Juden aus Ungarn während der Selektion auf der Rampe in Auschwitz Birkenau. Mai 1944
Juden aus Ungarn während der Selektion auf der Rampe in Auschwitz Birkenau. Mai 1944 Bildrechte: Lili-Jacob-Album, Foto Nr. 77241

Kriegsende vor 80 Jahren Wer waren die Unterstützer der NS-Diktatur?

Zwei neue ARD-Produktionen zum Nationalsozialismus

24. April 2025, 09:12 Uhr

Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren bedeutete auch das Ende der NS-Diktatur. Zwölf Jahre Herrschaft, die Millionen Menschen den Tod brachte. Aber auch zwölf Jahre Herrschaft, die von Millionen Menschen in verschiedener Weise gewünscht, gestützt und gefördert wurde. Um die Frage, wer war Täter und wer nicht, wird bis heute erbittert gerungen.

Wie haben Menschen direkt oder indirekt die NS-Diktatur gestärkt? Wie erlebten die Menschen die Zeit zwischen 1939 und 1945, als Hitler an die Macht kam und der Zweite Weltkrieg ausbrach. Haben sie weggeschaut, waren sie Teil des Systems oder sogar Täter? Mit diesen Fragen beschäftigen sich gleich zwei neue Produktionen aus der ARD: Der Podcast "NS-Cliquen: Von Menschen und Mördern" (ARD-Audiothek) und die Doku-Serie "Hitlers Volk: Ein deutsches Tagebuch" (ARD-Mediathek).

Dass es Täter unter ihren Vorfahren gibt, glauben inzwischen die wenigsten jungen Menschen. Nur 9,4 Prozent der befragten Personen in der letzten Jugendstudie zur Erinnerungskultur in Deutschland (MEMO 2023) sagen: "Ja, es waren Vorfahren von mir unter den Täterinnen und Tätern während der NS-Zeit."

Ja, es waren Vorfahren von mir unter den Täterinnen und Tätern während der NS-Zeit.

Jugendstudie zur Erinnerungskultur in Deutschland (MEMO 2023)

Und von diesen 9,4 Prozent glaubt eine Mehrheit: Täterschaft hat einen direkten Bezug zur Mitgliedschaft in der Wehrmacht, der SA oder SS. Warum können sich nur wenige vorstellen, dass auch Passivität und Duldung eine Verantwortung für die Verbrechen mit sich bringen?

NS-Täter: Aufarbeitung mit Lücken

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lag der juristische Blick überwiegend auf Funktions-Eliten des Systems. Die große Masse blieb in der Frage, wie sie Terror und Tod durch ihre Beteiligung gestützt hatte, völlig unbehelligt. Lehrer kehrten in Schulen zurück, Ingenieure an ihre Reißbretter. Selbst wenn sie zuvor in Auschwitz die SS unterrichtet oder bei I.G. Farben Zwangsarbeiter befehligt hatten.

Jüdinnen und Juden aus Ungarn warten auf die Selektion - Rampe in Auschwitz Birkenau, Mai 1944
Jüdinnen und Juden aus Ungarn warten auf die Selektion – Rampe in Auschwitz Birkenau, Mai 1944, Lili-Jacob-Album. Bildrechte: USHMM – Nr. 77319

Wer hat genau wann was wie gemacht? Fragen, die in beiden deutschen Staaten mit wenig Tiefe erforscht wurden. Die Versäumnisse der Strafverfolgung sind bekannt. Historiker haben inzwischen jedoch die Arbeitsteiligkeit nachgewiesen, die das System von Terror und Ausgrenzung überhaupt erst ermöglichte. Gestützt von Urteilen der letzten Jahre, die das Thema "Beihilfe" in den Vordergrund rückten, wird das Bild inzwischen klarer: Es müssen auch die in den Blick rücken, die gemeinhin als "kleine Rädchen" mitgewirkt haben. So zum Beispiel zivile Angestellte eines KZ, häufig vermittelt über das Arbeitsamt.

Als Sekretärin im KZ Stutthof

"Ich kam im Juli 1943 als Stenotypistin in das KZ Stutthof. […] Ich war die Stenotypistin für den Kommandanten Hoppe und für den Adjutanten, habe aber mehr für Hoppe geschrieben. Durch meine Hände ging der gesamte Schriftwechsel mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt."

Ich war die Stenotypistin für den Kommandanten Hoppe und für den Adjutanten, habe aber mehr für Hoppe geschrieben. Durch meine Hände ging der gesamte Schriftwechsel mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt.

Irmgard Furchner Aussage Prozess 1954

So beschrieb Irmgard Furchner 1954 rückblickend ihre Tätigkeit. Die Aussage stammt aus dem Prozess gegen den Kommandanten des KZ Stutthof, Paul-Werner Hoppe. Furchner sagte als Zeugin aus. Damals schien Furchners Aussage nicht zu bedeuten, dass sie selbst als Täterin gesehen wird. 70 Jahre danach wird die ehemalige Sekretärin aber wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen verurteilt.

Juden aus Ungarn nach der Selektion in Auschwitz-Birkenau. Sie warten in einem kleinen Wäldchen in der Nähe der Gaskammern und werden später ermordet. Mai 1944
Juden aus Ungarn nach der Selektion in Auschwitz-Birkenau: Sie warten in einem kleinen Wäldchen in der Nähe der Gaskammern und werden später ermordet (Mai 1944). Bildrechte: Lili-Jacob-Album, Foto Nr. 77394

In der zweiten Staffel des Podcast „NS-Cliquen: von Menschen und Mördern“ spricht der historische Gutachter aus dem Prozess gegen Irmgard Furchner, Dr. Stefan Hördler, zum ersten Mal über die Hintergründe ihrer Tätigkeit im KZ Stutthof. Im Gespräch mit der Wissenschaftsjournalistin Janine Funke erklärt er deutlich, wie notwendig in einem KZ das enge Zusammenspiel zwischen den vielen tausenden Menschen waren, die dort arbeiteten.

Dr. Stefan Hördler im Gespräch
Dr. Stefan Hördler im Gespräch Bildrechte: MDR/Stephan Flad

Er hat erlebt, wie intensiv sich das Gericht mit den Fragen rund um den Arbeitsplatz der Stenotypistin auseinandersetzte und auch vor Ort die Gegebenheiten besichtigte. "Es war auch eine Frage der Inaugenscheinnahme des Gerichts: Was konnte man eigentlich von diesem Büro aus sehen? Und von diesem Büro aus konnte man große Teile des sogenannten neuen Lagers, sehen. Das heißt, das Lager, in dem auch viele jüdische Frauen aus den geräumten Lagern wie Vaivara, Kauen oder Riga untergebracht waren. Ein Ort mit einer enormen Todesrate, einer Todesrate Anfang 1945 von mehreren hundert Menschen pro Tag. Auch der Weg, der von dort an der ehemaligen Gärtnerei, gut sichtbar von der Kommandantur, über einen Korridor zu dem Krematorium, zur Gaskammer führte, war sichtbar. Auch bei Fluchtversuchen, die Schüsse oder Erschießungen auf der Flucht, mitunter sind es ja auch exzessive Tötungen, die da stattgefunden haben, all das hat man gehört und gesehen."

Auch der Weg, der von dort an der ehemaligen Gärtnerei, gut sichtbar von der Kommandantur, über einen Korridor zu dem Krematorium, zur Gaskammer führte, war sichtbar.

Dr. Stefan Hördler, Historiker

Hier geht's zur neuen Podcast Staffel

QR Code, Link zum ARDPodcast NS-Cliquen: Von Menschen und Mördern
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Irmgard Furchner war knapp zwei Jahre lang die Chefsekretärin des Kommandanten Paul-Werner Hoppe. Ihre Beschreibung "der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt" klingt banal. Aber wenn man betrachtet, über welche Dinge an ihrem Arbeitsort, der Abteilung 1 des KZ, alles entschieden wurde, bekommt dieser Schriftwechsel eine andere Bedeutung. Alle zentralen Befehle das Konzentrationslager betreffend, liefen über die Abteilung 1: spätestens seit 1941 die Koordination, Abwicklung und Organisation des Massenmords, Deportationen in andere Konzentrationslager wie Auschwitz-Birkenau. Auch die Bestellung von Zyklon B und die Entscheidung über Exekutionen. Stefan Hördler dazu: "Sie erwähnt selbst in ihrer Aussage, dass sie natürlich Kenntnis davon hatte, dass sie mit anderen darüber gesprochen hat und dass sie auch das Gefühl hatte, dass diese Menschen, so sinngemäß, es verdient hätten. Offenbar haben sie sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen und aus ihrer Sicht wäre damit auch diese Exekution verdient gewesen."

Offenbar haben sie sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen und aus ihrer Sicht wäre damit auch diese Exekution verdient gewesen.

Dr. Stefan Hördler, Historiker

Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen lautete das Urteil gegen Irmgard Furchner, der Bundesgerichtshof bestätigte es 2024 und machte es damit rechtskräftig. Es ist inzwischen fast ausgeschlossen, dass es weitere Prozesse geben wird – zu alt sind inzwischen mögliche Täter. Die historische Aufarbeitung aber kann sich jetzt dieser Gruppen annehmen und damit wesentlich nachvollziehbarer erklären, wieso das System so funktionierte: auch über Menschen, die koordinierten, kommunizierten, bestellten, umstellten, bewachten. Das betrifft auch andere Gruppen, über die der Podcast erzählt: Ehefrauen von NS-Größen, Polizisten, Bau-Unternehmer, Wissenschaftler.

NS-Cliquen: Von Menschen und Mördern 7 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zuschauen, Wegschauen, Akzeptieren

Und was ist mit den Menschen, die noch wesentlich passiver agierten und aber auch die Macht der Nazis stützten? Diejenigen, die duldeten, wegschauten, applaudierten oder auch in vieler Hinsicht profitierten? Der Historiker Dr. Stefan Hördler bezeichnet die NZ-Zeit als "Zustimmungs-Diktatur": die Zustimmung zum Missbrauch der Macht, durch die in der Folge ganze Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen wurden und verschwanden. Ein Prozess, der von den Deutschen nicht unbemerkt blieb, häufig akzeptiert oder begrüßt wurde.

Gut zu sehen ist das an zwei Beispielen: Im Bildaltas "Last Seen" finden sich hunderte Fotos von jüdischen Mitbürgern, die sich an öffentlichen Plätzen für die Deportation einfinden mussten. Auf den Bildern mit abgebildet: Menschen, die zuschauten. Wie zum Beispiel auf dem Foto aus dem baden-württembergischen Asperg vom Mai 1940. In den zwangsweise verlassenen Wohnungen fanden im Anschluss Versteigerungen des jüdischen Besitzes statt. Die Menschen standen Schlange.

Doku: "Hitlers Volk – ein deutsches Tagebuch" 1939-45

Zwischen Begeisterung, Bereicherung und der Erleichterung, nicht zu denen zu gehören, die aus der vermeintlichen "Volksgemeinschaft" ausgestoßen wurden, schauten die Menschen zu, klatschten Beifall oder wandten sich resigniert ab. Manche hielten ihre Gedanken auch in Tagebüchern fest. In der neuen Doku-Reihe: "Hitlers Volk: Ein deutsches Tagebuch" in der ARD Mediathek, werden Frauen und Männer vorgestellt und Auszüge aus ihren Tagebüchern. Wie beispielsweise Inge Thiele (Name geändert) aus Castrop im Ruhrgebiet.

Inge Thiele, eine junge Gärtnerin
Inge Thiele (Name geändert), eine junge Gärtnerin, Tagebucharchiv Emmendingen, bereitgestellt vom RBB Bildrechte: Presse & Information / Foto-Team

Ihre Einträge zeigen nichts von dem Unrecht, das in Deutschland seit 1933 geschah: keine Verhaftungen, keine Rassen-Gesetze, keine Ausgrenzung und Demütigung der jüdischen Bevölkerung. Sie war davon nicht betroffen, schrieb über Ereignisse, die für sie selbst wichtig waren. Und das waren ganz andere. Inge war begeisterte Sportlerin und verfolgte stolz die Olympischen Spiele, fieberte am Radio mit. In ihrer Tagebuchaufzeichnung schilderte sie ihre Eindrücke so: "Februar 1936. Ich stell' mir das ja wunderbar vor, eine glitzernde Eisfläche, darauf tänzelnde Menschen, mit wunderbaren, durchtrainierten Körpern, strahlende Sonne am blauen Himmel, weiße Bergkuppen im Hintergrund. Wenn man das Anfeuern oder den Beifall des Publikums hörte, dann konnte ich laut aufjubeln vor Freude. Auch unser Führer wurde gefeiert und von den anderen Nationen immer wieder geehrt mit dem deutschen Gruß."

Wenn man das Anfeuern oder den Beifall des Publikums hörte, dann konnte ich laut aufjubeln vor Freude. Auch unser Führer wurde gefeiert und von den anderen Nationen immer wieder geehrt mit dem deutschen Gruß.

Inge Thiele, Gärtnerin "Hitlers Volk – ein deutsches Tagebuch", ARD Mediathek

Sie beschäftigte, ob sie freiwillig den Arbeitsdienst leisten soll oder lieber eine bezahlte Arbeit annehmen. In ihrem Tagebuch schrieb sie: "Ich habe jetzt das Antragsformular für den weiblichen Arbeitsdienst in den Händen. Ohne Geld zu arbeiten – über die Idee lachen sie alle hier, sie erklären mich für verrückt, das könnten sich nur wohlhabende Töchter erlauben. Selbst Papa redet so, da kann man irre werden. Wenn ich den Führer höre, dann opfert man gern das halbe Jahr, es ist ja auch fürs Leben."

Auch die Einträge anderer Menschen zeigen, das persönliche Schicksal war am wichtigsten: Habe ich Arbeit? Wie überlebt die Familie? Werden Bomben kommen? Wie kann ich dem Führer dienen? Tagebuch-Einträge sind Fragmente, Ego-Dokumente, die nur einen kleinen Blick in die Welten der Schreibenden erlauben. Dachten die Menschen wirklich so? Schrieben sie nur das auf, was sie für unverfänglich hielten? Dachten sie womöglich anders, trauten sich nur nicht zu handeln?  In der Realität versuchte die Mehrheit der Deutschen, das eigene Heil zu sichern. Die Bekämpfung von Unrecht, das für jeden in irgendeiner Form im Alltag sichtbar war, blieb die Ausnahme.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | Hitlers Volk - Ein deutsches Tagebuch | 05. Mai 2025 | 22:50 Uhr