Westfront 1914 Als Deutsche und Briten im Ersten Weltkrieg gemeinsam Weihnachten feiern
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von Dr. Daniel Niemetz
24. Dezember 2023, 10:00 Uhr
Weihnachten 1914 stellen Tausende deutsche und britische Soldaten an der Front in Frankreich und Belgien das Kämpfen ein. Sie treffen sich im Niemandsland und feiern mitten im Ersten Weltkrieg das Fest der Liebe - mit Geschenketausch, Weihnachtssingen und sogar Fußballspielen. Besonders viele Akteure des Weihnachtsfriedens kommen aus Sachsen.
Heiligabend 1914, Erster Weltkrieg, deutsche Westfront: Am Ploegsteert-Wald bei St. Yvon, südlich der flandrischen Stadt Mesen, liegt die 2. Kompanie des aus Plauen stammenden Königlich Sächsischen-Infanterie-Regiments Nr. 134 einer britischen Einheit gegenüber. Hinter den Männern von Leutnant Kurt Zehmisch liegen monatelange schwere Kämpfe.
Vom Bewegungs- zum Stellungskrieg
Ihr Regiment hat im Sommer an Maas und Aisne gekämpft und im September an der Marne das Scheitern des deutschen Schlieffenplans miterlebt, der einen schnellen Sieg über Frankreich hätte bringen sollen. Doch stattdessen geht das Kämpfen und Töten in Flandern weiter. Hier mutiert der Bewegungskrieg zum verlustreichen Stellungskrieg. In Schützengräben, die oft weniger als 100 Meter auseinander liegen, versuchen die Gegner vor dem verheerenden Feuer moderner Maschinengewehre und Artillerie Schutz zu finden.
Ende Dezember 1914 sind die Soldaten auf beiden Seiten der Front erschöpft und desillusioniert. Dass der Krieg in kurzer Zeit siegreich beendet wird und sie Weihnachten wieder zu Hause sind, hatten ihnen ihre Regierungen versprochen. Nun sitzen sie in kalten und schlammigen Gräben fest. Hunderttausende ihrer Kameraden sind gefallen. Auch in den Tagen vor Weihnachten gibt es schwere Gefechte. Doch am 24. Dezember herrscht an den meisten Frontabschnitten in Belgien und Frankreich Ruhe.
Waffenruhe am Heiligen Abend
Die 2. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 134 von Leutnant Zehmisch hat am Heiligabend in ihren Stellungen einen Gabentisch mit Lebkuchen und Stollen aufgebaut. Aus der Heimat sind Geschenke und Miniaturweihnachtsbäume an die Front gelangt. Nach dem Gottesdienst befielt Zehmisch, im Zivilleben Studienrat in Plauen, seinen Männern, dass "heute am Heiligen Abend und an den Weihnachtsfeiertagen kein Schuss von unserer Seite abgegeben wird, wenn es zu umgehen ist."
Auch bei den Engländern auf der anderen Seite der Front bleibt es ruhig. Aus ihrem Schützengraben heraus nehmen Zehmisch, der sehr gut Englisch spricht, und einer seiner Soldaten Kontakt zu den Briten auf. Es entwickelt sich "eine ganz spaßige Unterhaltung", wie der deutsche Offizier in seinem Tagebuch festhält. Je zwei Sachsen und zwei Engländer treffen sich im Niemandsland. Es werden Zigaretten und Zigarren getauscht. Alle Soldaten beider Seiten wünschen sich lautstark "A Merry Christmas" und die Sachsen stellen entlang ihres Schützengrabens sogar Kerzen und Tannenbäume auf. Er und die meisten seiner Männer seien die ganze "wundervolle Nacht" wach geblieben, hält der Leutnant aus Plauen ergriffen fest.
"Fraternisierungen" an allen Frontabschnitten
Auch an anderen Abschnitten der Front zwischen Nordsee und Schweizer Grenze spielen sich derartige Szenen ab. Nicht selten beginnen die später von den militärischen Führungsebenen als "Fraternisierungen" gescholtenen Ereignisse des Weihnachtsfriedens (engl. Christmas Truce) mit lokalen Feuerpausen zur Bergung der Gefallenen. Nachdem diese beerdigt sind, kommt man ins Gespräch und hält sogar gemeinsame Gottesdienste ab.
Mancherorts brechen Heiligabend regelrechte "Sängerwettstreite" aus, bei denen sich die Gegner von Schützengraben zu Schützengraben Weihnachtslieder und Hymnen um die Ohren schmettern oder diese sogar gemeinsam intonieren. Erstmals seit Wochen empfinden die Soldaten beim Feiern und gemeinsamen Singen so etwas wie Glücksgefühle.
Ein Soldat des bayerischen 16. Reserve-Infanterie-Regiments schreibt später seinen Eltern über ein Treffen mit britischen Soldaten im Niemandsland: "Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen."
Friseurdienst für Freund und Feind
Die Verbrüderungen setzen sich auch am Ersten Weihnachtsfeiertag fort. Ja, es kommt sogar noch doller! Auf einem gefrorenen Acker vor dem englischen Schützengraben bei Wez Macquart zwischen Lille und Armentières im Norden Frankreichs stellt der britische Soldat Jack Reagan einen Hocker auf und bietet Freund und Feind für ein paar Zigaretten seine Friseurdienste an. Andernorts schneiden sich Deutsche und Briten gegenseitig die Haare. Vielfach wird im Niemandsland gemeinsam musiziert und gesungen. Geschenke werden ausgetauscht, darunter auch so außergewöhnliche Präsente wie zwei Fässer Bier, die sächsische Soldaten den Royal Welsh Fusiliers kredenzen, wofür sie mit Plum Pudding vergütet werden.
Fußballspiele im Niemandsland
Sogar mehrere Fußballspiele zwischen Briten und Deutschen werden im Niemandsland ausgetragen. Leutnant Zehmisch schreibt in sein Tagebuch, dass "ein paar Engländer einen Fußball aus ihrem Graben gebracht [hätten] und ein eifriges Fußballwettspiel begann."
Aus der Gegend um Frelinghien nordöstlich von Armentières berichtet der sächsische Oberleutnant Johannes Niemann von einer Verbrüderung, bei der ein Sachse seine englischen Gegenüber mit der einfachen Logik überzeugte: "We are Saxons, you are Anglosaxons, why should we shoot each other?" [dt.: Wir sind Sachsen, ihr seid Angelsachsen, wieso sollten wir uns gegenseitig erschießen?] Auch hier drängen britische Soldaten auf ein "Football match" mit den Deutschen, wozu vor allem Soldaten aus Leipzig – dort war 1900 der Deutsche Fußball-Bund gegründet worden – sofort bereit gewesen seien. Laut einem später in der englischen "Times" veröffentlichten Brief Niemanns soll das Spiel 3:2 für die Deutschen ausgegangen sein. Dieses legendenumrankte Ereignis gilt bis heute als eines der bekanntesten Symbole des Weihnachtsfriedens.
Tausende Soldaten verbrüdern sich
Wie der Publizist Michael Jürgs in seinem Standardwerk zum Weihnachtsfrieden 1914 "Der kleine Frieden im Großen Krieg" schreibt, beteiligen sich entlang der rund 800 Kilometer langen Westfront Tausende Soldaten beider Seiten an dieser "Friedensbewegung". Die meisten Verbrüderungen finden demnach zwischen Briten und Deutschen statt. Deutlich seltener "fraternisieren" Deutsche mit Franzosen bzw. Belgiern, was vor allem daran liegt, dass bei diesen die Abneigung gegenüber den deutschen Invasoren weitaus größer ist. Unter den deutschen Soldaten, so Jürgs, hätten sich vor allem Sachsen und Bayern am Weihnachtsfrieden beteiligt, während etwa preußische Garderegimenter derartige Aktionen meist abgelehnt hätten.
Die Kommandeure sind verärgert
Dort, wo "Verbrüderungen mit dem Feind" stattfinden, ist das keineswegs allein eine Sache der einfachen Soldaten. Auch die Frontoffiziere machen mit, sehr zum Ärger ihrer Vorgesetzten in den höheren Stäben und Kommandos. Diese fürchten, dass ihre fraternisierenden Soldaten Gefallen am "Frieden im Krieg" finden könnten und womöglich für immer die Lust am Kämpfen und Töten verlieren. Mit der Androhung von Disziplinarstrafen und spontanen Frontbesuchen versuchen die Kommandeure beider Seiten, ihre Truppen wieder in den Kriegsmodus zu bringen. Doch den Fronteinheiten sind ihre manchmal nur 50 Meter entfernt liegenden Gegner mittlerweile auch mental näher als ihre Generale in der Etappe. Um sich keinen Ärger einzuhandeln, wird die befohlene Wiederaufnahme von Kampfhandlungen allenfalls vorgetäuscht, wobei man "Löcher in die Luft" schießt. Mancherorts hält der Weihnachtsfrieden bis Ende Dezember oder noch länger.
Generalstabschef verbietet Treffen mit dem Feind
Als die gegenüber einem britischen Hampshire-Regiment liegenden Sachsen am 30. Dezember von dem Befehl des Chefs des Großen Generalstabs, General Erich von Falkenhayn, erfahren, der weitere Treffen mit dem "Feind" kategorisch verbietet, informieren sie ihre Gegner darüber mit den Worten: "Aber wir werden stets eure Kameraden bleiben. Falls wir gezwungen werden sollten, zu schießen, dann werden wir immer zu hoch schießen." Doch irgendwann geht das große Schießen weiter. Und auch über die Köpfe der Gegner wird irgendwann nicht mehr gezielt. Bis zum Ende des Großen Krieges, wie der Erste Weltkrieg ursprünglich genannt wird, sterben allein an der Westfront fast vier Millionen Soldaten.
Gefreiter Hitler echauffiert
Kurt Zehmisch überlebt den Großen Krieg. Hass für seine Gegner empfindet er nie. Sein Sohn Rudolf erinnert sich später, dass sein Vater niemals von Feinden, sondern stets von Gegnern sprach. Die Erinnerungen an das Wunder vom "kleinen Frieden im Großen Krieg" bleiben bei dem Mann aus Plauen zeitlebens präsent. Einem anderen deutschen Soldaten sind derartige Sentimentalitäten zuwider. Als 1914 auch beim südlich von Ypern liegenden 16. Bayerischen Reserve-Infanterieregiment der Weihnachtsfrieden ausbricht, echauffiert sich der Gefreite Adolf Hitler, es sei auf das schärfste zu missbilligen, dass deutsche und britische Soldaten im Niemandsland miteinander Weihnachtslieder sängen, statt aufeinander zu schießen.
Als der aus dem österreichischen Braunau am Inn stammende "Führer" der Nationalsozialisten 1933 an die Spitze des Deutschen Reiches gespült wird, bricht er sechs Jahre später einen Weltkrieg vom Zaun, der den von 1914 bis 1918 an Zerstörungen und Opferzahlen um ein Vielfaches überbietet. Der Reserve-Offizier Kurt Zehmisch aus Plauen überlebt die Folgen dieses Zweiten Weltkrieges nicht. Er stirbt 1946 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
Dieser Artikel wurde erstmals am 24. Dezember 2020 veröffentlicht.
Literaturhinweise:
- Jürgs, Michael: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914: Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten, München 2003.
- Afflerbach, Holger: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, München 2018.