Zweiter Weltkrieg Was von der Heimat in Ostpreußen blieb
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13. Januar 2020, 17:59 Uhr
Je älter sie wird, desto deutlicher kann sich Elfriede Rick an Details ihrer Kindheit in Ostpreußen erinnern. Im und nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie Vertreibung und Flucht nur knapp überlebt. Immer dabei in diesen schweren Jahren: die Bibel ihrer Großmutter. Die bewegte Geschichte von Elfriede Rick beginnt im Januar 1945 mit der Offensive der Roten Armee auf Königsberg.
Heute, deutlicher denn je, sieht sie die wogenden Kornfelder ihrer Heimat vor sich, riecht den Duft von frisch gebackenem Brot und spürt die große Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter. Elfriede Rick erinnert sich so gut an einzelne Details und kleine Erlebnisse, dass sie mich als Zuhörerin mit Leichtigkeit in ihre alte Heimat Ostpreußen mitnimmt. Zurück in das Jahr 1945, in den kleinen Ort Schlicken im Kreis Labiau, etwa 60 Kilometer östlich von Königsberg entfernt. Im Januar muss die 13-jährige Elfriede ihr Zuhause für immer verlassen, ihre Heimat wird nie mehr dieselbe sein. "Ich spüre noch, wie wir von unserem Hof runtergefahren sind und uns dann in den Flüchtlingstreck eingereiht haben. Wir mussten alles zurücklassen, die Tiere, der Hund hat noch gebellt."
"Ich habe gar nichts"
Ostpreußen. Im Oktober 1944 marschiert die Rote Armee in das östlichste Gebiet des Deutschen Reiches ein. Mehrere Hunderttausend Ostpreußen versuchen, gen Westen zu fliehen. Auch Elfriede Rick und ihre Familie packen die wichtigsten Habseligkeiten zusammen. Denn am 21. Januar 1945 wird ihnen von sowjetischen Soldaten befohlen, ihr Zuhause zu verlassen. Nachdem der Vater zum Volkssturm eingezogen worden war, ist Elfriede mit ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihrer Mutter allein. Gemeinsam mit den Großeltern, zwei Tanten und zwei Cousinen verlassen sie ihr Zuhause. Doch am 25. Januar werden sie von sowjetischen Soldaten gefangengenommen. "Alles wurde uns weggenommen, alles. Ich habe keine Geburtsurkunde mehr, ich habe kein Schulzeugnis – ich habe gar nichts."
Angekokelte Ecken und doch so wertvoll
Daher ist es fast schon ein Wunder, dass Elfriede Rick heute überhaupt noch ein Erinnerungsstück aus ihrer Heimat besitzt: eine Bibel – der Einband schwarz, auf der Vorderseite zeichnet sich ein goldenes Kreuz ab. Vorsichtig reicht sie mir das arg mitgenommene Buch. Ich kann seinen Wert nur erahnen. Die ersten Seiten sind an den Ecken angekokelt, einige Blätter liegen lose in der Bibel. Sorgfältig mit Schreibschrift steht der Name "Anna Szagunn" auf einer leeren Seite geschrieben. Darunter: "Neujahr 1906". "Diese Bibel hat meiner Großmutter gehört. Sie hat sie zu ihrer Hochzeit 1905 geschenkt bekommen. Das ist das Einzige, was wir von Zuhause retten konnten," erzählt Elfriede Rick.
Zuhause. Genau darüber will ich mit ihr sprechen. Den größten Teil ihres Lebens hat Elfriede Rick in Dresden verbracht, hier wohnt sie seit 1949. Doch was ist eigentlich ihre Heimat?
Die Heimat Ostpreußen ist meine Wurzel. Ich bin dort geboren. Und dort, wo man geboren ist, da hat man irgendwie – das ist ein Band. Das geht ein Leben lang nicht vorbei.
Die 86-Jährige spricht mit sanfter, bedächtiger Stimme. Sie kann sich nur noch langsam bewegen, will aber trotzdem sichergehen, dass ich keinen Hunger oder Durst habe und versorgt mich mit Kaffee und belegten Schnittchen. Sie habe heute viel Zeit, sagt sie mir, über die Vergangenheit nachzudenken. "Vieles begreife ich eigentlich jetzt erst. Im Alter, wenn ich im Nachhinein das Erlebte so durchgehe, begreife ich das eigentlich erst." Und gegen Ende unseres Gesprächs meint sie, fast nebenbei: "Die Angst ist weg. Sie zerstört einen nicht mehr."
"Hätten sie uns nur erschossen, da wäre es vorbei gewesen"
Angst. Als Elfriede und ihre Familie am 25. Januar 1945 von sowjetischen Soldaten gefangen werden, wird ihnen nicht nur Hab und Gut genommen, sondern beinahe ihr Leben. Mit weiteren Gefangenen müssen sie sich an die Wand eines Stallgiebels aufstellen. Sie sollen erschossen werden. Die Soldaten halten ihre Gewehre im Anschlag.
Plötzlich hat meine achtjährige Schwester geschrien und geschrien. Und da haben die Russen die Gewehre weggenommen und gesagt 'dawai' – da sind wir weitergetrieben worden. Später haben wir gesagt, hätten sie uns nur erschossen, da wäre es vorbei gewesen.
Elfriede und ihre Familie werden mit anderen Gefangenen in das 60 Kilometer entfernte Grenzberg getrieben. Dort sollen sie verhört werden. Die Winter in Ostpreußen sind bitterkalt. Es herrschen bis zu 25 Grad minus. "Wer nicht mehr konnte, das betraf Alte, die sind einfach liegen geblieben und erfroren." Elfriede Rick erinnert sich nicht nur an die Kaltblütigkeit der sowjetischen Soldaten, sondern auch an menschliche Gesten. "Da war ein Russe, ein Tartar, der hat trockenes, gefrorenes Brot gegessen. Als die Posten nicht hingesehen haben, hat er das Stück Brot von seinem Mund weggenommen und meinem Bruder gegeben."
In Grenzberg wollen die sowjetischen Soldaten Kriegsschuldige aufspüren und rächen sich auch an der einfachen Bevölkerung. In ganz Ostpreußen werden Hunderttausende in Lagern inhaftiert oder müssen Zwangsarbeit leisten. So auch Elfriedes Großvater, er wird nach Sibirien geschickt. Elfriedes Mutter soll auch in ein Lager gebracht werden. "Doch das Auto war so voll, dass sie nicht mehr draufgepasst hatte. Das war reiner Zufall, dass wir unsere Mutter behalten durften." Für Elfriede ist das rückblickend ein großes Geschenk: "Wenn die Mutter da ist, dann ist alles irgendwie gut."
Gerstenkaffee, Sauerkrautsuppe, 400 Gramm Brot
Noch lange hat Elfriede Angst, Kälte und Hunger nicht überstanden. Ihre Großmutter hält den Strapazen nicht Stand und stirbt. Nach einigen Wochen darf die Familie zurück nach Hause. Doch das Gehöft der Eltern steht nicht mehr. Sowjetische Soldaten sollen es im Mai 1945 angezündet haben. Gemeinsam mit ihren Verwandten suchen sie Unterschlupf auf dem Anwesen des Großvaters, nicht weit von ihrem Zuhause entfernt. "Auf dem Hof der Großeltern, da stand noch alles, aber es war alles ausgeplündert. Sie hatten verschiedene Sachen einfach zum Fenster hinausgeschmissen, darunter war auch diese Bibel."
Die Bibel. "Ich weiß immer, dass meine Großmutter hier dran gesessen und drin gelesen hat. Sie war eine fromme Frau." Elfriedes Mutter nimmt sie an sich. Sie wird die Familie durch schwere Jahre hindurch begleiten, die sie fast nicht überleben. Nach einigen Wochen werden sie von sowjetischen Soldaten in eine Militärkolchose gebracht, nur zehn Kilometer von der litauischen Grenze entfernt. Die 13-jährige Elfriede, ihre Mutter und die Verwandten müssen Zwangsarbeit leisten. "Als Essensration bekamen wir früh einen halben Liter Gerstenkaffee, mittags einen Liter Sauerkrautsuppe. Jeden Tag das gleiche. Abends, wenn wir dann die Norm geschafft haben, 400 Gramm glitschiges Brot. Davon mussten auch mein Bruder und meine Schwester leben."
"Wären die Litauer nicht gewesen – wir wären Hungers gestorben"
Hunger. Unbeschreiblicher Hunger. "Wir hatten keine Träume. Wir haben nur davon geträumt, wie es wäre, wenn wir Brot hätten." Geplagt von unbeschreiblichem Hunger schickt die Mutter ihre Kinder zum Betteln nach Litauen. Denn es hat sich herumgesprochen, dass die Litauer Essen geben. 30 bis 40 Kilometer muss Elfriede mit ihren Geschwistern in die litauischen Dörfer laufen.
Am ersten Tag wussten wir nicht, wie wir das Betteln anstellen sollten – wir konnten uns ja gar nicht ausdrücken. Die Litauer haben uns einfach von der Straße geholt und uns an den Tisch gesetzt und wir haben zu essen bekommen.
Für Elfriede ist diese Hilfsbereitschaft noch heute unbegreiflich: "Wären die Litauer nicht gewesen – wir wären vor Hunger gestorben."
Diesen letzten Satz höre ich noch ein paar Mal von Elfriede Rick. So wie sie den qualvollen Hunger und die harte Arbeit auf dem Feld nicht vergessen hat, so auch nicht die Hilfe der Litauer. Elfriede und ihre Familie dürfen im April 1948 nach Deutschland ausreisen. Ab 1949 arbeitet sie in Dresden in einem Diakonissen-Krankenhaus. In Dresden lernt sie auch ihren Mann Hans kennen. Nach der Wende 1989 engagiert sie sich im Landesverband der Vertriebenen in Sachsen. Für Kirchen in Litauen webt und stickt sie Altarschmuck, um den Litauern etwas zurückzugeben.
Dankbarkeit und Zufriedenheit nach einem langen Leben
Dankbarkeit. Oft überkomme sie unglaubliche Dankbarkeit, wenn sie Zeit mit ihren Enkelkindern oder Urenkelkindern verbringe. "Dass ich das erleben darf," komme ihr dann in den Sinn. Ihre Überzeugung, dass ihr Leben ein Geschenk ist, beeindruckt mich sehr. Die Zufriedenheit mit dem bescheidenen Leben, dass sie und ihr Mann geführt haben, die Zufriedenheit über das Erlebte. Es ist eine Zufriedenheit, der ich heute selten begegne. Vieles scheint uns heute selbstverständlich. Doch für Elfriede Rick ist auch das Selbstverständliche ein Geschenk, für das sie tiefe Dankbarkeit empfindet.
Ich bedanke mich bei Elfriede Rick für die geteilten Erinnerungen, lege die Bibel zurück in das Regal und verabschiede mich von einer bescheidenen Frau, von der man viel lernen kann.
Dieser Artikel erschien erstmals am 16. Januar 2018.
Sabine Cygan
hat Journalistik sowie Politische Kommunikation studiert und arbeitet heute für den MDR.
Sabine Cygan hat Elfriede Rick gut verstehen können. Ihre eigene Großmutter hat damals zwar freiwillig Oberschlesien verlassen, die alte Heimat aber ihr Leben lang vermisst. Besonders beeindruckt hat Sabine während des Interviews, dass für Frau Rick – bei all dem, was sie erlebt hat – heute das Gefühl der Dankbarkeit überwiegt.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR ZEITREISE | 26.01.2020 | 22:20 Uhr