Zweiter Weltkrieg Flak-Hölle Mitteldeutschland – Flugabwehr im Bombenkrieg
Hauptinhalt
24. November 2024, 05:00 Uhr
Vor 80 Jahren tobt über Deutschland ein erbarmungsloser Bombenkrieg. Über Merseburg, Leuna, Zeitz und anderen Orten der Chemieregion Halle-Leipzig geht es um die deutsche Treibstoff-Versorgung. 1.100 schwere Flugabwehrkanonen des Mitteldeutschen Flakgürtels sollen sie schützen. Für die alliierten Bomber-Crews werden sie und andere Flugabwehr-Hochburgen im Deutschen Reich zur Flak-Hölle.
Gerade drei Monate Kampfeinsätze und 20 Feindflüge hat Joe Williams auf dem Konto, als sein schwerer Lancaster-Bomber am 5. März 1945 bei einem Angriff auf Chemnitz abgeschossen wird. 40 Jahre später bringt der ehemalige Bordschütze beim Bomber Command der Royal Air Force seine Kriegserinnerungen zu Papier. Sie lesen sich teils wie Reiseberichte aus der Hölle. Und sie spiegeln den enormen Respekt des englischen Bombenfliegers vor der todbringenden deutschen Flakartillerie wider.
Tausende Flak-Explosionen
"Die Flak war heftig", schreibt Williams etwa über einen Angriff auf Gelsenkirchen am Weihnachtstag 1944. "Über dem Zielgebiet zerplatzte eine Lancaster direkt hinter uns nach einem Treffer in den Bombenschacht. Zeitgleich wurde einer unserer Motoren durch die Flak getroffen und fing Feuer." Und über einen Tagangriff auf Köln am 2. März 1945 berichtet Williams: "Über dem Ziel galt mein erster Blick den tausenden Flak-Explosionen, nicht als bedrohliche Lichtblitze wie wir sie aus der Nacht kannten, sondern als schwarze Rauchpilze, die kontinuierlich am Himmel hingen. Ein gewaltiger schwarzer Vorhang inmitten der Flak-Explosionen markierte jenen Ort am Himmel, an dem eine Lancaster, getroffen im Bombenschacht, zerplatzt war."
Respekt vor schwerer Flak
Es sind die modernen schweren deutschen Flugabwehrkanonen (Flak) der Kaliber 8,8, 10,5 und 12,8 Zentimeter (cm), die den Besatzungen der alliierten Langstreckenbomber gehörigen Respekt einflößen. Die schweren Flakgeschütze erreichen Schusshöhen von knapp 11 bis 15 Kilometern. Weder die Avro Lancaster der Briten (Dienstgipfelhöhe 7.470 Meter) noch die Boeing B-17 und B-24 der US-Amerikaner (Dienstgipfelhöhen bis 10.680 Meter) sind vor ihnen sicher. Obwohl die deutschen Jagdflugzeuge die größere Gefahr sind, ist die psychologische Wirkung der Flak auf die Bombercrews nachhaltiger. Gegen die Jäger können sie sich mit Bordwaffen wehren oder hoffen, dass ihre Begleitjäger den Job erledigen. Der Flak hingegen sind sie hilflos ausgeliefert. Der reine Zufall entscheidet, ob sie getroffen werden oder nicht.
Im Sperrfeuer versagen die Nerven
Vor allem in Gebieten mit hoher Flak-Konzentration und Sperrfeuer steigt das Abschussrisiko. Haben Zielerfassung und Flak-Bedienmannschaften gut gearbeitet, dann lassen Zeitzünder die neun bis 26 Kilogramm schweren Granaten genau auf Höhe und Kurs der Bomberpulks detonieren. Zwischen sieben und 20 Kilo Splitter setzt jede Granate frei. Treffen sie ein Flugzeug im Umkreis von zehn Metern, führt das zum Absturz. Aus größeren Entfernungen sind immer noch Beschädigungen möglich. Die extreme Anspannung im Flakfeuer sorgt bei alliierten Bomberbesatzungen für eine Nervenstörung, die als "Flak Happiness" bezeichnet wird.
Brennende Flugzeuge am Himmel
Joe Williams erinnert sich später an einen Angriff auf das von hunderten Flugabwehrkanonen schwer verteidigte Industrierevier an Rhein und Ruhr, das unter den Piloten des Bomber Command auch als "Happy Valley" bekannt gewesen sei: "Über dem Zielobjekt lag ein gewaltiges Sperrfeuer der Flak. Es war das Ziel, bei dem ich mich an etliche brennende Flugzeuge am Himmel erinnere. Einige explodierten und fielen als tausende lodernde Stücke zu Boden. Die Nachtjäger waren auch unter den Bombern. Lädiert ergriffen wir die Flucht."
Schutz mitteldeutscher Hydrierwerke
Neben dem Ruhrgebiet mit seinen kriegswichtigen Rüstungsschmieden und der Reichshauptstadt Berlin erfährt seit 1944 vor allem die mitteldeutsche Chemieregion um die Großstädte Halle und Leipzig einen massiven Ausbau seiner Flak-Verteidigung. Hier stehen die großen Hydrierwerke von Leuna, Lützkendorf, Böhlen und Tröglitz bei Zeitz, in denen Braunkohle zu Benzin verflüssigt wird. Sie sind für die Treibstoffversorgung der deutschen Kriegsmaschinerie von elementarer Bedeutung. Als am 12. Mai 1944 die 8. US Air Force (Luftflotte) im Zuge ihrer "Treibstoff-Offensive" erstmals die mitteldeutschen Hydrierwerke angreift, kommt es zu Produktionsausfällen zwischen 50 und 100 Prozent. Die monatliche Gesamtproduktion an Benzin sinkt von 250.000 auf 107.000 Tonnen.
Flakgürtel mit 1.100 schweren Geschützen
In der Folge wird der Mitteldeutsche Flakgürtel, der sich in einem Bogen von Halle über Merseburg, Leuna und Zeitz bis in den Südraum von Leipzig zieht, massiv verstärkt. Von den mehr als 13.000 schweren Flakgeschützen der deutschen Luftwaffe im Herbst 1944 entfallen gut 1.100 auf die Flakbatterien des Mitteldeutschen Flakgürtels. Hinzu kommen hunderte leichte und mittlere Flugabwehrkanonen zur Verteidigung gegen Tiefflieger. Fast 500 der schweren Flakgeschütze der Kaliber 8,8-cm, 10,5-cm und 12,8-cm stehen im November 1944 im Raum Leuna-Lützkendorf. Die hohe Konzentration an schweren Flakbatterien und deren Zusammenfassung zu Großbatterien mit zentraler Feuerleitung sind extrem wirksam. Ihre überlappenden Schussfelder bieten keine Lücken.
Mehr als die Hälfte der Bomber beschädigt
Die alliierten Bomber-Besatzungen fürchten das massive Flakfeuer, dem sie nicht ausweichen können. Als die 8. US Air Force am 20. Juni 1944 die Hydrierwerke in Mittel- und Norddeutschland angreift, werden 830 der eingesetzten 1.400 schweren Bomber beschädigt und 50 abgeschossen. Die meisten Totalverluste sind auf Jagdflugzeuge zurückzuführen. Die Masse der Beschädigungen geht jedoch auf das Konto der Flak. Einer Statistik zufolge werden seit 1942 ein Viertel aller US-Bomber über Deutschland durch Flak beschädigt und ein Drittel aller Totalverluste durch Flak herbeigeführt. Im Bereich des Mitteldeutschen Flakgürtels mit seiner massiven Konzentration schwerer Flakgeschütze sollen zwischen 1942 und 1945 sogar genauso viele Feindbomber durch Flak wie durch Jagdflugzeuge abgeschossen worden sein.
Ursache für Fehlwürfe und Ausweichmanöver
Während allerdings ein Jäger für den Abschuss eines Bombers lediglich ein paar Geschossgarben benötigt, braucht die schwere Flak dafür bis zu 4.000 Granaten. Wegen des hohen Material- und Personalaufwands bewertet die Luftwaffe die Effektivität der Flak zunehmend kritisch.
Die Gegenseite sieht das anders. Laut dem US-Befehlshaber der Strategischen Bomberflotten in Europa 1944, Carl Spaatz, gehen über 60 Prozent der Bombenfehlwürfe seiner Crews auf die indirekte Wirkung der Flak zurück, davon zwei Drittel auf reinen Nervenstress. Tatsächlich liegen die Stärken der Flak vor allem darin, die Feindbomber zu beschädigen, zu zerstreuen, in die Höhe zu drücken, am gezielten Bombenabwurf zu hindern oder zum vorzeitigen Abwurf zu zwingen. Spaatz kritisiert zudem, dass Bomberpiloten immer wieder versuchen, dem Flakfeuer durch Zick-Zack-Manöver auszuweichen, was ihre Flugzeit im Sperrfeuer jedoch verlängert.
"Flak Hell Leuna" und "Murderburg"
Mit den größten Respekt haben die alliierten Bomberbesatzungen ab 1944 vor den massiven Flak-Konzentrationen im Raum Merseburg-Leuna. Namen wie "Flak Hell Leuna" (Flakhölle Leuna) oder "Mercilessburg" (Gnadenlosburg) und "Murderburg" (Mordburg) für Merseburg legen Zeugnis ab. Wie traumatisch die Erfahrungen sind, beschreibt ein später in der Mitteldeutschen Zeitung zitierter Bericht eines alliierten Bombenfliegers: "Wenn ich tausend Jahre alt würde, könnte ich nie vergessen, was ich heute erlebt habe. Merseburg. Ich hatte noch nie ein so fürchterliches Erlebnis. Flak, sehr, sehr schwer und sehr, sehr genau für 25 Minuten. Ein schrecklicher Anblick, eine massive Wand. Der Himmel war schwarz. So als könnte nichts durchscheinen. 22 Flaklöcher in unserem Flugzeug. Wir konnten der Flak nicht ausweichen – sie war überall. Wenn es wieder wie heute wird, würde ich mich lieber erschießen als zurückzukehren. Von nun an fliege ich, weil ich muss, nicht weil ich will."
35 Luftangriffe auf Leuna und Lützkendorf
Ob der namentlich nicht genannte Zeitzeuge die Flakhölle von Merseburg-Leuna nochmals durchfliegen musste, ist nicht bekannt. Tausenden alliierten Bombenfliegern bleibt dies nicht erspart. Allein in der "Battle of Leuna" werden bis zum 5. April 1945 in 18 Nacht- und drei Tagangriffen fast 18.000 Tonnen Bomben auf die Leuna-Werke abgeworfen. Bei 14 Luftangriffen auf das Mineralölwerk Lützkendorf werden bis zum 8. April 5.500 Tonnen Bomben abgekippt. Hunderte Menschen am Boden sterben bei den Angriffen. Außer den beiden Industrieanlagen werden auch hunderte Wohnungen zerstört. Eine unbekannte Zahl alliierter Bombenflieger wird bei Angriffen im Mitteldeutschen Flakgürtel getötet oder verwundet. Die Zahl dürfte ebenfalls in die Hunderte, wenn nicht sogar in die Tausende gehen.
Abschuss nach drei Monaten Fronteinsätzen
Der britische Lancaster-Bordschütze Joe Williams muss in dem Vierteljahr seines Fronteinsatzes nur einmal nach Merseburg-Leuna fliegen. Ein Nachtflug am 6. Dezember 1944 verläuft ohne Zwischenfälle. Bei einem weiteren Angriff seiner Staffel auf Merseburg-Leuna am 14. Januar 1945, an dem Williams selbst nicht teilnimmt, wird ein Lancaster-Bomber abgeschossen. Fünf Besatzungsmitglieder sterben, zwei gehen in Gefangenschaft. Williams und seine Crew erwischt es am 5. März 1945 bei Chemnitz. Es ist aber nicht die Flak, sondern ein Nachtjäger mit "Schräger Musik", der ihre Lancaster vom Himmel holt. Doch das ist schon der Stoff für eine ganz andere Geschichte.
Vielen Dank an Herrn Frieder Wittmann aus Meuselwitz für das Material von Joe Williams und damit die Anregung zu diesem Artikel.
Quellen und Literatur
- Boog, Horst: Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung 1943-1944. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 7. Das Deutsche Reich in der Defensive. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart München 2001, S. 3-415, bes. S. 190-208 u. S. 281-288.
- Dünschel, Diana: "Wie der Eingang zur Hölle": Warum rund um den Geiseltalsee alte Flakgeschütze stehen. Mitteldeutsche Zeitung, 25. August 2019.
- Möller, Jürgen: Flak im Endkampf. Leuna 1945. Die Besetzung des mitteldeutschen Chemiezentrums Schkopau – Merseburg – Leuna durch das V. US Corps im April 1945, Bad Langensalza 2013, S. 11-37.
- Williams, Joe: A Timely Reminder. No turning back. Death of a warbird, sequel (unveröffentlichte Kriegserinnerungen).
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung, MDR DOK, Film von Sergei Loznitsa | 01. September 2024 | 23:05 Uhr