Medientage Mitteldeutschland 2022 Menschen haben keine Löschtaste
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03. Juni 2022, 16:04 Uhr
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind aus der Berichterstattung nicht mehr wegzudenken. Ob Klimawandel, Corona-Pandemie oder die Wirksamkeit von Impfstoffen – ohne Wissenschaft geht es nicht. Auch hier gibt es teilweise abweichende Meinungen. Doch wie sollten Medien damit umgehen, um nicht in die Falle zu tappen und absoluten Minderheitenmeinungen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit zu schenken? Das diskutierten die Medientage Mitteldeutschland unter dem Titel "Das False-Balance-Dilemma".
Beim deutschen Presserat gehen seit rund zwei Jahren immer mehr Beschwerden ein, die eine vermeintliche Einseitigkeit der Berichterstattung oder die fehlende Berücksichtigung abweichender Meinungen kritisieren. Doch damit hat die freiwillige Selbstkontrolle der Print- und Onlinemedien, die die Einhaltung der im Pressekodex festgelegten ethischen Standards überwacht, gar nichts zu tun. "Die Menschen haben besonders bei der Corona-Berichterstattung das Gefühl, es sei keine Ausgewogenheit mehr da", sagte in Leipzig Presserats-Sprecherin Kirsten von Hutten. Für sie liegt das an der "größer gewordenen Emotionalität der Berichterstattung, die so auch zu einer größeren Emotionalität bei den Nutzerinnen und Nutzern führt".
Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft
Für die Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie Maren Urner liegt das daran, dass der Unterschied zwischen beispielsweise klassischer Politikberichterstattung und der durch die Pandemie exponentiell gestiegenen Berichterstattung über naturwissenschaftliche Forschung und Erkenntnisse zu wenig beachtet wird. "In der Politik will und muss ich alle unterschiedlichen Perspektiven aufzeigen. Aber in der Naturwissenschaft ist zwei plus zwei gleich vier, da gibt es keine Möglichkeit zu sagen, ich sehe das aber anders." Problematisch sei, dass es bei vielen Journalistinnen und Journalisten an entsprechendem Fachwissen fehle und so aus falsch verstandener Ausgewogenheit auch Ansichten Raum gegeben werde, die diesen nach wissenschaftlichen Standards nicht zu steht. So entstehe dann eine falsche Balance, die so genannte False Balance.
Für Jochen Bittner von der Zeit stellt sich die Problematik allerdings nicht so gravierend dar. "Was ist denn False Balance?", fragte Bittner in Leipzig: "Ich spreche lieber von Quatsch-Paarung, bei der die falsche Expertise für die im Raum stehenden Fragen herangezogen wird". Wenn jemand Zahnschmerzen habe, gehe diese Person schließlich auch in eine Dentalpraxis und nicht in eine Bäckerei, so der für das "Streit"-Ressort der Wochenzeitung schreibende Kommentator. "Ich finde, hier gibt es in den deutschen Qualitätsmedien kein großes Problem. Ich sehe eher eine zunehmende Angst vor bestimmten Diskussionen". Denn auch insgesamt geht es bei False Balance oft zuerst um eine bestimmte Meinung, der dann selektiv angeblich passende Fakten zugeordnet werden, die dann diese Meinung als richtig begründen sollen.
Medien müssen Fehler zugeben und erklären
MDR-Programmdirektor Klaus Brinkbäumer berichtete auf dem Panel, der MDR werde "permanent angegangen, wenn Personen im Programm sind, deren Meinungen andere Zuschauerinnen oder Zuschauer nicht teilen." Die Redaktionen versuchten, alle Fakten zu überprüfen, könnten sich aber natürlich auch einmal irren. "Dann ist es wichtig, die Fehler zuzugeben, zu korrigieren und zu erklären, wie es dazu gekommen ist. Das wird uns auch gedankt, da kann das Publikum mitgehen."
Allerdings sei es schwer, eine einmal gesendete Information beim Empfänger wieder zurückzuholen, warnte Urner: "Sobald eine Information gesendet ist, verarbeitet unser Hirn sie. Wir sind keine Computer und haben keine Löschtaste". Daher erzielten auch Falschinformationen immer eine Wirkung. "Hier liegt eine riesige Verantwortung aller Medienschaffenden", so Urner.