Sowjetische Speziallager 1945-1950 "Es gab keine Entnazifizierung"
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06. November 2017, 14:10 Uhr
Die Speziallager in der Sowjetischen Besatzungszone ab 1945 und in der späteren DDR bis 1950 dienten der vorbeugenden "Säuberung" des besetzten Landes. Eine "Entnazifizierung", Verfahren oder Prozesse fanden in der Regel nicht statt. Frank Nemetz, Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, erklärt in einem Interview, was es mit den sowjetischen Speziallagern auf sich hatte.
Ab wann sind diese sowjetischen Speziallager in Ostdeutschland eingerichtet worden? Wie viele gab es davon und wo?
Ab dem zweiten Halbjahr 1945, mit dem Einzug der sowjetischen Armee und des NKWD, wurden diese Speziallager in der Sowjetischen Besatzungszone eingerichtet. In der Sowjetunion waren solche Lager in Sibirien schon 1928 und 1929 von Tschekisten eingerichtet worden.
In der SBZ gab es zehn Speziallager, das erste in Tost (polnisch Toszek, Kleinstadt bei Gleiwitz, Schlesien, heute in Polen), ein Außenlager des späteren Lagers in Bautzen. Die KZ der Nazis in Buchenwald und Sachsenhausen wurden da gleich übernommen, auch Mühlberg in Sachsen als ehemaliges Kriegsgefangenenlager der Nazis. Die weiteren waren in Jamlitz, Ketschendorf, Torgau, Weesow, in Fünfeichen, und eines in Hohenschönhausen in Berlin.
Welchem Zweck diente die Internierung und welche Vorwürfe wurden in der Regel erhoben?
Es gab Befehle zur "Säuberung des Hinterlands der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen" vom 18. April 1944 und vom 11. Januar 1945 (NKWD-Ukas Nr. 0016 - siehe hier, Seite 58). Dieser diente zur Einrichtung der Speziallager in der späteren DDR und zur Inhaftierung vieler Unschuldiger.
Insgesamt wurden 122.000 Menschen verschleppt und in diesen Lagern eingesperrt. Mehr als 30 Prozent von ihnen haben die Strapazen nicht überlebt. Gleichzeitig wurden von 1944 an bis Anfang 1945 auch rund 200.000 Deutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion gebracht.
Was hatte dieses Vorgehen mit der öffentlich postulierten "Entnazifizierung" zu tun?
Die Menschen wurden inhaftiert, es gab keine "Entnazifizierung". Man sprach davon, dass sie vorbeugend als "antisowjetische Gegner" inhaftiert wurden. Wer angezeigt wurde und verdächtig war, wurde in die Lager verschleppt.
Darunter waren mittlere Funktionäre der NSDAP und Parteimitglieder, Volkssturm-Gruppenführer, BDM-Frauen, aber auch ehemalige Kommunisten, die schon in Konzentrationslagern eingesperrt gewesen waren, Beamte und kleinere Angestellte.
Auch viele Personen des öffentlichen Lebens waren unter den Inhaftierten, wie etwa der Schauspieler Heinrich George (Vater von Götz George, ab 28. Juli 1945 im NKWD-Speziallager Hohenschönhausen, danach dann im Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen. Hier starb er nach einer Blinddarm-Entzündung und Operation am 25. September 1946).
Das waren auch Richter wie der Vater von Frank Schöbel (Johannes Schöbel, Landgerichtsrat in Leipzig, abgeholt am 14. August 1945, als "Kriegsverbrecher" am 1. Februar 1948 im Lager Mühlberg an Tuberkulose gestorben), oder der Maler von Otto von Kursell (1945-1950 im Speziallager Nr. 1 Mühlberg, dann im Speziallager Nr. 2 in Buchenwald, Rückkehr). Es traf auch viele Jugendliche, denen eine "Werwolf"-Mitgliedschaft unterstellt wurde. Die Sowjets hatten großes Misstrauen gegen Jugendliche, sie wollten das Land säubern.
Wie wurde in der Zeit ihrer Existenz öffentlich über diese Lager kommuniziert? Wurde ihre Existenz geheim gehalten?
Die Lager wurden nur im engeren Familienkreis bekannt, in denen es zu Verhaftungen kam. Viele wussten nicht, wohin man ihre Familienangehörigen verschleppt hatte, bis sie die ersten Briefe aus Sibirien bekamen.
Wie ist mit den inhaftierten Menschen verfahren worden, gab es Anklagen, Verfahren, Prozesse, Urteile?
Die Menschen wurden verhört und durch Folter zu Geständnissen gezwungen. Viele unterschrieben Papiere, die sie aber nicht lesen konnten, weil sie russisch geschrieben waren, unter Folter und erschwerten Haftbedingungen.
Es gab auch die SMT (Sowjetische Militärtribunale), die Urteile gefällt haben, geheim und ohne Öffentlichkeit, es gab keine Verteidiger. Öffentliche Prozesse gab es erst nach der Auflösung der Speziallager 1950 in Waldheim, wo 3.424 nicht entlassene Häftlinge hingebracht wurden. In den Waldheimer Prozessen wurden sie verurteilt, auch zu Todesstrafen, die in Waldheim vollstreckt wurden.
Wie wurde in den Lagern mit den Menschen umgegangen, und wer war dafür verantwortlich?
Hunger bestimmte den Lageralltag, es gab täglich viele Zählappelle, um die Gefangenen zu demütigen. Es gab keine Kleidung. Man bediente sich von den Verstorbenen.
Es gab auch keine hygienischen Einrichtungen und keine Toiletten; alle Häftlinge mussten auf improvisierte Donnerbalken gehen. Es gab keine medizinische Versorgung, während Tuberkulose und andere Krankheiten grassierten. Vor allem die Älteren wurden zu den "Jauchekommandos" eingeteilt, weil sie schlechter fliehen konnten und sie so schneller gestorben sind. Die Toten wurden täglich vor das Lager transportiert und verscharrt. Arbeit gab es sonst in oder außerhalb der Lager nicht. Es passierte nichts.
Dazu kam der Verpflegungsmangel, nur Wasser und wenig Brot. Auch Geschirr gab es nicht. Auch da musste improvisiert werden. Die Lager standen unter einer Art von Selbstverwaltung, wurden jedoch streng bewacht von russischem Militär, von dem auch die Befehle kamen.
Konnte man etwas tun, um die Lager verlassen zu dürfen?
Freisprüche gab es keine, wer da einmal drin war, kam nicht wieder heraus. Das Lager konnte man nicht verlassen, nur nach mehreren Jahren Aufenthalt wurden einige entlassen oder in andere Lager transportiert.
Fast 60.000 kamen nach Sibirien als Zwangsarbeiter. Flucht aus einem Lager war nicht möglich, da sie sehr streng bewacht und durch viele Zäune gesichert waren. Aus dem Lager Mühlberg gab es nur einen einzigen bekannten Ausbruchsversuch. Und der ist gescheitert. Der Mann wurde in einem Versorgungswagen entdeckt, hat das Lager aber überlebt.
Wie überhaupt kamen die Menschen wieder heraus?
Meist erst nach vielen Jahren der Gefangenschaft, wenn sie es überlebt haben. In Mühlberg sind von 22.000 Gefangenen rund 7.000 gestorben. Es gab danach dann auch keinerlei Entlassungspapiere und nach der Entlassung durfte nicht über diese Lagerhaft gesprochen werden.
Wie lange gab es sie dann, wann wurden sie geschlossen?
Die Lager wurden ab 1948 geschlossen und bis 1950 umverteilt. Viele der Gefangenen kamen nach Buchenwald, und später dann auch nach Waldheim. Einige Lager wurden von der DDR auch noch als Gefängnis weiter benutzt.
Wie wurde in den Jahren und Jahrzehnten danach mit dem Thema in der DDR umgegangen - offiziell und inoffiziell?
In der DDR wurde das Thema nicht angesprochen. Die entlassenen Gefangenen durften nicht darüber sprechen, sonst wurde mit der Stasi gedroht. Es gab nur 1950 eine kurze Notiz im "Neuen Deutschland" dazu, wonach Gegner der DDR in einigen besonderen Lagern gewesen seien.
Wie ging die UdSSR später mit dem Thema um, wie tut es das heutige Russland? Gab es so etwas wie eine offizielle Entschuldigung?
Sämtliche Unterlagen zu den Speziallagern und dem Gulag liegen noch in Moskau. Die Archive waren Anfang der 1990er-Jahre geöffnet worden. Jetzt aber sind sie wieder geschlossen. Angehörige suchen weiter nach Informationen. Eine offizielle Entschuldigung gab es nicht für alle Opfer. Einige, die in Russland waren und in Moskau zu Unrecht hingerichtet wurden, sind später rehabilitiert worden.
Über dieses Thema berichtete der MDR im TV auch in "Aktuell" 09.05.2010 | 21.30 Uhr