Renia Spiegel: Die polnische Anne Frank

25. Januar 2019, 15:13 Uhr

Renia Spiegel gilt als polnische Anne Frank. Von 1939 bis 1942 führte sie ein Tagebuch. Sie beschrieb darin die Zeit unter sowjetischer und deutscher Besatzung und das Grauen des Ghettos in der polnischen Stadt Przemyśl. Am 30. Juli 1942 wurde Renia Spiegel von einem deutschen Soldaten erschossen. Sie war 18 Jahre alt.

Renia Spiegel war 15 Jahre alt, als sie ein Tagebuch zu führen begann. Am 31. Januar 1939 schrieb sie ihren ersten Eintrag: "Warum beginne ich heute ein Tagebuch? Ich suche einen Freund, dem ich von meinen Sorgen und Freuden erzählen kann." Aber schon bald wurde aus den harmlosen Eintragungen eines Mädchens, die von Einsamkeit und Unsicherheit und erster Liebe berichteten, ein erschütternder Zeitzeugenbericht über den Holocaust. Denn Renia Spiegel war eine polnische Jüdin.

"Mir ging es sehr gut."

Renia Spiegel wurde am 18. Juni 1924 in Uhrynkowce in der Region Tarnopol, in der heutigen Ukraine, geboren. Ihr Vater war Besitzer eines stattlichen Gutes. Renias Mutter Reni lebte, von ihrem Mann und den beiden Töchtern getrennt, in Warschau. Die beiden Töchter besuchten sie häufig. "Mamas warmes Herz" fehlte Renia dennoch sehr. 1939 mussten Renia und ihre jüngere Schwester Ariana ihren Heimatort verlassen und nach Przemyśl, einer Stadt im heutigen Südosten Polens, zu den Großeltern umziehen. Es war ein großer Einschnitt in ihrem Leben. Dem Tagebuch vertraute Renia an: "Ich lebte in einem schönen Herrenhaus am Dnjestr. Mir ging es sehr gut. Aber diese Zeit ist vorbei und wird nicht wiederkommen."

Sowjetische und deutsche Besatzung in Przemyśl

Przemyśl war seit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 geteilt. Die Grenze bildete der Fluss San. Auf der einen Seite herrschten die Deutschen, auf der anderen die Russen. Im sowjetischen Teil lebten die meisten Juden der Stadt, auch Renia und ihre Schwester Ariana. Als Deutschland 1941 mit der Operation "Barbarossa" den Überfall auf die Sowjetunion startete, fiel ganz Przemyśl unter deutsche Herrschaft. Es war der 18. Juni 1941. An diesem Tag, vier Stunden vor dem Einfall der Hitler-Truppen, hatte Renia zum ersten Mal ihren Freund geküsst. So steht es im Tagebuch Renias. In den folgenden Monaten nehmen die Beschreibungen der Demütigungen durch die Deutschen und die Ängste vor einer schrecklichen Zukunft viel Raum in Renias Tagebuch ein. Das Private verschwindet fast völlig. Im Mai 1942 notiert Renia eine düstere Prophezeiung ins Tagebuch:

Eine Art Fieber nahm die Stadt ein: die Vision des Ghettos.

Das Grauen des Ghettos

Im Juli 1942 nahm die düstere Prophezeiung Gestalt an - die SS gründete das Ghetto, in dem die Juden Przemyśl eingepfercht werden sollten. Renia musste gemeinsam mit ihrer Schwester und den Großeltern ins Ghetto umziehen. "Heute, um acht Uhr, sind wir ins Ghetto eingeschlossen worden. Die Welt ist von mir getrennt und ich bin von der Welt getrennt." Der Alltag ist grauenhaft. Renia schreibt:

Wo ich auch hinsehe, überall ist Blutvergießen. Gott, wieder bitte ich dich, rette uns! Ich flehe dich an. Ich möchte leben.

Anfang Juli 1942 begann die SS mit ersten großangelegten Erschießungen von Juden in Przemyśl. Am 28. Juli 1942 wurde Renia von ihrem Großvater auf dem Dachboden eines Gebäudes im Ghetto versteckt. Die Schwester Ariana konnte er aus dem Ghetto herausbringen.

Vergebliches Flehen

In ihrem letzten Tagebucheintrag, den sie in der Einsamkeit der Dachkammer notiert, fleht Renia ihren Gott an, sie zu beschützen: "Rette uns, Herr. Du hast mich vor Kugeln und Bomben geschützt, hilf mir, zu überleben, hilf uns!" Doch ihr Flehen bleibt ungehört. Nur einen Tag später, am 30. Juli 1942, wird Renia Spiegel, die von einem polnischen Informanten verraten worden sein soll, von einem deutschen Soldaten auf der Ghetto-Straße einfach erschossen. Solche Hinrichtungen waren im Ghetto an der Tagesordnung. Renia Spiegel war eine Woche vorher 18 Jahre alt geworden.

Das Tagebuch wird erst 2016 veröffentlicht

Was geschah mit dem insgesamt 700 Seiten starken Tagebuch Renia Spiegels? Ihre Schwester Ariana Elzbieta Bellak hatte es nach dem Tod Renias an sich genommen und über Jahrzehnte aufbewahrt. Gezeigt hatte sie es niemandem. Erst 2014 fragte sie den polnischen Filmemacher Tomasz Magierski, ob er sich das Tagebuch ihrer Schwester einmal ansehen wolle. Magierski las es und war elektrisiert: "Ich beschloss, Renia Spiegels Tagebuch zum Leben zu erwecken." 2015 gründete Ariana Elzbieta Bellak gemeinsam mit Tomasz Magierski die "Foundation Renia Spiegel" mit Sitz in Warschau und New York, die sich um den Nachlass Renia Spiegels kümmern soll. Ein Jahr später, 2016, fast 75 Jahre nach ihrem Tod, veröffentlichte die Stiftung das Tagebuch Renia Spiegels, der polnischen Anne Frank. Mitherausgeber Tomasz Magierski: "Das Tagebuch ist ein bedeutendes literarisches Werk und ein einzigartiges Dokument aus der Vernichtungszeit."

Quellen: www.reniaspiegelfoundation.org/de/home; forward.com/culture/394032/why-renia-spiegel-is-being-called-the-polish-anne-frank; www.independent.co.uk/news/world/americas/journal-nazi-poland-horrors-renia-spiegel-diary-a8272981.html; nypost.com/2018/03/25/recently-discovered-journal-gives-harrowing-insight-into-nazi-occupied-poland.

(zuerst veröffentlicht am 30.07.2018)

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Zeitreise - Geschichtsmagazin mit Mirko Drotschmann | 03.05.2016 | 21:15 Uhr

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