Kriegsende in Mitteldeutschland Friedensweihnacht 1945: Kälte, Hunger und Sehnsucht nach den Liebsten
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"Ob die Leute gefeiert haben? Pustekuchen!"
30. November 2021, 10:40 Uhr
Die erste Friedensweihnacht ist ein besonderes Fest. So ist es nicht nur die Erste nach Kriegsende, sondern auch eine ohne die geliebten Brüder, Väter und Ehemänner. Viele Frauen waren im Krieg Witwen geworden, viele Kinder Waisen. Andere wiederum warten sehnsüchtig auf einen Brief aus der Kriegsgefangenschaft oder auf ein Lebenszeichen der Vermissten. Diese Weihnacht ist im Schein der hellen Kerzen in den meisten Häusern still. Aus dem Fest der Familie wird das Fest der Sehnsucht.
Das erste Weihnachtsfest seit Langem, an dem die Fenster nicht verdunkelt sind. Die Menschen fürchten sich nicht mehr vor Fliegeralarm und Bombenangriffen. Aus den Häusern scheint schwaches Licht, es kehrt Ruhe ein. Doch von Glückseligkeit ist man weit entfernt.
Ein Schatten überm Weihnachtsfest 1945
Anneliese Frenzel aus Thüringen ist zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt. Im Dezember 1945 sitzt sie vor der offenen Kachelofentür und strickt Kniestrümpfe aus alten, aufgetrennten Sachen. "Mit kleinen Mustern" hat sie die Socken versehen, damit sie "wenigstens etwas nett aussahen". Die Erinnerungen der 93-Jährigen an diese Zeit sind dunkel. Aber nicht, weil sie ihr fehlen, sondern weil sie überschattet sind. Die alltäglichen Probleme wie Hunger oder Krätze trüben die Vorfreude auf das friedliche Fest.
Diese Zeit war schrecklich. Die Probleme waren unfassbar schwierig. Es kam kein Arzt, wenn du krank warst. Es gab kein Benzin, kein Essen, keinen Strom. Da kamen keine festlichen Gedanken auf. Weihnachten ist untergegangen. Jeden Tag war ich damit beschäftigt, mich zu fragen: Was sollen wir essen?
Aufgrund der großen Versorgungsnot entwickeln sich in den Städten Schwarzmärkte. "Die Menschen haben entsetzlich gehungert. Es sind viele Kinder gestorben. Nur wer Geld oder Ware zum Tauschen hatte, konnte gut leben", erinnert sich Frenzel.
Falsche Leberwurst am Heiligabend
Die Versorgungskrise wird von 14 Millionen Flüchtlingen aus deutschen Ostgebieten verschärft. Dörfer und Städte sind mit der Situation überfordert. "In unserem Haus lebten damals 15 Menschen. Zwei Flüchtlingsfamilien und wir" erinnert sich Anneliese Frenzel.
Jeder hat ein bisschen Fett von seinen Lebensmittelmarken dazugegeben. Dann haben wir aus Wasser, Mehl, Salz und Majoran falsche Leberwurst gekocht und aufs Brot geschmiert. Da war keine Weihnachtsstimmung. Es war unwirklich. Irgendwie schwebte man nur so durch diese Zeit.
Es war eine ärmliche Heilige Nacht. Doch was Anneliese Frenzel als bescheiden bezeichnet, ist für Christel Beythan das größte Geschenk. Erst kurz vor dem 24. Dezember 1945 erhält sie ein richtiges Dach über dem Kopf. Wie etwa 80 Prozent aller Heimatvertriebenen in der sowjetischen Besatzungszone kommt sie in einer ländlichen Gegend in Thüringen zur Ruhe.
Weihnachten 1945: Zwischen Fremde und Frieden
Die Weihnachtszeit ist eine schwere Zeit für die damals dreizehnjährige Christel Beythan. Gemeinsam mit der Mutter und der jüngeren Schwester flüchtet sie aus Neustettin in Hinterpommern nach Thüringen. An den Füßen tragen sie Holzpantoffeln. Die Schuhe wurden ihnen bei der Flucht abgenommen. Sie besitzen nicht viel – nur das, was in ihre kleinen Koffer passt. Bevor sie Ende November auf die umliegenden Dörfer verteilt werden, lebten sie in einem Vertriebenenlager in Quarantäne.
Wir sind erst im Oktober nach Thüringen gekommen und da waren wir froh, dass wir erstmal eine Unterkunft bekommen haben. Wir mussten uns eingewöhnen und haben nicht groß gefeiert. Es gab kaum etwas zu essen. Heiligabend hatten wir Pellkartoffeln mit Schale.
Die kleine Familie wird in einem Wirtshaus aufgenommen. Und auch wenn sie nun eigene Räume haben, bleibt die Festtagsfreude aus. Die drei Frauen vermissen Vater und Bruder, die im Krieg gefallen sind.
Für uns war es kein Weihnachten. Wir mussten uns erstmal einrichten, da wo sie uns hingebracht haben. Es war kein richtiges Weihnachten, nein. Ich habe mich nach meinen Geschwistern gesehnt.
Auch wenn sie kaum schöne Erinnerungen an die erste Friedensweihnacht hat, so resümiert Christel Beythan doch mit einer spürbaren Dankbarkeit: "Weihnachtsgeschenke gab es keine, aber die Familie Müller hat uns Blechkuchen gebracht. Sie waren gut zu uns".
Oh, du Fröhliche: Tränen unterm Tannenbaum
Am gleichen Tag, Tausende Kilometer östlich: Soldat Wolfgang Stadler feiert Heiligabend im sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Asbest. Die altbekannten Weihnachtslieder singt er eingesperrt und von Stacheldraht umzäunt. Der Kummer darüber, dass er nicht weiß, ob er seine Heimat je wiedersehen wird, quält ihn.
Jeder hat seinen Weihnachtstraum geträumt, wie es nun zu Hause sein würde. Wir träumten uns in die Zeit zurück, in der noch kein Krieg war. Wo die Weihnacht noch ein schönes familiäres Fest war. Aber dass das gegenwärtig nicht mehr war, das verdrängten wir. Das wollten wir nicht wahrhaben.
Der Verdruss der Männer zieht sich durch den Abend, begleitet von musikalischen Einlagen der Kulturgruppe. Stadler, der in Sachsen geboren wurde, erinnert sich an die erdrückende Schwere, die an diesem Heiligen Abend im Raum hing:
Jeder wollte für sich allein feiern. Der eine zog seine Jacke über die Ohren und heulte wie ein Schlosshund. Der andere machte es ganz still und dachte nach: 'Was könnte denn jetzt zu Hause sein? Jeder musste mit sich selber fertig werden.
Über drei Millionen Soldaten befinden sich in sowjetischer Gefangenschaft, leiden unter Zwangsarbeit, Hunger, Kälte und Krankheit. Der Großteil der Männer feiert nicht nur die Friedensweihnacht 1945 in den Lagern, sondern noch viele weitere Feste in Folge. Die letzten Gefangenen kehren erst nach zehn Jahre heim, über eine Million Männer nie.
Auch wenn es die erste Weihnacht nach Kriegsende war, erleben die wenigsten Deutschen ein frohes Fest. "Ob die Leute gefeiert haben?", fragt Anneliese Frenzel und antwortet "Pustekuchen! Es gab doch nichts zu feiern" und ist mit Beythan und Stadler im Einklang. Die landesweite Mischung aus Trauer, Hunger und Armut überschattet den Geist der Weihnacht. Die Illusion, dass es ein Fest der Freude ist, zerbricht. Vielleicht erhofften sich die Menschen mehr vom Frieden als bloß das Ende vom Krieg. Womöglich verstanden sie erst zu Weihnachten, dass es lange dauern wird, bis Normalität einkehrt. Und vielleicht begreifen sie, dass es bloß das Erste von vielen Festen ist, welches sie ohne ihre geliebten Gefallenen feiern müssen.