Dresden Unser Kritiker zu "Familie Schroffenstein" in Dresden: "Die schönste Theaterszene, die ich 2022 gesehen habe."
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11. Dezember 2022, 16:30 Uhr
Heinrich von Kleists Theater-Debüt "Familie Schroffenstein" ist romantisch-tragisch wie Shakespeares "Romeo und Julia". In Dresden zeigt man das Stück zwischen mittelalterlicher Opulenz und B-Movie-Ästhetik. Eine tragische Szene sorgte bei unserem Kritiker für den "schönsten Theatermoment" des Jahres und dürfte große Teile des Publikums berührt haben.
Das Staatsschauspiel Dresden zeigt das selten gespielte Erstlingswerk von Heinrich von Kleist "Familie Schroffenstein". Es ist sozusagen die deutsche Version von "Romeo und Julia", von Eltern, die sich hassen, und deren Kindern, die sich lieben. Deutsch, weil brutaler. Am Ende gibt es hier die schönste Theaterszene, die ich 2022 gesehen habe: schlicht, ohne Kitsch, berührend gespielt! Doch der Reihe nach.
Wie "Romeo und Julia" im Mittelalter
Shakespeare schreibt kurz vor 1600 seine berühmte Tragödie "Romeo und Julia". Sie spielt im sonnigen Italien und in der damaligen Renaissance-Jetztzeit. Heinrich von Kleist adaptiert diese Handlung 200 Jahre später für sein Stück und verlegt die Handlungszeit ins Mittelalter, also etwa 200 Jahre vor Shakespeare.
Kleists "Familie Schroffenstein" wird durch diesen Kunstgriff härter, spielt nördlich der Alpen, in Schwaben, wo es quasi eisiger, schroffer, steiniger zugeht. Der Mensch ist noch nicht befreit aus seiner mittelalterlichen Unmündigkeit. Gott ist groß! Das gotische Rosettenfenster wie aus dem Straßburger Dom, das als Projektion den Stückbeginn markiert, auch.
(K)ein Spaß zum Totlachen
Die Protagonisten sind die Grafen von Schroffenstein, zwei Familienzweige, die sich hier bis aufs Blut bekriegen – durch ein Missverständnis, wie sich später herausstellt. Wo Romeo und Julia sich am Ende selbst töten und damit frei entscheiden, sind es bei den Schroffensteins noch die Väter von – wie sie hier heißen – Ottokar und Agnes: doppelter Kindermord, Blutrache also, Kinder als Objekte. Und mit den Morden auch keine Zukunft mehr für die Fortexistenz der Familie.
Doch Kleists Erstlingswerk hat noch einen kurzen Epilog: ein paar Zeilen, die die Sache relativieren: "Bringt Wein her! Das ist ein Spaß zum Totlachen! Wein!" – Ist die Tragödie am Ende eine Komödie? Und was will, was kann ein Regieteam mit dieser Rachegeschichte, die in ihren Wendungen oft wie an den Haaren herbeigezogen wirkt, heutzutage erzählen?
Regisseur Tom Kühnel findet einen guten Dreh. Seine Inszenierung ist ein großes Decrescendo, beginnt überlaut mit besagtem Racheschwur und zeigt uns die handelnden Personen als Menschen, die sich in ihren Rollen immer neu behaupten und immer wieder lächerlich machen.
Kostüme wie Gemälde – aber auch wie Dior und Cartier
Bewundernswert, und alleine das schon sehenswert, sind die Kostüme von Ulrike Gutbrod. Auf den ersten Blick wie aus der Gotik: edelste Stoffe, golddurchwirkt, die Männer durchweg mit Schnabelschuhen, die Damen mit Haube und Schleier, die Grafentochter Agnes mit damals modernerem perlenbestickten Haarnetz. Das ist historisch genau und wohl auch von berühmten Porträts in den Staatlichen Kunstsammlungen abgeschaut.
Auf den zweiten und dritten Blick zeigen sich Brüche. Der Stoff der Haube ist wie ein Seidentuch von Dior; Das Armband hier und die Halskette da wie Modeschmuck von Cartier – je länger der Abend, desto mehr entlarvt sich Kleidung als Kostüm. Als Korsett auch. Hier werden immer Rollen gespielt, der Mensch wird in Rollen gezwungen.
Theater als B-Movie
Das betont auch die Musik- und Soundebene, die auf Effekt gemacht ist, nach Seifenoper klingt und bewusst schlecht eingespielt ist. B-Movie eben. Die Schauspieler machen es ähnlich. Ahmad Mesgarha (Graf Sylvester) stellt seinen Text und kostet Kleists Genitivliebe voll aus; Thomas Eisen (Graf Rupert) parodiert von Beginn an den Bösewicht, der er letztendlich gar nicht ist. Alles ist Behauptung: Theater bewusst als Theater gezeigt.
Computerlandschaft in 3D, detailverliebt wie Dürer
Gut ausgedacht ist auch die Bühne. Jo Schramm stellt eine kreisrunde, nach vorn abgeschrägte Bühne auf die Bühne: Helles Birkenfurnier, die mittelalterliche Welt als eine Scheibe. In die hier noch eine Art Zylinderstumpf montiert ist, der schräg abgeschnitten ist und sich um sich selbst drehen kann. Nach vorne offen ist er dann Zimmer; die Zimmerwand nach vorne gedreht wird zur Projektionsfläche.
Computeranimiert und gewollt plastisch anzusehen ist die Szene dann wahlweise Schlafzimmer, Hexenküche, Locus amoenus, wo ein muntererer Quell aus dem Fels sprudelt, Schmetterlinge friedlich von Blüte zu Blüte taumeln – auch hier Detailverliebtheit wie bei Dürers "großem Rasenstück" und wieder ein Theater, das Theater als Illusionsbühne feiert und dann wieder dekonstruiert.
Mehr noch: Wenn die Herren Grafen herumwüten und sich dann vor der Zylinderwand hinkauern, erscheint als Projektion das Ehebett samt Gattin darin. Das Video macht die Ehefrauen (Christine Hoppe; Karina Plachetka) zehnfach groß und bringt die psychologische Deutungsebene ins Spiel, die das Wüten der Männer als einen dummen Jungenstreich dechiffriert. Die Riesenmutti wird’s schon wieder richten.
Ein Blick ins Paradies
Zurück zum Decrescendo. Nach dem überlauten Racheschwur sind es also immer neue Rollenspiele. Leben wie in einer Miniserie. Aber wo bleibt der Mensch als Mensch? Oder – leicht abgewandelt – mit Kleists "Homburg" gesprochen: "Das Instagramgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen / Jedoch die lieblichen Gefühle auch." Es ist dies die Frage nach dem authentischen Moment, in dem wir unser Leben nicht als permanente Selbstinszenierung begreifen!
Und damit kommen wir endlich zur schönsten Theaterszene, die ich 2022 gesehen habe. Kurz vor Schluss, kurz vor der finalen Mord- und Totschlagszene, nimmt die Regie das Tempo aus der Sache. Zunächst Verlobung und Hochzeit wie eine Vision. Agnes und Ottokar – mögliche Zukunft und Utopie. Die Familie kommt glücklich zusammen; Agnes schmeißt den Strauß – alles in Zeitlupe.
Danach bleiben Agnes und Ottokar auf der Bühne, tauschen ihre Kleider, um zur Schlussszene, jeweils unerkannt vom jeweiligen Vater, ermordet zu werden, so wie es der Text hier vorgibt. Henriette Hölzel und Yassin Trabelsi stehen sich gegenüber, schauen sich in die Augen, ziehen sich ihre Kleider aus, legen sie auf den Boden, Adam und Eva, wechseln die Plätze, ziehen sich die anderen Kleider wieder an. Mehr braucht es nicht für diesen schönsten Theatermoment. In dem das Publikum für einen kurzen Moment den Menschen ohne Kleidung, ohne Verkleidung, ohne Rollenspiel erkennen kann. Ein Blick ins Paradies.
Die Aufführung
Die Familie Schroffenstein
von Heinrich von Kleist
Bühne und Video: Jo Schramm
Kostüme: Ulrike Gutbrod
Videomitarbeit, Live-Kamera: Jakob Fließ
Regie: Tom Kühnel
Darsteller:
Thomas Eisen: Rupert, Graf von Schroffenstein, aus dem Hause Rossitz
Christine Hoppe: Eustache, Gemahlin des Grafen von Schroffenstein
Yassin Trabelsi: Ottokar, Sohn der Eustache
Jakob Fließ: Johann, Ruperts natürlicher Sohn
Ahmad Mesgarha: Sylvester, Graf von Schroffenstein, aus dem Hause Warwand
Aufführungen:
26. März 2024, 19:30 Uhr
14. April 2024, 19 Uhr
18. Mai 2024, 19:30 Uhr
Staatsschauspiel Dresden
Kleines Haus
Glacisstraße 28
01099 Dresden
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 12. Dezember 2022 | 08:40 Uhr