken, dass er nicht irgendwie in die eine oder in die andere Richtung polarisiert, sondern möglichst ein breites Meinungsbild abdeckt. Allerdings halte ich die Erwartung, dass ein breites Meinungsbild innerhalb einer Sendung eines Beitrags, einer Person abgebildet wird, für schwierig. Ich glaube, das breite Meinungsbild muss man über den gesamten öffentlich-rechtlichen Rundfunk angucken. Und wenn du Sendungen hast, in denen vielleicht diese Position stärker hervorgehoben wird, musst du natürlich Sendungen haben, in denen auch eine andere Position stärker hervorgehoben wird. Aber dass jetzt ein Georg Restle so moderieren könnte, dass er immer A und B und A und B sagt, ist wahrscheinlich schwierig. Ich würde nicht als Rednerin auf einer Demonstration sprechen. Sondern ich würde mich wahrscheinlich eher zurückhalten. Aber ich würde trotzdem Flagge zeigen. Also ich würde schon hingehen wahrscheinlich. Ob ich jetzt als Rednerin auftreten würde… Kommt ein bisschen aufs Thema an, aber so offen positioniert, das ist mir persönlich zu viel.
MEDIEN360G: In ihrem Buch haben Sie beschrieben: Das öffentlich Position beziehen eines Journalisten hilft dem Nutzer, indem der dadurch den Journalisten besser kennenlernt und einordnen kann. Warum muss der Nutzer, der Rezipient, aus ihrer Sicht wissen, wie der Journalist tickt?
Anja Reschke: Es gibt ja einen merkwürdigen Gedanken, dass Nachrichten beispielsweise neutral sind, Magazinbeiträge aber nicht. Und auch Nachrichten sind natürlich im Sinne von neutral nicht neutral, weil sie auch einen bestimmten Ausschnitt gewählt haben. Wenn wir über den UN-Sicherheitsrat reden, wirst du wahrscheinlich in deutschen Nachrichten eher Verständnis haben für die Positionen der Westmächte und weniger für die Positionen Russlands und Chinas. Wenn man sich jetzt den Ukraine-Konflikt anguckt, stehen wir auf Seiten der Ukraine und nicht auf Seiten Russlands. Das heißt, da haben wir schon eine Position bezogen. Das heißt, auch Nachrichten sind nicht komplett frei von der Positionierung. Und ich glaube, wenn man einen Kommentar spricht, in den Tagesthemen, dann kann man natürlich in dem Kommentar schon klar sehen: "Aha, dieser oder jener Journalist steht also politisch oder gesellschaftlich oder gedanklich in dieser oder jenen Position". Und damit kann ich doch auch dessen Berichte sehr viel besser einordnen, weil ich weiß: "Aha, der betrachtet es immer aus der USA-freundlichen Position, und der ist vielleicht eher jemand, der Verständnis hat für Russland. Dann weiß ich doch, wie ich diesen Bericht einordnen soll. Ich finde, dass ist eine große Form von Transparenz. Es ist eben nur wichtig, dass wir ein möglichst breites Meinungsbild haben und nicht nur einseitig ein Meinungsbild haben.
Ich glaube, man muss vielleicht mal über das Thema Kommentar reden. Ich bin persönlich nicht so ein Freund davon, dass der Kommentar jetzt Meinung heißt. Weil ich finde, es geht nicht um Meinung. Ich finde, wir Journalisten sollen keine Meinungen verbreiten. Meinungen kann ich irgendwie täglich ändern. Und heute habe ich die Meinung dazu, dass es so sein muss und morgen habe ich eine andere Meinung. Es geht ja um Haltung. Und beim Kommentar geht es darum, dass ich zu einem Thema, mit dem ich mich am besten auskenne und was ich recherchiert habe, einen Kommentar abgebe. Das ist dann eben kein Bericht, in dem ich sage: "Die Bundesregierung hat entschieden, dass die Steuern gesenkt werden. Die Opposition ist dagegen." Das wäre ein Bericht. Und in einem Kommentar würde ich sagen: "Die Bundesregierung hat gesagt, die Steuern werden gesenkt. Das ist eine total dufte Idee, weil es die Wirtschaft ankurbelt." Das ist ein Kommentar. Aber den sollte ich sprechen, wenn ich Ahnung von dem Thema habe und nicht nur, weil ich irgendeine Meinung rausblasen möchte. Deswegen verstehe ich das Problem nicht, warum nicht ein Journalist, weil er sich ja mit dem Thema beschäftigt hat, auch einen Kommentar dazu sprechen kann.
MEDIEN360G: Weil wir gerade Internationales betrachten, will ich auch nach Großbritannien blicken. Da hat eine ehemalige BBC-Moderatorin schwere Vorwürfe gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber erhoben. Sie sagt, der Neutralitätswahn mache die BBC kaputt. Sehen Sie solche Tendenzen auch in Deutschland?
Anja Reschke: Tendenzen, ja. Ich sehe solche Tendenzen. Das ist nicht wie bei der BBC. Aber es war ja interessant, weil ja gleichzeitig BBC und auch das Schweizer Fernsehen sehr stark um den Ruf gekämpft haben. Und die Schweiz hat es anders gelöst als die BBC. Die BBC hat versucht, es allen recht zu machen, gerade in dieser Brexit-Zeit und hat eben auch Hetzern, die quasi Gegner des Systems sind – nicht nur Gegner der BBC, sondern auch des demokratischen Diskurs-Systems – wirklich viel Sendezeit eingeräumt. Kritiker wie Nigel Farage konnten dort frei reden, unkommentiert, unkritisch befragt. Und das Schweizer Fernsehen hat sich sehr klar mehr positioniert und gesagt: Dafür sind wir da. Dafür stehen wir. Wollt ihr das haben oder nicht? Und ich glaube, dass eine Positionierung etwas hat, das für einen Wert in der Gesellschaft total wichtig ist. Ich glaube nämlich, es gibt eine komische Vorstellung von Journalismus. Journalismus ist nicht Verlautbarung. Wir sind nicht dafür da, das, was irgendwelche Menschen sagen, einfach nur weiterzugeben. Dafür kann man seinen eigenen Youtube-Kanal machen oder Presse-Blätter rausgeben oder solche Sachen. Wir sind Journalisten. Sie nehmen etwas und ordnen es in einen Zusammenhang ein. Sie hinterfragen vielleicht auch Dinge. Sie verbinden sie mit anderen Themen und präsentieren dann einen Bericht dazu. Und deswegen halte ich von diesem Neutralitätswahn - alle müssen gleich zu Wort kommen - nichts. Nur, weil es Menschen gibt, die glauben, die Erde ist eine Scheibe, müssen sie nicht im Fernsehen auftreten.
MEDIEN360G: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Schweiz und aus Großbritannien: Welchen Rat geben Sie denn dem Öffentlich-Rechtlichen hier in Deutschland?
Anja Reschke: Das ist für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk schwierig gerade, weil natürlich die Angriffe stark sind. Und weil wir unbedingt davon abhängen, dass Menschen uns vertrauen, uns für glaubwürdig halten und wichtig halten. Also unsere Legitimation. Da ist natürlich der Gedanke immer, man müsste damit alle mitnehmen. Aber alle mitnehmen heißt nicht, man muss allen zum Munde reden. Und das ist die Gefahr. Man muss journalistisch unterscheiden. Und das hatten wir ja gerade in der Corona-Pandemie. Es gab wirklich immer wieder die Anwürfe oder Vorgaben oder Bitten oder Vorwürfe, wir würden nicht ausgewogen berichten. Weil Herr Professor Pippapumpf oder Doktor Orthopäde-irgendetwas hätte also eine andere Meinung dazu. Und die sollten wir gefälligst auch präsentieren und auch darüber berichten. Und ich finde nicht, dass es unser Job ist. Sondern unser Job ist, zu gucken: Wo ist eine wissenschaftliche Mehrheitsmeinung? Ist die plausibel? Welche Fragen ergeben sich daraus? Das ist unsere Aufgabe und nicht alles, was irgendwie so da ist, breit einfach irgendwie hinzustellen und dann muss jeder selber gucken, wie er damit klarkommt.
MEDIEN360G: Dieses Hajo Friedrichs-Zitat; sich nicht mit einer Sache gemein machen… Das haben sie in Ihrem Buch zitiert. Ist das dann jahrelang dann falsch gedeutet worden?
Anja Reschke: Ja, das Zitat von Hajo Friedrichs ist, weil es so knackig klingt, wie in Stein gemeißelt. Den kannst du dir wie "Sagen was ist" im Spiegel ins Haus schreiben. Und dann sieht es erst einmal gut aus, weil alle sagen würden: Genau. Das ist doch Journalismus. Hajo Friedrichs hat es aber so nicht gemeint. Sondern er hat gemeint, dass man nicht in Betroffenheitsfloskeln verfallen soll und nicht sagen muss: Da ist eine Katastrophe passiert, ogottogott, sondern einen kühlen Kopf bewahren muss. Das ist das, was er eigentlich in diesem Interview gemeint hat.
"Frau Reschke, Hajo Friedrichs würde sich im Grabe umdrehen." Wenn ich solche Mails kriege, dann kommen die natürlich immer nur von denjenigen, die etwas, das wir berichtet haben, nicht hören wollen oder für nicht richtig finden oder das nicht ihre Meinung trifft. Dann heißt es immer, das sei nicht neutral. Der Witz ist ja: Neutralität bedeutet eben nicht, zum Munde reden. Und ich glaube, das ist das, was, was wir die ganze Zeit erleben. Dass immer Menschen Neutralität fordern, die in bestimmten Programmen ihre Meinung nicht wiederfinden. Oft ist es ja auch so, und es gibt 100.000 Untersuchungen dazu: Du kannst ein und den gleichen Bericht zwei Gruppen mit einer unterschiedlichen politischen Ausrichtung vorspielen und die gleichen Aussagen werden von den beiden Gruppen vollkommen unterschiedlich wahrgenommen. Die einen finden die eine Seite übertrieben schlimm. Und die anderen finden die andere Seite übertrieben schlimm. Das hat auch sehr viel mit unserer Wahrnehmung zu tun und damit, auf welchen Boden das fällt. Und da müssen eben Sender, auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, aufpassen, dass wir unseren Kompass nicht verlieren. Es geht nämlich nicht darum, die ganze Zeit darüber nachzudenken, wie das beim Empfänger ankommt. Und ob der das nun gut findet oder schlecht findet. Sondern es geht darum, eine ordentliche, fundierte Berichterstattung zur Verfügung zu stellen, die aber auch auf gewissen Kriterien, auf die wir uns geeinigt haben - unter anderem "alle Menschen sind gleich" - fußt. Wenn wir jetzt in dem Land leben würden, wo wir sagen würden: Die einen sind besser als die anderen… Da wäre das ein anderes Kriterium. Aber das ist nun mal das, worauf wir uns geeinigt haben. Oder: Minderheiten müssen geschützt werden. Wenn wir uns auf diese Kriterien geeinigt haben, danach berichten wir. Und ob das jetzt dem einen schmeckt oder dem anderen nicht, ist dann eigentlich nicht relevant für die journalistische Auswahl.
MEDIEN360G: Bei dieser fast schon Generalkritik an der Arbeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus Teilen der Bevölkerung: Welche Rolle spielen dabei das Internet und Social Media? Ist die Hemmschwelle einfach nur niedriger geworden?
Anja Reschke: Es wird ja immer gerne behauptet, die Welt oder die Gesellschaft sei heute zerrissener oder gespaltener oder ausdifferenzierter als früher und aufgeheizter. Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Meinungen immer da waren. Sie fallen einem jetzt nur mehr auf. Und das ist natürlich durch das Internet passiert, weil man plötzlich sie alle sehen kann. Und alles, was früher irgendwie im Privaten untereinander ausgetauscht wurde, ist jetzt eben alles öffentlich. Und dazu kommt, dass sich ja jeder passend zu dem, was er findet, Informationen schlüsselfertig für sich nach Hause holen kann, die ihn dann bestätigen. Und wenn man was mit seiner Meinung in die Welt postet, kannst du ja sicher sein, wenn es irgendwie knackig formuliert ist, dass du immer Beifall kriegst. Das heißt, du wirst immer das Gefühl haben, das, was ich sage, ist richtig. Daher kommt wahrscheinlich auch die Aussage: "Ich bin die Mehrheitsmeinung." Von daher sind natürlich das gesamte Internet und die gesamte Veröffentlichung und Gleichstellung aller Meinungen, Behauptungen, Tatsachen, Fakten, Fake-News und so weiter, ein Turbo-Brandbeschleuniger für diese vielstimmige Dissonanz. Und dazu kommt noch etwas. Dass wir Medien natürlich genauso aufmerksamkeitsheischend sind. Das heißt: auch wir posten, berichten, verkürzen. Dazu neigt ja Social Media. In kurzen, attraktiven Schlagzeilen, natürlich sehr oft Dinge, in denen eben die Grautöne nicht da sind. Wenn man sagt: Guck mal, was Trump jetzt schon wieder gesagt hat… Oder was Bolsonaro jetzt wieder Schlimmes gemacht hat… Oder was die AfD Schlimmes gemacht hat... Solche Posts haben natürlich, buff, so viele Klicks. Während, was die SPD in ihrem Unterausschuss ausbaldowert hat, hat keine Klicks. Und deswegen verändert das massiv die Wahrnehmung von Informationen.