Nachkriegszeit in Ostpreußen Wie aus Königsberg Kaliningrad wurde
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06. Oktober 2022, 13:17 Uhr
Am 8. Mai 1945 kapitulierte Hitler-Deutschland vor der alliierten Übermacht. Doch während zwischen Rhein und Oder allmählich der Wiederaufbau und ein friedliches Leben nach dem Krieg beginnen, gibt es für die Deutschen im sowjetisch besetzten Ostpreußen keine Zukunft. Ursula Klein, Jahrgang 1940, hat die Nachkriegsjahre in der Provinzhauptstadt Königsberg erlebt, die 1946 in Kaliningrad umbenannt wurde.
Königsberg im Herbst 1945. Seit Monaten hat hier die Rote Armee das Sagen. Von ehemals über 300.000 Deutschen leben noch knapp 45.000 in der Stadt und sie dürfen sie nicht verlassen. Sie leben in Kellern und auf der Straße, kämpfen gegen Typhus und Hunger. Wer noch die Kraft hat, sucht in den Ruinen nach Essbarem. So auch die fünfjährige Ursula Gerlach (heute Gerlach) mit ihren Geschwistern.
Wir waren nicht mehr diese kleinen Kinder. Das Leben hatte uns schon so geschliffen, dass wir eigentlich nur noch darauf aus waren, was zu essen zu bekommen. Und derjenige, der uns das Essen nicht gab oder nicht geben wollte, der war unser größter Feind.
Der erste Nachkriegswinter - Warten aufs Sterben
Als Kinder haben die Gerlach-Geschwister kein Anrecht auf eine Brotkarte und die Rationen der Mutter reichen längst nicht aus. Um zu überleben, klauen sie Kohle und sammeln Brennholz.
Eines Tages zieht sie der Gesang von Rotarmisten an, die auf einer Straße ausgelassen feiern. Die Kinder singen und tanzen mit den Soldaten und zur Belohnung bekommen sie Wurst und Brot.
Ungefähr die Hälfte haben wir mitgenommen zur Mutti. Die hat sich natürlich gefreut. Die Russen waren uns Kindern gegenüber sehr freundlich.
Im ersten Nachkriegswinter wird die Lage der Deutschen immer schwieriger. Königsberg und ein Teil Ostpreußens gehören jetzt zur UdSSR. Sowjetische Neusiedler kommen in die Stadt. Viele Deutsche müssen hungern – so auch die Gerlachs. Die Kinder finden auf ihren Streifzügen immer weniger Essbares und die Mutter kann wegen einer Beinverletzung nicht mehr arbeiten.
Da hat die Mutti dann gesagt: Kinder, jetzt machen wir es genau wie die anderen auch: 'Wir legen uns ganz einfach hin und warten, dass wir sterben.'
Die Geschwister aber wachen immer wieder auf. Schließlich hält es Ursulas Bruder nicht mehr unter der Decke. Er geht zum Bett der Mutter, fordert sie zum Aufstehen auf.
Und da kam ein ganz leises, wimmerndes Weinen von der Mutti, und sie hat gesagt: Ach, Kinder... es ist so gut, dass es euch gibt. Beinahe hätte ich eine große Sünde begangen. Ich habe euch das Leben gegeben und ich darf es euch nicht nehmen.
Gefährliche Schwarzfahrt
1946 erhält Königsberg den Namen Kaliningrad. Ungefähr zu dieser Zeit erfahren die Gerlach-Kinder, dass es in Litauen Arbeit und Essen geben soll. Doch die Stadt zu verlassen, ist nach wie vor verboten. Das geht nur heimlich auf dem Trittbrett eines Güterzugs. Nach der gefährlichen Schwarzfahrt in Litauen angekommen, ziehen die Kinder von Ort zu Ort, betteln und arbeiten, bis die Rucksäcke gefüllt sind. Dann geht es zurück nach Königsberg/Kaliningrad. Auf diese Weise sichern die Kinder das Überleben ihrer Familie.
Aussiedlung aus Kaliningrad
Als sie im November 1947 wieder von einer Litauen-Tour nach Hause kommen, erleben Ursula und ihre Geschwister eine Überraschung.
Als wir dann in die Wohnung rein kamen, dann nahm uns unsere Mutti in die Arme und hat gesagt: 'Ach, ihr Kinder, ich hab ja so gebetet, dass ihr noch rechtzeitig kommt... Stellt euch doch bloß mal vor, welches Glück: Wir haben heute die Ausreisegenehmigung für morgen früh um sechs Uhr bekommen. Wenn ihr jetzt nicht gekommen wärt, dann hätte ich nicht fahren können.'
Mehr als zwei Jahre nach Kriegsende hat Stalin die Aussiedlung aller Deutschen aus dem Kaliningrader Gebiet angeordnet. Am 27. November 1947 besteigt Ursula Gerlach mit ihrer Familie einen Zug in Richtung Deutschland – diesmal ganz legal.
Warum gehört Kaliningrad zu Russland?
Königsberg wird im Jahr 1255 erstmals urkundlich erwähnt. Im Lauf der Jahrhunderte gehört sie zum Deutschordensstaat, danach zum Herzogtum Preußen und später zum Königreich Preußen. 1871 wird sie zur nordöstlichsten Großstadt im neu gegründeten Deutschen Reich und gehört bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zu Deutschland. Nach der Schlacht um Königsberg ergeben sich am 9. April 1945 die deutschen Truppen der Roten Armee. Im Dezember 1945 leben noch etwa 20.000 Menschen in der schwer zerstörten Stadt. 1946 wird sie offiziell Teil der Sowjetunion und – nach dem sowjetischen Politiker Michail Kalinin – in Kaliningrad umbenannt. Die noch verbleibende deutsche Bevölkerung wird ausgesiedelt. Nach dem Ende der Sowjetunion wird das Gebiet um die Stadt zu einer russischen Exklave, also einem Territorium, das vom Mutterland durch das Gebiet anderer Staaten abgetrennt ist. Heute hat die Stadt etwa 430.000 Einwohner.
Warum bleibt Kaliningrad für Russland bedeutend?
Aufgrund der geographischen kommt Kaliningrad eine besondere militärische Bedeutung zu. Das Gebiet ist der westlichste Vorposten Russlands und ist vom Gebiet der NATO-Staaten Polen und Litauen umgeben. Im Kaliningrader Gebiet befindet sich der Heimathafen der russischen Ostseeflotte. Außerdem sind hier Iskander-Raketen stationiert, die auch Atomwaffen transportieren können, die in der Lage sind, Berlin zu erreichen. Die sogenannte "Suwalki-Lücke", eine schmale Landverbindung zwischen Polen und Litauen, bietet zudem einen strategischen Vorteil für Russland, denn sie ist zwischen das russische Territorium der Exklave Kaliningrad und das Territorium des verbündeten Belarus "eingequetscht" und somit eine Schwachstelle in der Verteidigund der NATO. Bis heute gibt es in Kaliningrad sogenannte reglementierte Zonen, die ausländische Staatsangehörige nur mit besonderer Genehmigung besuchen dürfen.
Erstmals veröffentlicht im Jahr 2011, überarbeitet 2022
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 14. September 2021 | 22:00 Uhr