Oscarverleihung 2023 Vier Oscars, aber wenig authentisch: "Im Westen nichts Neues"
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20. März 2023, 10:11 Uhr
Fehlerhaft, klischeebeladen und wenig authentisch – das Urteil des Militärhistorikers Prof. Sönke Neitzel zum Film "Im Westen nichts Neues" fällt trotz des beachtlichen Erfolges bei der Oscarverleihung 2023 wenig schmeichelhaft aus. Szenen wie die Erschießung von Soldaten wegen Befehlsverweigerung oder der Angriff wenige Minuten vor Beginn des Waffenstillstands entsprächen nicht den historischen Tatsachen. Im Interview mit MDR GESCHICHTE erklärt Neitzel, welche Schwächen die Netflix-Neuverfilmung in seinen Augen offenbart.
Herr Prof. Neitzel, wie beurteilen Sie den Film "Im Westen nichts Neues"?
Ich halte ihn für wenig authentisch. Man kann es ja von zwei Richtungen aus betrachten. Die eine ist: Wie nah ist der Film an der Romanvorlage? Er trägt zwar den Namen des Romans "Im Westen nichts Neues", aber von der Vorlage ist kaum noch etwas zu erkennen. Die zweite Perspektive ist: Wie nah ist der Film an der historischen Realität? Er ist sicherlich mit hohem Aufwand für die Kampfszenen gemacht und dahingehend näher dran als frühere Verfilmungen, weil er die Brutalität des Krieges zeigt. Aber auch da würde ich sagen, arbeitet der Film mehr mit Klischees, als mit dem, was wir als Historiker in mühsamer Forschung eigentlich herausgearbeitet haben.
Was ist aus Ihrer Sicht als Historiker gut gelungen, was weniger?
Fangen wir mal damit an, dass der General zwei Stunden vor Kapitulation noch den Gegenangriff befiehlt. Das ist natürlich eine Karikatur. Es ist die Erzählung von der bösen Generalität und den armen Soldaten, die geopfert werden. Das halte ich schlicht für Unsinn.
Oder erinnern wir uns weiter an die Szene, als einige Soldaten nicht mehr wollen und dann erschossen werden. Da hat der Regisseur, so glaube ich, den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg verwechselt. Also wir wissen, dass im Ersten Weltkrieg nur 48 deutsche Soldaten exekutiert worden sind, im Zweiten Weltkrieg 20.000. Das heißt, im Ersten Weltkrieg hätte es so etwas nicht gegeben.
Dann denken wir daran, dass bei den Franzosen auf einmal Soldaten aus Nordafrika auftauchen. Damit wird eine Diversität vorgegeben, die historisch schlicht falsch ist. Das ist vielleicht ein bisschen en vogue im Moment, aber diese Mischung gab es schlicht und einfach nicht. Die Regimenter mit Marokkanern, Algeriern, Senegalesen sind von französischen weißen Offizieren geführt worden. Ansonsten gab es aber eine klare "Rassentrennung" in der französischen Armee – ich benutze diesen Begriff natürlich in Anführungsstrichen.
Der Film arbeitet gern mit Klischees: Alles, was die Forschung über das Kriegsende, die mangelnde Moral und den Rückzug ab 18. Juni herausgearbeitet hat, kommt da eigentlich nicht vor. Das Stichwort, das mir zu dem Film einfällt, ist die Abstinenz von Ambivalenz. Wir Historiker forschen uns müde und arbeiten immer die Komplexität des Geschehens heraus – aber was am Ende bei solchen Filmen herauskommt, ist schwarz-weiß.
Welche Unterschiede gibt es zwischen den Verfilmungen von "Im Westen nichts Neues" aus den Jahren 1930, 1979 und 2022 hinsichtlich der Authentizität?
Die allererste Verfilmung von "Im Westen nichts Neues" ist viel näher am Roman. Damit wird viel von der Erzählung vermittelt, auf die es Erich Maria Remarque ankam. In der neuesten Verfilmung von Netflix wird die Gewalt stärker gezeigt. Wir sind eben mehr Gewalt durch Computerspiele und moderne Filme gewohnt. Der Krieg wird unmittelbarer dargestellt. Das kann auch ein Vorteil sein, weil das Sterben nicht wegdekliniert wird. Man will moralisch richtig argumentieren: Da ist zum Beispiel der Soldat, der geopfert wird. Das stimmt ja auch! Aber es ist auch wieder eine Verkürzung, denn viele Soldaten des Kaiserreichs waren eben auch überzeugt, für Gott und Vaterland zu kämpfen. Das wurden am Ende natürlich immer weniger, aber dieser Prozess, wie sich die Einstellungen wandeln, der wird gar nicht dargestellt oder nur angedeutet.
Es scheint mir typisch für solche Kriegsfilme und da kann man sich den Mund fusselig reden – die Macher glauben fest daran, dass der Zuschauer diese einfachen Bilder brauchen würde. Ich würde immer dagegen argumentieren. Denn die Zuschauer, die sich so einen Film ansehen, interessieren sich in der Regel für Geschichte und haben ein gewisses Vorwissen – man sollte die Zuschauer nicht unterschätzen. Und diejenigen, die diesen neuesten Film entworfen haben, haben den Zuschauer meines Erachtens dramatisch unterschätzt.
Die Filmemacher müssten sich viel mehr damit beschäftigen, wer solche Filme guckt. Das sind bei Kriegsfilmen in der Regel Männer. Man weiß auch, dass das in der Regel Leute sind, die grob wissen, dass der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 dauerte. Und auch, dass zu einem guten Film, auch bei Netflix zum Beispiel, Differenzierung gehört, also keine Schwarz-Weiß-Malerei. Die Kriegsfilme, die jetzt hochgelobt werden, haben das in der Regel. Ich denke da an Clint Eastwoods "Letters from Iwojima". Der Film nutzt eben Briefe von japanischen Soldaten als Quelle. Die Japaner werden dabei relativ authentisch dargestellt, mit allen ihren Zweifeln und der japanischen Militärkultur. An einem solchen Anspruch scheitert die Neuverfilmung von "Im Westen nichts Neues" grandios.
Wie sehen Sie die Kampfszenen, die oft vom Publikum gelobt werden? Mir persönlich kommt diese rasche Abfolge von Angriffen verschiedener Waffengattungen hintereinander etwas unglaubwürdig vor: Infanterie, Panzer, Flammenwerfer stakkatoartig…
Ich sage das jetzt ein bisschen bösartig: So stellt sich ein Ungedienter den Krieg vor. Da hätte man sich sicherlich mehr militärischen Rat einholen müssen – und sich auch fragen müssen: Was will ich eigentlich inszenieren? Den Panzer und die Angst vor den Panzern oder eben die übertriebene Zahl an Flammenwerfern? Vielleicht wäre es da hilfreich gewesen, sich ein historisches Vorbild zu nehmen und zu zeigen, wie so ein Panzerangriff abgelaufen ist. Es gab Flammenwerfer, es gab Infanterie, es gab Maschinengewehre und so weiter. Aber die Komposition, die sie in diesem Film daraus machen, finde ich ziemlich schwach. Da hätten die Filmleute sich einfach mehr bemühen und fragen müssen, was sagen denn Militärhistoriker zu diesen Dingen – wie ist was abgelaufen?
Werden Historiker bei Filmproduktionen zur Unterstützung herangezogen?
Jede Filmproduktion ist da ein wenig anders. Die entscheidende Frage ist immer: Wann werden Historiker herangezogen? Werden sie schon bei der Entwicklung des Drehbuchs herangezogen oder werden sie erst herangezogen, wenn der Film eigentlich fertig ist und man sich nur mit dem Namen schmücken will. Das hängt sehr von den Drehbuchautoren und vom Regisseur ab. Es gibt historische Produktionen mit Historikern am Set. Aber das kann man nicht verallgemeinern.
Insgesamt zieht man Historiker eher zu Rate, um Details zu klären. Die Fragen sind dann beispielsweise: Welche Uniformen trugen die Soldaten, wie sahen die Frisuren aus? Da ist man bei Filmproduktionen oft sehr, sehr genau. Bei der an sich viel wichtigeren Entwicklung des Scripts zieht man allerdings meines Erachtens Historiker viel zu wenig hinzu. Da gibt es so einen Satz aus der Szene: Man braucht sie am Anfang, man braucht sie am Ende, aber in der Zeit dazwischen, wenn man das eigene Narrativ entwickelt, sollte man sie eigentlich ein bisschen zur Seite schieben.
Wie viel Wissenschaft verträgt ein Film?
Das ist ein häufiges Argument der Filmschaffenden: Die Historiker haben eine Fachkompetenz, aber sie haben keine Darstellungskompetenz. Das stimmt schon. Manche Historiker sehen sich ja als den zweite Steven Spielberg und würden am liebsten mit Regisseur-Schal auf dem Set herumlaufen. Das muss man schon sagen. Auf der anderen Seite muss man aber sagen, dass die meisten historischen Produktionen aus meiner Sicht das Potenzial, das es gibt, nicht ausschöpfen, weil sie sich zu wenig mit dem Inhalt beschäftigen. Ich glaube, Filme könnten mehr historische Authentizität vertragen. Es gibt unglaublich filmreife Geschichten, die dokumentiert sind. Die sind authentisch. Wenn man die mal in Anlehnung an das Historische erzählen würde, hätte man ein viel überzeugenderes Narrativ, als wenn sich der geschichtsunkundige Drehbuchautor irgendetwas ausdenkt, wie der Erste Weltkrieg hätte sein können. Das merkt man sofort.
Es gibt eine reservierte Haltung auf beiden Seiten, bei den Filmschaffenden, aber auch bei meiner Zunft. Das ist eigentlich schade, weil beide Seiten ein Interesse haben, stärker zusammenzuarbeiten. Das würde Filmproduktionen authentischer und erzählerisch überzeugender machen.
Wie beeinflussen solche Filme wie "Im Westen nichts Neues" das Geschichtsbild der Öffentlichkeit?
Es ist völlig unklar, wie diese Filme das Geschichtsbild beeinflussen. Wenn sich Historiker aufregen und sagen, um Gottes willen, dieses oder jenes wurde falsch dargestellt, dann muss man sagen: Regt euch wieder ab, denn natürlich geht keiner aus dem Kino raus und sagt, so war das Erste Weltkrieg, bis auf ganz einfach gestrickte Gestalten vielleicht. Ich glaube, wie das Geschichtsbild in unseren Köpfen entsteht, ist ein ganz komplexer Prozess, von der Kindheit begonnen, mit dem, was wir gelesen und gehört haben, was Eltern und Freunde erzählt haben. Da wirkt das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft auf einen, aber auch ganz viele andere Einflüsse. Es geht auch um Identitäten, die sich im Laufe des Lebens auch verändern können. Diese Sachen sind nicht genau nachzuvollziehen und ich kenne keinen Medienwissenschaftler, der das mal untersucht hätte. Ich würde einen einzelnen Film aber nicht überschätzen und relativ relaxed sagen: Es ist eben nur ein Film.
Kann man wenigstens sagen, dass solche Filme helfen, Geschichte zu popularisieren und den Zugang zum Wissen zu demokratisieren?
Nein. Was in diesem Netflix-Film "Im Westen nichts Neues" an Geschichtswissen drinsteckt, können Sie auf maximal einer halben Seite aufschreiben. Das kriegt jeder schon mit, wenn er einen Wikipedia-Artikel liest. Es ist eher so, dass man mal mit dem Thema Erster Weltkrieg in Verbindung kommt. Aber das Transportieren von Argumenten, die die Forschung herausarbeitet, zum Beispiel die Moral der deutschen Soldaten am Ende des Ersten Weltkrieges, das findet hier nicht statt. Das ist aber auch nicht die primäre Aufgabe von Spielfilmen. Hier geht es eher darum, Interesse zu wecken, statt auf Grundlage der Forschung argumentieren.
Zur Person Prof. Sönke Neitzel ist einer der führenden deutschen Militärhistoriker. Seit 2015 ist er Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam. Von 2011 bis 2012 war er Professor für Modern History an der University of Glasgow und von 2012 bis 2015 für International History an der London School of Economics.
In welchen Kategorien erhielt "Im Westen nichts Neues" den Oscar?
Der Film "Im Westen nichts Neues" erhielt in vier Kategorien den Oscar:
- Bester internationaler Film
- Bestes Szenenbild
- Beste Filmmusik
- Beste Kamera
Das Interview wurde im November 2022 erstmalig veröffentlicht und im März 2023 um zusätzliche Informationen ergänzt.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Brisant | 13. März 2023 | 18:10 Uhr