Bild-Collage: Der Komponist Richard Wagner im Profil vor dem Chemnitzer Opernhaus.
Im Chemnitzer Opernhaus spielt Wagner eine besondere Rolle. Bildrechte: Nasser Hashemi, IMAGO / United Archives

Stadttheatergeschichte Warum Chemnitz als "Sächsisches Bayreuth" bekannt ist

18. September 2024, 04:00 Uhr

Die Stadt Chemnitz, die 2025 Europäische Kulturhauptstadt ist, trägt viele Beinamen: Vielen ist sie wegen der reichen Industriegeschichte als "Sächsisches Manchester" bekannt. Dass sie auch als "Sächsisches Bayreuth" gilt, wissen jedoch nur die wenigsten. Das hat mit Richard Wagner zu tun. Das Interesse an dem Komponisten begann im 19. Jahrhundert und sorgte für den ersten großen Theaterbau. Und 1914 begann die Tradition, regelmäßig Werke von Wagner in Chemnitz aufzuführen.

1876: Das Festspielhaus in Bayreuth wird feierlich eröffnet und zum ersten Mal wird der berühmte Opernzyklus "Der Ring des Nibelungen" gespielt. Anfangs hatte der Komponist Richard Wagner noch die Idee, seinen Mehrteiler in einem hölzernen Theater zu spielen, das im Anschluss mit allen Noten und Kostümen dem Erdboden gleichgemacht werden sollte – immerhin endet die "Götterdämmerung" ja auch mit dem Weltuntergang.

Doch das Theater auf dem sogenannten Grünen Hügel in der fränkischen Stadt sollte doch länger halten: 16 Jahre später, im Jahr 1882, wurden die zweiten Festspiele mit Wagners letzter Oper "Parsifal" eröffnet. Bis heute werden die Bayreuther Festspiele gefeiert, ausschließlich mit den sieben Hauptwerken von Richard Wagner. Seitdem wurde Bayreuth zum Synonym für Opern-Festspiele und die Pflege des Werks von Richard Wagner. So wird Dessau gerne als "Bayreuth des Nordens" bezeichnet, weil viele Orchester-Mitglieder seit Beginn der Festspiele in Bayreuth mitwirkten. Als "Englisches Bayreuth" gilt Glyndebourne, seitdem auch dort jährlich Opernfestspiele stattfinden.

1914: Der erste "Parsifal" in Sachsen

Dass aber ausgerechnet Chemnitz – zwischen Wagners Geburtsstadt Leipzig und der frühen Wirkungsstätte Dresden – zum "Sächsischen Bayreuth" wurde, verwundert vielleicht. "Der Begriff 'Sächsisches Bayreuth' ist im 20. Jahrhundert geprägt worden", erklärt die Chemnitzer Dramaturgin Carla Neppl. 1912 übernahm Richard Tauber die Leitung des hiesigen Theaters. "Und er konnte die Stadtväter bereits Anfang 1913 dafür gewinnen, die im folgenden Jahr ablaufende 30-jährige Schutzfrist des Bühnenweihfestspiels 'Parsifal' zum Anlass zu nehmen und sich um die sächsische Erstaufführung des Parsifals zu bemühen", so Neppl.

Eigentlich hatte Richard Wagner verfügt, dass sein "Bühnenweihfestspiel" nur in Bayreuth aufgeführt werden sollte, doch das ließ sich nicht halten. In Berlin feierte eine Inszenierung der Oper gleich am ersten Tag nach Ablauf dieser Schutzfrist Premiere. In Chemnitz wurde die Oper am 13. Februar 1914 gespielt, zum 31. Todestag Wagners. "Und damit lag Chemnitz noch vor Leipzig und Dresden", ergänzt Petra Koziel, die nicht nur im Opernchor singt, sondern sich auch mit dessen Geschichte beschäftigt und sich im Chemnitzer Geschichtsverein engagiert.

Alte Postkarte von Chemnitz in Sachsen, eine Straßenbahn passiert das Schauspielhaus
Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden Wagner-Opern in Chemnitz im eigentlich zu kleinen Stadttheater gespielt. Bildrechte: IMAGO / Arkivi

Dank Wagner Theater in Chemnitz

Die Wagner-Tradition in Chemnitz begann aber schon wesentlich früher, berichtet Koziel. Der Sänger Heinrich Wolfram zog mit seiner Frau Klara, der Schwester von Richard Wagner, 1838 nach Chemnitz. Zwar waren beide gekommen, um ihre künstlerische Vergangenheit hinter sich zu lassen, doch setzten sie sich für das Werk ihres Verwandten in Chemnitz ein. 1864 wurde zum ersten Mal der "Tannhäuser" aufgeführt. Auch Wagner war 1849 einmal zu Besuch – während er wegen revolutionärer Umtriebe aus Dresden floh.

Eine reiche Theaterkultur in Chemnitz entwickelte sich erst allmählich. Die Aufführungen wurden damals mit Gästen und engagierten Menschen aus der Stadtgesellschaft gestemmt. 1897 brachte eine Aufführung von "Die Meistersinger von Nürnberg" das 1838 eröffnete Stadttheater an seine Grenze. Nach der Eröffnung des Neuen Stadttheaters (dem heutigen Opernhaus) im im Jahr 1909 waren hochwertigere Aufführungen möglich. Aber es ging auch darum, dass die Industriellen in Chemnitz ihren Gästen beispielsweise aus Leipzig Unterhaltung bieten wollten – und das war damals eben das Theater.

Chemnitz als Sprungbrett für Opernstars

Die Theaterkritik stellte von Beginn an immer wieder die Frage, ob das in Chemnitz überhaupt funktionieren könne. "Aber hinterher konnten die Kritiker immer feststellen, dass es sehr gute Aufführungen waren", erzählt Petra Koziel, die zahlreiche alte Kritiken gelesen hat. Dieses Motiv setzte sich übrigens bis in die 90er-Jahre fort, auch damals wurden dem Chemnitzer Theater keine Projekte wie ein kompletter Ring zugetraut – und alle wurden überrascht.

Für bereits große Opernstars war eine Verpflichtung im Chemnitzer Ensemble kaum attraktiv, auch wenn sie gern als Gäste bei Aufführungen mitwirkten. Doch dafür gelang es immer wieder, junge Musikschaffende ans Theater zu holen. Karl Kamann sang beispielsweise in den 30er-Jahren in Chemnitz alle wichtigen Wagner-Partien seines Fachs, bevor er auch in Bayreuth sang. Auch die gefragte Interpretin Evelyn Herlitzius sei extra nach Chemnitz gekommen, um sich mit der Partie der Isolde vertraut zu machen, erinnert sich der damalige Operndirektor Michael Heinicke. Das jüngste Beispiel sei auch Stefanie Müther, die die Brünnhilde erst hier und dann in Bayreuth sang. Chemnitz war also schon immer ein Karriere-Sprungbrett für angehende Opernstars – auch jenseits von Wagner.

Wagner und die DDR

In Nazi-Deutschland spielte Wagner bekanntermaßen eine besondere Rolle. Deswegen gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Ablehnung des Bayreuther Komponisten. Dennoch verschwand er damals nicht von den Chemnitzer Spielplänen. Nach dem Krieg war Rudolf Kempe, der später als Dirigent in München und London Welterfolge feierte, Generalmusikdirektor in Chemnitz. Er setzte sich dafür ein, dass weiterhin Wagner gespielt wurde. Ihm sei es darum gegangen, "Wagner als großen Musiker zu begreifen", erklärt Koziel.

Schwarz-Weiß-Bild einer Theaterszene: Menschenmenschen stehen rechts und links neben einer Person auf einem Thron.
Auch in der DDR wurde Wagner in Chemnitz gespielt: Beispielsweise 1962 ein "Lohengrin". Bildrechte: Archiv Theater Chemnitz

Doch damit "provozierte er auch eine öffentliche Diskussion über das problematische Thema Wagner". Durch diese Diskussion, die in Chemnitz angestoßen wurde, fand die DDR wieder zu Wagner und betonte in den Inszenierungen eher die Rolle des Volkes – passend zum Arbeiter- und Bauernstaat. Was übrigens nicht bedeutet, dass in Chemnitz nur noch Opern aus der Romantik gegeben wurden. Das Haus war damals auch sehr bekannt dafür, zeitgenössische Opern in guter Qualität aufzuführen.

Die Renaissance des "Sächsischen Bayreuths"

Der Beiname "Sächsisches Bayreuth" war jedoch seit der sächsischen Erstaufführung des "Parsifal" 1914 nicht immer präsent. "Das ist schon so ein Schlagwort, das in den Zeiten nach der Wende nochmal sehr an Bedeutung gewonnen hat", erinnert sich Dramaturgin Carla Neppl, die bereits Ende der 80er-Jahre nach Chemnitz kam. 1992 wurde das umfassend sanierte Theater mit einem "Parsifal" eröffnet und in den folgenden Jahren wurden auch die restlichen großen Wagner-Opern in Chemnitz inszeniert.

Eine Theaterszene: Eine Person in einer weißen Kutte mit roter Stola sitzt auf einem herrschaftlichen Stuhl und deutet theatralisch nach links.
1992 wurde das komplett sanierte Opernhaus mit einem "Parsifal" eröffnet. Bildrechte: Dieter Wuschanski

Dafür setzte sich gemeinsam mit dem Generalintendanten Rolf Stiska der Regisseur und Operndirektor Michael Heinicke ein. Er knüpfte durchaus bewusst an die historische Aufführung des "Parsifal" von 1914 an. Aber vor allem wollte er das große Opernhaus auch mit einer großen Oper eröffnen – und sich selbst einen Wunsch erfüllen, denn für ihn sei Wagner einer der größten Komponisten, wie er im Interview erzählte: "Meine Begeisterung für Wagner war eigentlich der entscheidende Ausgangspunkt."

Von dem Label "Sächsisches Bayreuth" habe er jedoch erst später erfahren, 1997 bei der Premiere von Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg": "Da war Wolfgang Wagner da" – Wagner-Nachfahre und damaliger Leiter der Bayreuther Festspiele – "der hat mir gegenüber das erste Mal den Begriff 'Sächsisches Bayreuth' in Erinnerung gebracht und zwar in Form der Anerkennung."

Starke Leistungen in Chemnitz

Für Heinicke sei das eine Ermutigung gewesen, genau so weiterzumachen. Er wollte mehr Wagner spielen und sein Ziel verfolgen, den "Ring des Nibelungen" aufzuführen – und zwar wie in Bayreuth mit allen vier Opern in nur einer Woche. Erneut gab es Zweifel, ob ein Haus wie Chemnitz das stemmen könne. "Durch solche Herausforderungen haben wir auch eine Begeisterung bei den Ensembles selbst hervorgerufen", erklärt Michael Heinicke. Alle im Theater haben für das Projekt gebrannt und dann auch alles gegeben. Denn: Projekte wie der "Ring" seien wie Hochleistungssport, so der Regisseur. Man müsse dafür einfach gut trainieren.

Und der Plan ist aufgegangen. Es ging damals nämlich auch darum, Publikum weit über die Stadtgrenzen hinaus anzulocken – und da sind die sogenannten Wagnerianer ja eine gute Zielgruppe, die teilweise durch die ganze Welt zu Aufführungen reisen. Sie kamen auch nach Chemnitz. Und die Chemnitzer Inszenierungen wurden auch eingeladen: 2003 wurde "Der fliegende Holländer" in Salzburg gespielt – und füllte das dortige Festspielhaus.

Eine Theaterszene: Mehrere Personen stehen auf einer Bühne voller Luxusartikel.
Das "Rheingold" 2018 beschäftigte sich vor allem mit Konsum im Kapitalismus. Bildrechte: Kirsten Nijhof

Zuletzt machte das Theater Chemnitz 2018 mit seinem "Ring"-Projekt von sich reden: Vier verschiedene Regieteams unter immer weiblicher Leitung inszenierten die einzelnen Teile des Opernzyklus. Seitdem wurde es etwas still in Chemnitz. Michael Heinicke findet das durchaus richtig: "Wenn da von 1992 bis 2016 zwölf Wagner-Inszenierungen auf die Bühne gebracht wurden, sollte man eine gewisse Vergessenheitszeit einplanen."

Drei weiblich gelesene und drei männlich gelesene Personen stehen in einem hellen Gang mit hohen Fenstern und halten bunte Programmhefte in den Händen. 6 min
Die Pläne des Theaters Chemnitz für die Spielzeit 2024/2025 stellte Generalintendant Christoph Dittrich gemeinsam mit seinem künstlerischen Team der Sparten Oper, Ballett, Orchester, Schauspiel und Figurentheater vor. Matthias Schmidt berichtet. Bildrechte: Nasser Hashemi
6 min

Das Theater Chemnitz hat seine Pläne für die neue Spielzeit vorgestellt. Das Fünf-Sparten-Haus geht trotz finanziell angespannter Lage mit 30 Premieren in die Theatersaison 2024/25.

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Auch Dramaturgin Carla Neppl betont, dass die Wagner-Tradition nur ein Baustein von vielen sei für die Bedeutung der Oper Chemnitz. Aktuell konzentriere sich die Opernleitung auf einen anderen Ansatz und in der Geschichte des "Sächsischen Bayreuths" habe es schon immer Pausen gegeben – voraussichtlich auch im Kulturhauptstadtjahr 2025.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 17. Mai 2024 | 09:10 Uhr

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