Putin-Propaganda Putin und die Sprache der Nazis
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Eine lange Tradition von Desinformations- und Zersetzungspolitik
02. Juni 2022, 10:17 Uhr
Entnazifizierung, Genozid, Pogrom – als diese Begriffe mit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine massenmedial auftauchten, als "Putin-Sprech" und als über diverse russische Medienkanäle kolportiertes Bild einer Gefahrensituation im Nachbarland Ukraine, schüttelte man im Westen den Kopf. Ist Putin verrückt? Glaubt er das eigentlich selbst, was er da sagt? Er übernimmt damit die Sprache derer, die um 1920 mit ihren antisemitischen Parolen die Weimarer Republik zu Fall brachten.
In Zeiten von Kriegspropaganda wird auf beiden Seiten verbal aufmunitioniert. Doch welche Rolle spielt der Antisemitismus, wie er von Putin benutzt wird? Nazis hatten weder in Kiew noch der Ostukraine die Macht übernommen. Auch für die vom Kreml angeprangerten systematischen Menschenrechtsverletzungen gegen die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine gibt es keine Beweise. Im Gegenteil: Ein Präsident mit jüdischen kulturellen Wurzeln steht doch an der Spitze des ukrainischen Staates. Das konnte jeder sehen und wissen. Wozu diese ganze Putin-Verjagt-Ukrainische-Nazis-Show?
Putins Propaganda-Ziele
Es dauerte, bis langsam dämmerte: Die Propagandaschlacht im Vorfeld des Angriffskriegs war nie dafür gedacht, eine logische Herleitung des eigenen Tuns gegenüber dem Westen bzw. der Weltgemeinschaft zu begründen, sondern verfolgte völlig andere Ziele.
Nach außen diente es dazu, Verwirrung zu stiften, die eigene Position und Strategie möglichst lange zu vernebeln. Nach innen heftete die russische Staatsmacht ihrem Handeln Schlüsselbegriffe aus der Ära der großen Kriegs- und Weltmacht Sowjetunion an, um der eigenen Bevölkerung quasi einen moralisch sauberen Kompass zu verpassen. Die Einladung, sich erneut als "Retter" einer aus den Fugen geratenen Welt zu begreifen, wurde tatsächlich in großen Teilen dankbar angenommen. Das schleichende Gift einer Dichotomie – Wir und die anderen – zeigt nun Wirkung.
Russland, das vermeintlich Opfer der Weltpolitik, das umzingelt ist von Feinden, die es in die Knie zwingen wollen. Die PR-Taktik des Kremls und insbesondere der Sprachmodus erinnern fatal an eine Tradition, die in Deutschland in den 1920er Jahren mit dazu beigetragen hatte, dass der völkische Nationalismus siegte und die Weimarer Republik zerbrach.
Weimarer Republik: Antisemitismus wird gesellschaftsfähig
Obwohl es eine große Zahl von wissenschaftlichen Publikationen gibt, die das Feld des Antisemitismus, der Judenverfolgung in Deutschland, untersuchen, kommen doch immer wieder neue Aspekte ans Licht, die vor allem im Kontext der aktuellen Entwicklung und (welt)-politischen Lage wertvolle Erkenntnisse liefern. Eine dieser Studien ist die Dissertation "Antisemitismus im Reichstag – Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik" von Dr. Susanne Wein. Die an der Freien Universität Berlin promovierte Historikerin hat unter anderem Protokolle damaliger Reichstagssitzungen ausgewertet. Im Zentrum dieser Arbeit steht etwas, das uns sehr vertraut scheint, nämlich der Kampf um die semantische Besetzung von Schlüsselbegriffen. Das heißt: Lange bevor eine Partei wie die NSDAP etwa real Macht ergriff, hat sie auf dem symbolischen Feld der Debatte, der Inszenierung von Politik, der Etablierung und Verfestigung bestimmter Sprachbilder dafür gesorgt, dass Denkweisen "einsickern". Eine der zentrale Denkspuren der völkischen Nationalisten, von denen sich die Nationalsozialistische Partei unter Adolf Hitler als die erfolgreichste erweist, ist der Antisemitismus, der als kultureller Code etabliert wird.
Diese Erkenntnis mutet nicht besonders überraschend an, aber der Blick aufs Detail ist mehr als erkenntnisfördernd. Denn in den Debatten der Jahre 1918 bis 1933 ist zu sehen, wie und warum sich bestimmte antisemitische Formulierungen ("Hochfinanz", "das Weimarer System") etablieren und festsetzen und langsam ihre zersetzende Wirkung entfalten. Ganz zu Anfang wurden die junge Republik und ihre demokratischen Repräsentanten von der rechtsnationalen Allianz (vereinigt in der DNVP – Deutschnationale Volkspartei) immer wieder mit Hohn und Spott überzogen. Und es wurde der politische Angriff gegen "das System" ganz offen antisemitisch konnotiert: Deutschland sei nunmehr eine "Judenrepublik". Dieser Begriff ist eine Kampflosung der frühen Jahre und eine Chiffre. Er dient militanten Rechtsextremen als Leitbild für Mord und Terror gegen führende Repräsentanten dieses Staates. Erst die Ermordung von Außenminister Walter Rathenau führt dazu, dass der Gedanke einer "wehrhaften" Demokratie Einzug hält und die Regierung vermehrt in den Staatsschutz investiert. Doch eines lässt sie eben aus: Es wird während der gesamten Zeit der Weimarer Republik nicht möglich sein, gegen die Diffamierung als Jude rechtlich vorzugehen – es sei denn, die Kläger können nachweisen, dass sie als Religionsgemeinschaft herabgesetzt werden. Die Idee der Antisemiten, das Jüdisch-Sein ein biologisches, rassisches Faktum sei, lässt sich strafrechtlich nicht bekämpfen.
Der Tatbestand der Beschimpfung falle so für die Bezeichnung "Jude" aus, da eine Tatsache ja keine Diffamierung sein könne. Nun ist zwar bekannt, dass insbesondere die in der Mehrheit demokratie- und republikfeindlichen Kräfte in der Justiz (Richter, Staatsanwälte) die Erosion und den Zusammenbruch der Weimarer Republik maßgeblich beschleunigten, doch auch an anderer Stelle gelang es der völkischen Rechten immer wieder, die politische Bühne im Sinne des Antisemitismus erfolgreich zu besetzen.
Antisemitische Inszenierung im Reichstag
Debatten im Reichstag der Weimarer Repüblik über Reparationen etwa wurden regelmäßig im Sinne einer Selbst-Victimisierung (Opfer-Stilisierung) genutzt und im Sinne einer absichtlichen Versklavung der Deutschen gedeutet. Und natürlich durfte auch der Hinweis auf das "Weltjudentum" nicht fehlen, dass genau dieses "In-den-Staub-Werfen" des ehemaligen Kriegsgegners mit allen Mitteln forciere, um die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Um dies zu verdeutlichen, benutzen die völkischen Redner zu Beginn der Weimarer Republik ständig Formeln wie "das jüdische Finanzkapital" oder "die jüdische Börse in New York", um den von Ihnen konstruierten Zusammenhang, das "Weltjudentum" würde über alle internationalen Geldflüsse bestimmen und hätten die wahre weltpolitische Macht, in antisemitischer Diktion zum Ausdruck zu bringen. Die ständige Wiederholung dieser Formeln über Jahre hinweg fällt auf. Aber auch, dass das Attribut "jüdisch" zum Ende der 1920er Jahre hin aus diesen Reden verschwindet. Nicht, weil die Antisemiten nun keine mehr wären. Sondern sie haben es gar nicht mehr nötig, den Zusammenhang länger zu betonen. Sie haben es geschafft, dass Begriffen wie "Finanzkapital" und "Hochfinanz" ab Ende der 1920er Jahre automatisch der Antisemitismus "anhaftet".
"Schmachdokumente", "Schandvertrag", "Systempresse" – in jedem politisch brisanten Kontext versuchten die Völkischen, ihre Deutungshoheit in Form von Wort-Neuschöpfungen zu prägen und diese wieder und wieder zu wiederholen. Heute weiß man aus der Kognitionsforschung, dass selbst eine Widerrede, die diese Worte aufgreift, sie stärkt.
Doch auch ohne dieses Wissen waren die Zeitgenossen im Reichstag zunehmend ratlos, wie sie auf die endlose Folge von abstrusen Wortmeldungen, wüsten Parolen, der Unterminierung des politischen Dialogs in Inhalt und Form reagieren sollten. Auf die "geläufigen Judenvernichtungsreden" wurde mit Ironie, mit Kopfschütteln, mit lautem Protest und von Seiten der Sitzungsleitung mit jeder Menge Ordnungsrufen reagiert. Nur eben immer seltener mit ironiefreier Gegenrede. Mit Worten, die die Diffamierung und Gewalt der Sprache dieses Gegners offenlegen.
Rechter Terror hat sich angekündigt
Das Jahr 1922 lehrt Deutschland eine neue Angst: Rechter Terror überzieht die Weimarer Republik. Spätestens seit dieser Terrorwelle war klar, zu welchen Mitteln die Rechtsradikalen bereit sind. Doch im Laufe der nächsten Jahre schien dieses Bewusstsein mehr und mehr zu verblassen. Im Zuge der Anstößigkeiten, die 1929 am laufenden Band von Abgeordneten der NSDAP in den Plenarsaal geschleudert wurden, war es scheinbar nur noch eine Randerscheinung, als der NS-Fraktionsvorsitzende Wilhelm Frick ans Pult trat und den SPD-Fraktionsvorsitzenden in einer nie dagewesenen Weise diffamierte und mit dem Tod bedrohte.
Wir Nationalsozialisten werden Herrn Heilmann (…), indem wir im kommenden Dritten Reich (Lachen und Heilrufe links) auf Grund des Gesetzes gegen Völkerverrat und Korruption durch einen Deutschen Gerichtshof Herrn Heilmann als ersten in völlig legaler Weise aufhängen lassen (…).–
Die Morddrohung wird nicht sanktioniert. Am 23. Januar 1930 wird Wilhelm Frick Staatsminister für Inneres und Volksbildung im Land Thüringen und der erste Minister der NSDAP zu Zeiten der Weimarer Republik. Ernst Heilmann wird 1933, wie angekündigt, verhaftet, interniert, gefoltert und schließlich 1940 umgebracht.
Auch damals fiel es politischen Akteuren wie Beobachtern schwer, aus Hetze und verbalem Hass Rückschlüsse auf Realpolitik zu ziehen. Vor allem auch, weil der antisemitische Furor der führenden Nationalsozialisten, die scheinbar irre Gemengelage von verschwörungstheoretischen Versatzstücken und ihre ständige Wiederholung die Demokraten, trainiert auf sachlich-argumentative Auseinandersetzung und Erwiderung, schlicht müde machten. Man sah die Zumutung, erlebte unwürdige Szenen, verbannte mitunter die Akteure zeitweise aus dem Saal – aber eine Langfriststrategie, einen Plan, wie man dieser demokratischen Zersetzungs-Politik zu Leibe rückt, die gab es nicht. Kann es sie heute geben? In Bezug auf die demokratisch gewählten Parteien in Deutschland, die das parlamentarische Erbe der Zersetzung antreten, gibt es sie durchaus in vielfältiger Form. Auch wenn dem ein längerer Prozess vorausging.
Kriegsrhetorik: Putins Worte und ihre Wirkung
Wie kann ein Umgang mit codiertem Sprechen aussehen, wie es in Moskau praktiziert wird und seinen Weg in die weltumspannenden elektronischen Kanäle findet. Muss man, müssen wir dieses Sprechen überhaupt decodieren? Es wird uns nicht viel anderes übrigbleiben. Denn auch wir benutzen die Terminologie, auch wir begegnen Bruchstücken von Denkansätzen, alten Vorurteilen. Fake News, Bilder, Clips, Memes und Sprachbilder verstärken unsere Meinung. Unruhe und Ängste, verwirren und irritieren uns. Als ehemaliger Geheimdienstmann weiß Wladimir Putin bestens um dieses Potential und schöpft es seit Jahren aus.
Tausende sich versammelnde Demonstranten auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/14 bezeichnete Putin als Teilnehmer eines "Pogroms". Die Strategie dahinter: Zweifel säen und Unsicherheit schaffen. Das passierte auch 2018, als Putin anzweifelt, dass die wegen möglicher Wahlmanipulation in den USA angeklagten Russen überhaupt russische Staatsbürger seien.
Vielleicht sind das gar nicht Russen, sondern Ukrainer, Tataren oder Juden, die die russische Staatsbürgerschaft besitzen. Das sollte man auch untersuchen. Vielleicht haben sie die doppelte Staatsbürgerschaft oder eine Greencard. Vielleicht haben die USA sie hierfür bezahlt. Wie soll man das wissen?
2018 teilte das American Jewish Committee auf Twitter mit, Putins Bemerkungen erinnerten auf unheimliche Weise an die "Protokolle der Weisen von Zion", ein 1903 vermutlich vom zaristischen russischen Geheimdienst in Auftrag gegebenes antisemitisches Machwerk. Auch den Rathenau-Attentätern 1922 diente es als Beweis einer "Alljuda"-Verschwörung. Rathenau selbst sei einer dieser "300 Weisen", die die Welt zu unterjochen beabsichtigen. Während sich die Anführer der nationalsozialistischen Bewegung in diese krude Mythologie mit aller eliminatorischen Energie hineinsteigerten, dürfte es sich im Fall von Wladimir Putin "nur" um Zersetzungs-Tricks ("desinformazija") handeln. Dass er mit diesen Tricks in alle Richtungen spielt, ist schon länger bekannt. Doch sie ist insbesondere in Bezug auf die vor Jahren bereits entwickelte Desinformations-Politik hinsichtlich der Ukraine bemerkenswert. Denn russische Staatsmedien unterminieren auf vielfältigste Weise das Bild "ukrainischer Zustände", auch im antisemitischen Sinne.
So tauchten immer wieder im russischen Fernsehen Informationen über angebliche jüdische Vorfahren der ehemaligen ukrainischen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko und von Ex-Präsident Petro Poroschenko auf. Ganz im Sinne des "Völkischen Beobachters" wurde so eine jüdische Unterwanderung von Wirtschaft und Politik im Nachbarland paraphrasiert. Andernorts, im Donezk etwa, wurde von Maskierten ein antisemitisches Flugblatt verteilt, dass Juden explizit auffordert, sich bei den provisorischen pro-russischen Behörden zu registrieren, sonst drohten der Entzug des Eigentums und Deportation. Von wem das Flugblatt stammt, dem russischen Geheimdienst oder pro-russischen Separatisten, wird sich schwer klären lassen. Und genau dieses Nicht-Wissen ist Putins Trumpf.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | DAS ERBE EINER WELTMACHT - GEOPOLITIK AUF DEN TRÜMMERN DER SOWJETUNION | 23. Februar 2022 | 22:09 Uhr