Tausend Jahre Domweihe Merseburger Dom: Von verschwundenen und wiedergefundenen Schätzen
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26. September 2021, 04:00 Uhr
"Der Merseburger Dom ist unterschätzt", findet Stiftungsdirektor Holger Kunde. Schließlich handle es sich um eine der bedeutendsten Kathedralen Deutschlands. Zur Weihe am 1. Oktober 1021 kam Kaiser Heinrich II., der oft Hof hielt in Merseburg. "Hier wurde Geschichte geschrieben!" Und das im doppelten Sinne. Durch Bischöfe wie Thietmar von Merseburg mit seiner berühmten Chronik zur Zeit der Ottonen oder 500 Jahre später durch Thilo von Trotha als Bauherr, Mäzen und "Vater" der Raben-Sage. Doch die 1.000-jährige Geschichte des Merseburger Domes, so Kunde, ist auch eine der verlorenen Schätze!
Nicht mal eine Handvoll Eingeweihter weiß, wo sie genau im Domstiftsarchiv unter strikten Sicherheitsvorkehrungen aufbewahrt werden:
Die Merseburger Zaubersprüche sind ein berühmter Schatz des Domes; zwei heidnische Beschwörungsformeln zur Anrufung germanischer Götter, um gefangene Krieger zu befreien und verrenkte Pferdefüße zu heilen. Niedergeschrieben im 10. Jahrhundert, entdeckt sie der Historiker Georg Waitz 1841 in der Bibliothek des Domkapitels mitten in einer Gebetssammlung. Jakob Grimm übersetzt sie aus dem Althochdeutschen und macht sie bekannt.
Merseburger Zaubersprüche
Kein Geringerer als Jakob Grimm überträgt die Merseburger Zaubersprüche aus dem Althochdeutschen.
So werden die Beschwörungsformeln ab 1842 berühmt als die weltweit einzigen bekannten und noch existenten Schriftstücke heidnischen Inhalts in althochdeutscher Sprache. Sie gelten als Beleg dafür, wie heidnische Bräuche bis ins frühe Mittelalter hinein wirkten.
Aufgezeichnet wurden sie von Mönchen in Fulda, im 10. Jahrhundert gelangten sie durch eine Schenkung nach Merseburg. Domarchivar Markus Cottin erklärt: "Allein die Aufzeichnung belegt, dass der Glaube daran, dass sie wirken, da war." In einer vorchristlichen Zeit seien Götter eben die Bezugsgrößen gewesen.
In einem Vortrag vor der Berliner Akademie der Wissenschaften am 3. Februar 1842 würdigt Grimm die überlieferte Handschrift als "Kostbarkeit", der "keine Bibliothek in Deutschland … etwas zur Seite zu stellen" habe.
Bereits 1935 wurde verfügt, dass sie aufgrund ihres fragilen Zustands nicht mehr öffentlich ausgestellt werden soll. Es wurde ein ebenfalls handschriftliches Faksimile angfertigt, das dauerhaft gezeigt werden kann, heute zu sehen im "Zauberspruchgewölbe".
Im Jahr 2021 wurde von den Vereinigten Domstiftern zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz zusammen mit dem Germanisten Wolfgang Beck ein Antrag ausgearbeitet, die Merseburger Zaubersprüche ins UNESCO-Weltdokumentenerbe eintragen zu lassen.
"Also ein Verlust wäre natürlich furchtbar."
Höchst selten wird die Handschrift hervorgeholt, wie Beate Tippelt erklärt. Sie ist seit 30 Jahren Fremdenführerin im Dom, sie kann die Zaubersprüche eindrucksvoll im Original vortragen und dann noch Jakob Grimm zitieren: Keine andere Bibliothek in Deutschland habe so etwas vorzuweisen. Zum Jubiläum der Domweihe vor 1.000 Jahren wird das mehr als 1.000 Jahre alte Dokument nun ausgestellt. Das scheint Domarchivar Markus Cottin nicht einerlei: "Ein Verlust wäre natürlich furchtbar", sagt der Mann, der mit kriminalistischem Spürsinn immer forscht, wohin all das Gold und Silber, die Reliquiensammlung oder andere wertvolle Handschriften aus dem Domschatz über die Jahrhunderte gelangten.
Geschichten von verschwundenen Schätzen
Domstiftungsdirektor Holger Kunde bringt es so auf den Punkt: "Unsere 1000-jährige Geschichte ist auch eine Geschichte der verschwundenen Schätze." Was er gleich an exponierter Stelle mitten im Dom demonstrieren kann. Unter einer prächtigen bronzenen Grabplatte liegt dort Rudolf von Rheinfelden (um 1025-1080), als Gegenkönig will er zu Zeiten des Investiturstreites seinen Schwager Heinrich IV. vom Thron stürzen, unterstützt vom Merseburger Bischof Werner. In der Schlacht von Hohenmölsen verliert er nicht nur seine rechte Hand, sondern auch sein Leben und wird immerhin königlich bestattet. Sogar vergoldet war die älteste figürliche Grabplastik Mitteleuropas, davon zeugen heute nur noch wenige Reste an Zepter und Krone. Ganz fehlt der Besatz mit Edelsteinen.
Die Hand des Gegenkönigs im Dommuseum
Mit Heinrich IV. unterwirft sich 1077 in Canossa erstmals ein weltlicher Herrscher der päpstlichen Macht, nachdem er zuvor auf das Recht der Investitur, also die Einsetzung von weltlichen und geistlichen Amtsträgern beharrte.
Trotz seiner Lösung vom Bann durch den Papst gibt es immer noch Fürsten im Reich, die gegen Heinrichs Herrschaft opponieren. Sein einstiger Getreuer, Rudolf von Rheinfelden, wird Gegenkönig. Beide treffen in der Schlacht von Hohenmölsen (1080) im heutigen Sachsen-Anhalt aufeinander. Dass Rudolf der Legende nach darin seine rechte Hand verliert, wird damals unterschiedlich gedeutet:
Der Verlust der Schwurhand gilt in jener Zeit als Gottesurteil. Für Heinrich und seine Anhänger ist das die beste Gelegenheit, die Rebellion der Sachsen für unrechtmäßig zu erklären. Hingegen wird die mutmaßliche Hand des Gegenkönigs für Rudolfs Anhänger, darunter der Merseburger Bischof, zur Reliquie.
Während die Grabplatte noch existiert, kamen rund 30 silberne Abendmahlskelche aus dem 15. Jahrhundert bis auf einen abhanden, der ist sogar noch in Gebrauch:
"Ein schönes Stück. Toll, dass wir den haben bewahren können", sagt Kunde mit Blick auf die politisch-religiösen Machtkämpfe, die den Domschatz ab Mitte des 16. Jahrhunderts dezimierten.
Letztes Lebenszeichen: Inventarliste aus dem 16. Jahrhundert"
Eine Inventarliste aus dieser Zeit hat Markus Cottin im Dom-Archiv entdeckt, "sozusagen als letztes Lebenszeichen". Bis dahin sei alles komplett gewesen. Doch 1546/47 tobt der Schmalkaldische Krieg, das Merseburger Domkapitel will den Schatz Cottin zufolge in Sicherheit bringen. Ein großer Teil der Gold- und Silberstücke kommt nach Leipzig, um dort "ein ganz trauriges Schicksal" zu nehmen, so Cottin. Beschlagnahmt werden sie, eingeschmolzen oder plattgehauen zu so genannten Klippen: Ein Notgeld, das man schnell prägt, um die kurfürstlichen und herzoglich-sächsischen Kriegstruppen zu besolden.
In Leipzig unterm Hammer: Aus Silber wird Sold
Einige, wenige der begehrten Stücke befinden sich heute im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig. Kurator Steffen Poser spricht von "Spurenelementen des Merseburger Domschatzes", der etwa so unter den Hammer kommt: "Man hat beispielsweise Silberteller genommen, flach gehämmert und dann mit einer großen Schere in Stücke geschnitten. Dann wurde ein Stempel aus Eisen drauf gesetzt und mit einem großen Hammer draufgeschlagen. So verwandelte sich ein Stückchen Silberteller plötzlich in Geld." Für Poser sind die Klippen am richtigen Ort. Schließlich seien es jetzt Leipziger Münzen, geprägt gleich gegenüber vom heutigen Museum im Alten Rathaus. Eine Rückgabe kann er sich nicht so recht vorstellen.
Bischofsmitren als Dresdner Beutekunst?
Zumindest als Leihgabe aus Dresden sind derzeit kostbare Mitren von zwei Merseburger Bischöfen vor Ort zu sehen, in einer Sonderschau, die noch bis Ende Oktober unter dem viel versprechenden Titel "Die Rückkehr des Merseburger Domschatzes" läuft.
Dom-Archivar Cottin und Domstiftungsdirektor Kunde haben schon oft und lange diskutiert, ob es wenigstens für die beiden Bischofs-Mitren nicht tatsächlich einen Weg ganz zurück nach Merseburg gäbe. Von Dresdner Beutekunst möchte er allerdings nicht sprechen:
"Im juristischen Verständnis sind ja die weltlichen Administratoren, also die Herzöge von Sachsen-Merseburg als Nachfolger der Bischöfe in der Zeit nach der Reformation, auch die berechtigten Erben." Erst als die Linie der Herzöge von Sachsen-Merseburg mangels Nachkommen versiegt, werden wertvolle Besitztümer wie die Mitren 1738 ans Wettiner Stammhaus um August den Starken geholt. "Auch wenn man immer wieder daran rütteln möchte", sagt Kunde: "Wir sind dankbar, dass sie in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden so gut gepflegt werden und wir sie immer mal zeigen dürfen."
Verluste im 20. Jahrhundert: Glocken, Handschriften und ein verschwiegener Markt
Wirklich Beute gemacht wird rund 200 Jahre später. Drei Glocken aus dem mittelalterlichen Geläut werden eingeschmolzen, als Bronzematerial kriegswichtig wird. Im Jubiläumsjahr soll die Lücke nun durch den Guss einer neuen Glocke geschlossen werden, geweiht wird sie zu Beginn der Festwoche am 1. Oktober.
Nicht zu ersetzen sind jedoch vier Handschriften, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges verschwinden. Dass sie Auskunft gaben über das Rechtssystem oder eine Bischofsweihe vor hunderten Jahren in Merseburg, macht sie für Domarchivar Cottin bedeutsam. Inzwischen weiß er, dass eine heute offenbar im Besitz eines amerikanischen Kunstsammlers ist: "Auch für so etwas gibt es einen Markt und der ist sehr verschwiegen." Angesichts der sehr speziellen Dokumente hofft Cottin aber, doch noch etwas über den Verbleib der anderen drei zu erfahren, "um dann vielleicht auch mal zugreifen zu können." Bei einer Auktion etwa.
Domschätze nach der Wende im Auktionskatalog wiederentdeckt
Dass es selbst in Friedenszeiten nicht so einfach ist, Kulturgüter vor Diebstahl, Raub und Zerstörung zu schützen, zeigt sich nach 1945. Die Särge in der Fürstengruft werden zu DDR-Zeiten mehrfach geplündert. Als eine Silbertafel vom Grab der Herzogstochter Christiana von 1679 Anfang der 1990er-Jahre bei einer Kunstauktion in Stuttgart wieder auftaucht, schalten sich die Merseburger ein, indem sie auf die Herkunft verweisen und das Stück beschlagnahmen lassen: "Aber der Anbieter, eine Galerie, konnte den rechtmäßigen Besitz nachweisen." So zahlen die Merseburger noch einmal für ihr Eigentum, damit es nicht auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Legale Enteignung?
So wie die beiden edlen Silberleuchter, die bis heute verlustig sind, obwohl Domarchivar Cottin zwei Dokumente vorliegen, wer sie mal "entnommen" hat. Demnach gehen sie 1967 an den Kreis Merseburg. In der Restaurierungsabteilung kommen sie nie an. Trotz Nachfrage werden sie nicht zurückgegeben. Dafür tauchen sie 2004 in einem Katalog zu einer Versteigerung in München wieder auf: "Tatsächlich hat die Domgemeinde bei dieser Auktion mitgesteigert. Allerdings ist sie überboten worden und so sind die Leuchter an einen unbekannten neuen Besitzer gegangen." Rausgeben müsse der sie nach geltender Rechtslage nicht. Denn: Was einmal bei einer Auktion versteigert worden ist, ist danach "saubere" Ware. Eine Art legal Enteignung.
Zum Glück gibt es Schätze, die nicht so leicht verschwinden können bzw. wiederkehren. Dazu gehört das Epitaph von Thilo von Trotha, der 48 Jahre lang Bischof in Merseburg gewesen ist. Unter seiner Herrschaft wird der Dom umgebaut, entsteht das Schloss. Zu seinem Bistum gehört die aufstrebende Handels- und Universitätsstadt Leipzig. So ist er im 15. Jahrhundert einer der Großen, obwohl ihm auch eine dunkle Geschichte anhängt. Seinen treuen Diener hat er hinrichten lassen, weil er ihn des Diebstahls verdächtigt. Dabei findet sich der Schmuck später im Nest eines Raben. Dunkel und dadurch unscheinbar hängt sein Erinnerungsmal in der Bischofskapelle. 2014 soll es für eine Ausstellung gereinigt werden: "Und siehe da, plötzlich schimmerte es golden", erzählt Kunde lachend. Vermutlich sei Trothas Epitaphs zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit einer schwarzen Schicht aus Schuhcreme und Ofenruß überzogen worden, um es vor Diebstahl zu schützen.
Wie umgehen mit den Originalen?
Für die Merseburger Zaubersprüche wäre das Ofenruß-Verfahren freilich keine Option. Um den berühmten Schatz zu bewahren, wird, wenn nicht gerade 1.000 Jahre Domweihe anstehen, statt des Originals ein Faksimile gezeigt. Sicherheitshalber lässt man gerade eine weitere, fast "hundertprozentige Kopie" anfertigen. Cottin betont: "Aber so etwas fällt nicht aus aus dem Rechner oder dem 3D-Drucker. Das ist wie vor 1.000 Jahren noch Handwerk, eine solche Handschrift herzustellen." Per Hand beschliffen wird dafür eine weiße Rindshaut – und dann "eingedreckt", damit es am Ende so aussieht, als liege Staub darauf aus den letzten 1.000 Jahren.
Geweiht für die Ewigkeit: Ausstellungen, Weihe- und Lichterfest, "Lange Nacht der Kirchen"
Die Rückkehr des Merseburger Domschatzes
Bis 31. Oktober 2021
Wahrer Zauber: Die Merseburger Zaubersprüche im Original
2. bis 31. Oktober 2021
Sonderführungen
Samstag, 2. Oktober 2021: 10.00 Uhr, 12.00 Uhr, 14.00 Uhr, 16.00 Uhr, 18.00 Uhr, 20.00 Uhr
Sonntag, 3. Oktober 2021: 10.00 Uhr, 12.00 Uhr, 14.00 Uhr, 16.00 Uhr
Kosten: 8,50 Euro pro Person
Weihefest 1. bis 3. Oktober
15 Uhr | Feierliche Prozession zum Merseburger Dom mit anschließender Glockenweihe auf dem Domplatz. Einer jahrhundertealten Tradition folgend, kann die Glocke das Wochenende über von allen Interessierten gegen eine symbolische Spende auf dem Domplatz angeschlagen werden.
19.00 Uhr | Merseburger Dom
Lichterfest und "Lange Nacht der Kirchen"
Besichtigung Dom (19.00 Uhr bis 1.00 Uhr, ab 23.00 Uhr Konzert): kostenfrei
Besichtigung Schätze, Merseburger Zaubersprüche (19.00 Uhr bis 23.00 Uhr):
Kostenfrei
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 28. September 2021 | 21:00 Uhr