Waffen in Deutschland Ist Deutschland eine Waffennation?
Hauptinhalt
26. April 2023, 16:42 Uhr
Über Jahrhunderte war der Besitz von Waffen in Deutschland völlig normal. Noch bis in die 1970er-Jahre konnte man in der Bundesrepublik eine Pistole bequem per Quelle- oder Neckermann-Katalog bestellen. Ein zentrales Waffenregister gibt es in Deutschland erst seit 2019, auf Drängen der EU. Schärfere Waffengesetze kommen immer nur dann, wenn sich Tragödien ereignen, wie beispielsweise der Amoklauf in Erfurt 2002, der Anschlag in Halle 2019 oder jetzt in Hamburg.
Das Thema privater Waffenbesitz und vor allem Waffenmissbrauch assoziieren die meisten wohl mit den USA. In keinem anderen Land befinden sich so viele Waffen in privatem Besitz. In fast der Hälfte (42 Prozent) aller US-amerikanischen Haushalte gibt es mindestens eine Waffe und insgesamt sind über 300 Millionen davon registriert. Das mögen zwar schockierende Zahlen sein, doch auch in Deutschland zeichnet sich seit 2015 eine konstant ansteigende Nachfrage nach Schreckschuss- sowie scharfen Waffen ab. Heute gibt es in der Bundesrepublik mehr als fünf Millionen registrierte Schusswaffen und Waffenteile. Sie sind also auch hierzulande ein fester Bestandteil im Alltag vieler Menschen.
Waffengesetze verschärfen - Attentate verhindern?
Genauso ist der Missbrauch von Waffen alles andere als ein US-amerikanisches Problem. Bis heute erschüttern Anschläge und Amokläufe die deutsche Bevölkerung. Erst im März 2023 werden bei einem Amoklauf in Hamburg acht Menschen getötet. Ein 35-jähriger Mann hatte in einem sogenannten Königreichssaal der Zeugen Jehovas auf Mitglieder der Glaubensgemeinschaft geschossen und sich anschließend selbst getötet. Und wieder einmal wird der Ruf nach schärferen Waffengesetzen laut. Unter anderem soll es eine psychologische Überprüfung vor der Ausstellung eines Waffenbesitzscheines geben.
Schon einmal hatte die Tat eines Einzelnen zur Verschärfung der Gesetze geführt. Nach dem Amoklauf von Erfurt am 26. April 2002 wurden sowohl Polizeigesetze als auch das Schulgesetz in Thüringen geändert. Am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt hatte ein ehemaliger Schüler 16 Menschen und anschließend sich selbst erschossen. Erfurt ging als "Fall Null" in die Geschichte der Amokläufe an deutschen Bildungseinrichtungen ein.
Amoklauf Erfurt 2002 - Überblick
Am 26. April 2002 lief ein ehemaliger Schüler am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt Amok. Der 19-Jährige tötete mit einer Sportwaffe zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin sowie einen Polizisten. Danach tötete er sich selbst. Der Amoklauf in Erfurt ist in die Geschichte eingegangen als schwärzester Tag Thüringens seit der Wende. In der Folge erarbeiteten Schulen bundesweit Notfallpläne, das Jugendschutzgesetz und Waffengesetz wurden verschärft.
20. Jahrhundert: Waffen werden zur Massenware
Auch wenn solche Taten immer wieder schockieren, so ist dennoch nicht zu bestreiten, dass Waffen in unserem Alltag bis heute eine feste Rolle spielen. Und das ist nicht erst seit dem Amoklauf in Erfurt 2002 der Fall. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts erlebt der Waffenmarkt eine technische Revolution. Immer kleiner, schneller und in großer Zahl produzierbar sollen die neuen Schusswaffen sein. Verkaufsschlager sind selbstladende Pistolen mit Patronenmunition und im Zuge der rasant wachsenden industriellen Fertigung werden sie schnell zur billigen Massenware.
Historikerin Prof. Dr. Dagmar Ellerbrock von der TU Dresden vergleicht die damalige Waffenhysterie mit dem heutigen Technik-Trend: "Es sind die gleichen Gründe, warum Sie als Jugendlicher heute unbedingt das neueste iPhone haben müssen oder das neuste Galaxy. Das ist schick und das ist technisch avanciert". Vor allem aber solle mit dem neusten Smartphone Eindruck geschunden werden – ebenso verhielt es sich mit der Waffe im 20. Jahrhundert: "Mit den Waffen konnte man Sachen machen, auf der Kirmes irgendwo hinzielen, in die Luft schießen und die Mädels beeindrucken", so die Historikerin.
Diese Waffen waren auf Ratenzahlung zu erwerben. Das heißt man musste 10 Pfennig, also 10 Reichspfennig, zahlen und konnte dann diese Waffe abstottern und hatte quasi das neueste Modell.
In allen Bevölkerungsschichten erreichen die Revolver rasch große Beliebtheit. Der Waffenhersteller Browning schickt sogar seine neuesten Pistolen als Werbegeschenke an deutsche Schulabsolventen. Doch nicht selten kommt es zu Unfällen und Todesfällen mit Schusswaffen. Täter und Opfer sind überwiegend männlich und jung. 1928 wird das erste deutsche Waffengesetz verabschiedet und zwar vor allem auf Druck der Zivilgesellschaft. Auch wenn damit der Besitz für Minderjährige verboten und eine Erwerbsscheinpflicht eingeführt wird, so blieben der Erwerb und Besitz von Waffen weitestgehend komplikationsfrei.
Beliebtheit von Waffen: Pistole und Revolver in DDR- und West-TV
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird in beiden deutschen Staaten gänzlich unterschiedlich mit dem Thema Waffe umgegangen. Davon zeugen auch die Krimiformate in DDR und BRD. Im Westfernsehen der 1970er Jahre wird oft und gerne geschossen. Der ARD Tatort spiegelt wieder, was in der Gesellschaft möglich ist: Überfall, Erpressung und Mord durch Schusswaffen sind Alltag in der Bundesrepublik. Ganz anders verhält es sich in der DDR: Von Pistole, Revolver und Co. fehlt hier fast jede Spur. Im Polizeiruf wird statt dessen überfahren, erschlagen gewürgt und geschubst. Private Schusswaffen existieren im staatlichen Fernsehalltag nicht. Dies gilt ebenso in der DDR-Wirklichkeit.
Schießen ohne Waffen in der DDR
In der Sowjetischen Besatzungszone wird 1945 eine rigorose Entwaffnung durchgesetzt. Der private Besitz von Schusswaffen bleibt in der DDR streng verboten. Einige wenige Ausnahmen gibt es zwar beim Einsatz von Jagdwaffen aber selbst dieser ist streng limitiert. Trotzdem kann praktisch jede DDR-Bürgerin und jeder DDR-Bürger schießen. 1978 führt Bildungsministerin Margot Honecker den Wehrunterricht ein. Ab Klasse neun gehört nun die Ausbildung an Luftgewehr und Kleinkaliberwaffe zum Alltag der Schülerinnen und Schüler. Schießstände befinden sich oftmals direkt an den Schulen. Ab Ende 1989 verschwinden sie unbemerkt, ebenso wie viele der Waffen.
Schießen als Hobby in der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik schätzt man die Waffe besonders im privaten Umfeld und das bereits bald nach 1945. Es kommt laut Dagmar Ellerbrock recht schnell zu einer "Wiederinstallierung der Situation von 1928". Wer die neueste Pistole will, kann diese problemlos bei Neckermann und Quelle bestellen. Schießen wird zum Alltagssport mit und ohne Verein. Das zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten bis hin zur Führungsriege – zum Beispiel der Familie des späteren Bundeskanzlers Helmut Kohl.
1972 soll zum ersten Mal ein bundesweit einheitliches Waffengesetz verabschiedet werden. Für zahlreiche bisher frei käufliche Waffen gibt es nun eine Meldepflicht und Erwerbsscheine. Infolgedessen fürchten viele Waffenhändler und Schützen um ihr Statussymbol. Das Gesetz wird verabschiedet, jedoch werden die Regelungen nach nur vier Jahren wieder gelockert. Ab 1990 gilt das Waffengesetz der Bundesrepublik nun für das wiedervereinte Land.
Waffengesetz: Was hat sich seit der Wiedervereinigung 1990 getan?
Debatten um Einschränkungen und schärfere Regelungen gibt es immer nur dann, wenn Einzeltäter durch Waffenmissbrauch reales Leid bringen. Nach den Amokläufen von Erfurt und Winnenden werden die Altersgrenzen für Kauf und Besitz von Schusswaffen angehoben sowie die Kontrollmöglichkeiten verschärft. Dennoch braucht es erst den Druck der EU, um gefährliche Waffen überhaupt bundesweit zentral zu erfassen. "Wir wussten vorher, wie viele Kühe auf deutschen Weiden weiden und wie viele Teebeutel wir konsumieren. Wir wussten aber nicht, wie viele private Schusswaffen in diesem Land zirkulieren", so Dagmar Ellerbrock. Erst 2019 wird überhaupt ein nationales Waffenregister eingerichtet. Doch die Nachfrage nach Schreckschuss- ebenso wie nach scharfen Waffen stieg bereits Jahre vorher. Schützenvereine genießen flächendeckend einen großen Zuwachs. Der Osten holt dabei schnell auf.
Auf der anderen Seite ist unter dem Eindruck vergangener Tragödien auch das Bewusstsein für die Gefahren gestiegen. Obwohl die Schusswaffe in Deutschland nicht länger zu den Top-Statussymbolen zählt, so ist dennoch bei vielen eine Faszination geblieben. Prof. Dr. Ellerbrock prognostiziert deshalb: "wenn jetzt heute, wie das ja in den USA zum Teil der Fall ist, interessante Schusswaffen in einer Supermarktkette angeboten werden würden, dann wären sie innerhalb von sehr kurzer Zeit ausverkauft."
Zu Person: Prof. Dr. Dagmar Ellerbrock Prof. Dr. Dagmar Ellerbrock ist seit 2014 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem zivile Waffenkulturen, Emotionale Dynamik von Protest, Gewalt und Befriedung sowie Gesellschafts- und Sozialgeschichte. Als Deutschlands einzige Waffen-Historikerin schrieb sie Bücher wie "Vom 'ächten deutschen Waffenrecht'. Waffenpraktiken zwischen Volksentwaffnung und der Freyheit des Gewehrbesitzes" ( Stuttgart, 2022) und "Deutsche Schießwut. Zur Transformation der deutschen Waffenkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert" (Göttingen, 2022)
Dieser Artikel wurde 2022 erstmals veröffentlicht und 2023 aktualisiert.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 11. März 2023 | 19:30 Uhr