Menschenrechte und Stalin-Kult in Russland Organisation MEMORIAL: Von der Gründung bis zur Auflösung
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27. Januar 2022, 17:22 Uhr
Memorial International war die größte und älteste unabhängige Menschenrechtsorganisation Russlands. Im Dezember 2021 wurde die Auflösung der Organisation vom Obersten Gerichtshof in Moskau beschlossen. Der Grund: Der Dachverband soll sich nicht an das Gesetz für "ausländische Agenten" gehalten haben. Warum die Auflösung untrennbar mit der Aufarbeitung des SED-Unrechts ist und somit die Aufklärung deutscher Schicksale betrifft, erklären Historiker Prof. Dr. Joachim von Puttkamer und Memorial-Vorständin Dr. Anke Giesen.
Was macht die Organisation Memorial International?
Im Zuge der Perestroika gründete sich 1988 in der Sowjetunion die Organisation Memorial. Die Mitglieder setzten sich für die Aufarbeitung von politischer Verfolgung und Stalin-Terror in der Sowjetunion ein und forderten die Rehabilitierung von Betroffenen. 1993 gründete sich in Berlin der deutsche Zweig der Organisation, deren Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten. Das Ziel von Memorial ist die historische Aufarbeitung der Gewaltherrschaft des Kommunismus, die Aufklärung über die aktuelle Menschenrechtssituation in Russland und die Unterstützung gesellschaftlicher Projekte der Partnerorganisationen in Russland. 2004 erhielt Memorial dafür den Alternativen Nobelpreis.
Warum hat die Organisation Memorial einen "Agentenstatus"?
Russische Organisationen, die politisch aktiv sind und Gelder aus dem Ausland beziehen, werden per Gesetz als "ausländische Agenten" geführt. Seit 2016 muss sich die Menschenrechtsorganisation Memorial International daher offiziell als "ausländischer Agent" bezeichnen und wird auf einer Liste des russischen Justizministeriums geführt. Russland will sich damit gegen die Einmischung anderer Staaten schützen.
Verfahren gegen Memorial: Worum gehts?
Die russischen Behörden wollen eine gerichtliche Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial erzwingen. Offiziell wegen Nichteinhaltung der Regeln für sogenannte "ausländische Agenten". Am 28. Dezember 2021 wird die Auflösung nach einigen Prozesstagen vom Obersten Gerichtshof in Moskau beschlossen.
Als unter Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, 1985 weitreichende Reformen in der Sowjetunion angestoßen wurden, die allgemein unter "Perestroika" und "Glasnost" bekannt sind, gründete sich Memorial. Ursprünglich widmete sich die Organisation der Dokumentation und der Aufarbeitung stalinistischer Gewaltverbrechen und der Geschichte der Gulags in der Sowjetunion. 1993 gründete sich ein Ableger in Deutschland, um Repressionen in der SBZ und der DDR aufzuarbeiten. Heute engagiert sich Memorial International auch für politische Gefangene in Russland und den Schutz von Menschenrechten.
Russland erzwingt Auflösung von Memorial International
Die Arbeit, die international befürwortet und geschätzt wird, stieß in Russland auf Widerstand. Bevor im Dezember 2021 die Auflösung von Memorial vor Gericht angeordnet wurde, erschwerten russische Behörden seit Jahren die Arbeit der unabhängigen Organisation. Seit 2016 musste sich Memorial als "ausländischer Agent" bezeichnen, weil es finanzielle Mittel aus anderen Ländern erhalten hat. Weil sich Memorial nicht an die Kennzeichnungspflicht für solche "ausländischen Agenten" gehalten haben soll, wurde die Auflösung vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau erzwungen. Für Historiker Prof. Dr. von Puttkamer von der Universität Jena ist mehr als deutlich, dass die Klage politisch motiviert war und absichtlich mit fadenscheinigen Argumenten untermauert wurde.
Es soll signalisieren und das sehen auch Vertreter von Memorial selber so: 'Wir können euch schließen und zwar wann wir wollen. Und wir können jede Organisation schließen.' Es braucht gar keinen triftigen juristischen Grund. Diese Willkür soll sichtbar sein.
Prof. Dr. Joachim von Puttkamer Der Historiker studierte osteuropäische Geschichte und Wirtschaftspolitik in Freiburg und London. Er ist Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der Universität Jena und Co-Direktor vom Imre Kertész Kolleg.
Genau gegen diese staatliche Unterdrückung politischer Bewegungen engagiert sich Memorial. Sowohl im Bezug auf die politischen Repressionen in der Sowjetzeit als auch im heutigen Russland. Dr. Anke Giesen ist Vorstandsmitglied der deutschen Zweigstelle, aber auch des internationalen Memorial-Dachverbands, der zur Auflösung gezwungen wurde. Sie bewertet das Handeln der russischen Behörden als Schikane. Für sie sendet die russische Regierung unter Kreml-Chef Wladimir Putin mit der Klage ein klares Signal nach Außen und damit auch nach Deutschland: "Uns ist es jetzt wirklich gleich, was ihr denkt. Wir machen hier in unserem Land, was wir wollen, und wir machen auch die Gesetze, so wie wir sie wollen und legen sie auch so, wie wir sie wollen, aus".
Vergleichbar mit Verbot über Aufklärung von SED-Unrecht
Um die Brisanz des Verfahrens zu verdeutlichen, könnte man die Organisation Memorial mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vergleichen. Memorial macht in Russland in etwa das, wofür die Stiftung hierzulande zuständig ist, nur auf privater Basis. Die Bundesregierung würde in diesem Fall die Aufklärung der durch das DDR-Regime verursachten Verbrechen stoppen und gänzlich verbieten. Es gäbe dann keine Organisation mehr, die sich für die Rehabilitierung und Entschädigungen von Opfern und deren Angehörigen einsetzt. "Das sind genau die Arbeiten, die Memorial aus eigener Kraft in Russland macht", so Prof. Dr. Puttkamer.
Memorial engagiert sich nicht nur für Russen, die Organisation hilft auch bei der Aufklärung der Schicksale zehntausender Deutscher, die in der Sowjetunion in Folge des Zweiten Weltkrieges inhaftiert waren. Außerdem beschäftigt sich Memorial mit den Repressionen gegen Oppositionelle und Dissidenten in der DDR. Deshalb "gibt es da weniger einen Vergleich als einen unmittelbaren direkten Zusammenhang", erklärt Prof. Dr. Puttkamer. Auch aus diesem Grund verurteilen die Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur das Vorgehen der russischen Behörden als fadenscheinig, politisch motviert und haltlos. Die Bundesregierung riefen sie zur Unterstützung der Organisation und deren Mitarbeiter auf.
Memorial hat schon in den letzten Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland auf dem Rückzug ist.
Über Dr. Anke Giesen Dr. Anke Giesen studierte Slavistik in Münster, Moskau und Hamburg und promovierte in Magdeburg im Fach Geschichte. Sie ist Vorstandsmitglied der deutschen und der internationalen Memorial-Organisation. Ihre Schwerpunkt sind die Historische Aufarbeitung und die Erinnerungskultur der Gewaltverbrechen in der Sowjetzeit.
Die erzwungene Auflösung stützt den Eindruck, dass "der Dialog mit Russland eigentlich aussichtslos ist", ordnet Prof. Dr. Puttkamer ein. Memorial gilt als "die Organisation in Russland, um die sich auch die gesellschaftlichen Kräfte gruppieren, die sich als Teil Europas verstehen, weil sie Russland als Teil Europas verstehen wollen und nicht als jemanden, der von außerhalb auf Europa Druck ausübt".
Jetzt, da Memorial zur Auflösung gezwungen wurde, sei es bloß eine Frage der Zeit, bis auch kleinere Organisationen ihre Arbeit wegen eines fehlenden Patrons einstellen müssten: "Ich denke es wird jetzt auf die lange Sicht zu einem Ausbluten kommen, also ein langsames Sterben der regionalen Organisationen", so Dr. Anke Giesen. Die historische Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen in der UdSSR würde zunehmend stillstehen, ebenso die Aufklärung der jüngeren Generationen. Unweigerlich würde das auch den Kult in der Bevökerung um Joseph Stalin, der Millionen Menschen willkürlich hinrichten oder in Arbeitslager verschleppen ließ, verstärken.
Der Sieg im 'Großen Vaterländischen Krieg' ist praktisch ein positiver Identifikationspunkt, auf den sich alle Russen irgendwie einigen könnten. Das ist einfach ein Punkt, der diese Gesellschaft ein Stück zusammenhalten kann. Dieser Umstand wird von der Regierung für den Versuch genutzt, Stalin in seiner Rolle als oberster Feldherr in diesem Krieg gesellschaftlich zu rehabilitieren.
Putins Personenkult und Geschichtsklitterung
Kritische Stimmen beobachten, dass sich in Russland ein Personenkult um Putin entwickelt, ähnlich wie zu Stalin-Zeiten. Auch in Sachen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur habe sich das Land zurückentwickelt, meinen Beobachter. Auch Prof. Dr. Puttkamer analysiert: "Putin ist ganz in alte sowjetische Muster zurückgefallen, dass der Hitler-Stalin-Pakt eine defensive Aktion der Sowjetunion gewesen sei, und dass Polen und Deutschland Schuld am Beginn des Zweiten Weltkriegs haben. Er will also letztlich eine ungebrochen positive Erinnerung an die Sowjetunion und an deren imperiale Größe."
Spätestens seit seinem Aufsatz im Jahr 2020 ist klar, dass der Kreml-Chef Geschichtsklitterung betreibt. Indem er die Mitverantwortung Moskaus am Zweiten Weltkrieg zurückweist, erklärt er die Sowjetunion zum Opfer. Ähnlich ist auch seine Haltung zu Diktator Stalin und den Inhaftierungen im Gulag zu Sowjetzeiten. Eine kritische Auseinandersetzung findet auf staatlicher Seite kaum statt und auf zivilgesellschaftlicher Seite wird sie unterdrückt. Memorial geht anders mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion um. Sie benennt die Täter der Gewaltverbrechen der Sowjetzeit und fordert die Übernahme von Verantwortung seitens des Staates. Putins Geschichtspolitik läuft aber in eine andere Richtung und dabei stört die unbequeme Organisation.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. November 2021 | 11:25 Uhr