Unter Deutschen - Zwangsarbeit im NS-Staat Vergessenes Trauma Zwangsarbeiterinnen in einer Munitionsfabrik: Manche verstümmelten sich sogar selbst, um keine Munition gegen ihr Heimatsland herstellen zu müssen. © United States Holocaust Memorial Museum/National Archives and Records Administration Foto: MDR
Zwangsarbeiterinnen in einer Munitionsfabrik Bildrechte: © United States Holocaust Memorial Museum/National Archives and Records Administration

Rückblick Zwangsarbeit im NS-Staat und das lange Schweigen

15. Juni 2023, 05:00 Uhr

Unser Bild der NS-Zeit ist geprägt von der Person Hitlers, jubelnden Menschenmassen, von Judenverfolgung, KZ, NS-Ideologie. Den Aspekt Zwangsarbeit haben junge Leute nicht im Blick, wenn sie nach ihrem Wissen zur NS-Zeit gefragt werden. Dabei sind die Geschichten der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eng verknüpft mit dem Alltag der Bevölkerung. Nur, dass die Erinnerungen daran bisher nichts ins kollektive Gedächtnis der Jungen gefunden haben. Wer müsste sie erzählen?

Liane Watzel
Bildrechte: Tobias Thiergen

Zwangsarbeit ist ein Kapitel der Geschichte, das junge Leute in Deutschland bislang nicht mit der NS-Zeit verbinden. Das zeigt die jüngste MEMO-Studie, für die 2022 und 2023 junge Erwachsenen befragt wurden, welche Bilder ihnen beim Stichwort NS-Zeit einfallen. Sie verbinden den Nationalsozialismus am häufigsten mit der Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung von Opfergruppen. Mehr als ein Drittel der Befragten bezieht sich konkret auf die Person Adolf Hitlers, auch Krieg und NS-Eroberungsansprüche, die NS-Ideologie und Nennung von Tätern und Verantwortlichen für NS-Verbrechen.

Eine Ostarbeiterin in einer Berliner Fabrik, 1942.
Zwangsarbeit ist kein Aspeket, den Jugendliche nennen, wenn es um die NS-Zeit geht. Im Bild: eine "Ost-Arbeiterin" in einer Berliner Fabrik, ca. 1942. Bildrechte: imago images/Rolf Poss

Dass Millionen Menschen nach Deutschland verschleppt wurden, in speziellen Lagern untergebracht und jahrelang hier arbeiten mussten? Die befragten jungen Leute nennen diesen Aspekt nicht. Sie interessieren sich dagegen am stärksten (35,4 Prozent) für die Rolle und Verantwortung der vermeintlich unbeteiligten deutschen Bevölkerung während des Nationalsozialismus, also derjenigen, die weder Täter noch Opfer waren. Auf die Frage: "Würdest Du sagen, dass Vorfahren von Dir von den Entwicklungen während der Zeit des Nationalsozialismus profitiert haben?", antworteten 7,7 Prozent der Befragten mit "ja", 55,7 Prozent mit "nein", 34,7 Prozent mit "Weiß nicht".

Millionen Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt

Menschen werden von Soldaten in einen Zug befohlen.
Bahnhof Kiew 1941: Menschen aus Kiew auf dem Weg zur Zwangsarbeit in Deutschland Bildrechte: IMAGO / United Archives

Indirekt weist das Interesse an der Rolle der Vorfahren auf einen blinden Fleck bei dem, was geschichtlich vermittelt wird. Wie groß diese Erzähl- und Erinnerungslücke ist, verdeutlicht diese Zahl: 13 Millionen Menschen, Zivilisten, wurden zwischen 1938 und 45 aus halb Europa unfreiwillig ins Deutsche Reich geholt und hielten die Industrie, Landwirtschaft, Handwerksbetriebe, die Reichsbahn, die Post, Krankenhäuser, Stadtverwaltung und Behörden am Laufen.

Sogar private Haushalte "leisteten" sich nun ausländische Hilfen. Millionen Menschen können aber nicht unsichtbar gewesen sein oder komplett im Verborgenen gearbeitet und gelebt haben. Entsprechend müssen sich die Lebensgeschichten der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter während der Kriegsjahre mit denen der Einheimischen verwoben haben. Allein in Berlin lebten zwischen 400.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus 20 Ländern; 3.000 Sammelunterkünfte für sie waren über die ganze Stadt verteilt.

Zwangsarbeit im deutschen Alltag sichtbar

Dass es zu Begegnungen gekommen ist, zeigt ein Beispiel aus Sachsen. Aus dem Lager Espenhain bei Leipzig ist bekannt, dass eine ukrainische Zwangsarbeiterin an ihrem arbeitsfreien Tag sonntags zehn Kilometer zu Fuß zu einem Dorf lief, um dort in einem Bauernhaushalt zu arbeiten und sich so Lebensmittel zu verdienen. Über die Bande, die so zwischen Deutschen und Zwangsarbeitern geknüpft worden, ist wenig bekannt. Bestenfalls kennt man Sätze der Großeltern über das polnische "Hausmädchen", das auf dem deutschen Hof arbeitete: "Der Helena ging es doch gut bei uns!" Ob Helena das auch so gesehen hat?

Gutes Verhältnis zwischen SS-Arzt und Häftlingen?

Diese Verklärung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Unterjochten erzählt auch die Doku-Serie "Unter Deutschen". Beispielhaft steht dafür die Geschichte Hans Münchs, eines Lagerarztes in den KZ Auschwitz und Dachau.

Vor einer Baracke laufen Frauen mit kahlgeschorenen Köpfen. Eine wohlgenährte Frau mit dunklem Haar läuft neben ihnen her.
Ungarische Jüdinnen, die zwischen Mai und Juli 1944 für Arbeit in Auschwitz-Birkenau selektiert worden waren. Bildrechte: IMAGO / Reinhard Schultz

Der Mann hatte im Krakauer Auschwitzprozess 1947 das Verhältnis zu den 120 Häftlingen seines Kommandos als regelrechte Lageridylle skizziert, in der er mit den Häftlingsfrauen "wunderbaren Orangenschnaps“ schwarz gebrannt habe. Da seien sie "fast so was wie eine Familie" gewesen. Ganz anders sieht es einer der Häftlinge, der mit Münch zu tun hatte. KZ-Insasse Dr. Ellis Hertzberger, ein Arzt aus Rotterdam, konstatierte später: "Der Mann war in der SS! Wir waren Häftlinge! Niemals waren wir eine Familie. Sie haben uns wie Haustiere behandelt."

Sexuelle Ausbeutung in Lagerbordellen

Oder schlimmer als Haustiere. In Lagern gab es auch Bordelle, in denen Zwangsarbeiterinnen Männern zum Geschlechtsverkehr zur Verfügung gestellt wurden.

Zum Beispiel gab es im wohl größten sächsischen Wohnlagerkomplex Margarethenhain bei Espenhain ab April 1943 ein Bordell in einer der Baracken. Hier mussten Frauen aus Frankreich und Polen Männer sexuell bedienen, als "Belohnung" für "verdiente Zwangsarbeiter". Die Frauen mussten ohne Unterbrechung sechs Monate vor Ort arbeiten und hatten täglich 20 bis 30 Freier. Eine Folge waren ungewollte Schwangerschaften. Im Lager Espenhain sollen zwischen 1942 und 1945 mindestens 46 Kinder geboren worden sein, von denen 39 als "Zwangsarbeiterinnenkinder" zählten. Was wurde aus den Kindern, ihren Müttern, den Erzeugern? Was erzählten die ihren Kindern?

Historische schwarz-weiß-Aufnahme. Aus einem Zugwaggon ohne Fenster gucken drei Kinder, etwa vier Jahre alt, aus einer heruntergelassenen Klappe heraus
Kinder aus einem Zwangsarbeiter-Lager bei Braunschweig fahren am 13. Mai 1945 in eine ungewisse Zukunft. Bildrechte: IMAGO/Photo12

Das große Schweigen nach dem Krieg

Oftmals vermutlich nichts. So wie bei Natascha Wodin, der mehrfach ausgezeichneten Schriftstellerin. Ihre Eltern waren 1943 von Mariupol vor der russischen Armee nach Rumänien geflüchtet und schließlich in ein Arbeitslager in Leipzig verschleppt worden. Wodin erzählt im Film "Unter Deutschen" davon: "Sie waren beim Flick-Konzern in Leipzig. Das war ein Außenlager des KZ Buchenwald. Die mussten in der Flugzeugfabrikation Bomben gegen ihr eigenes Heimatland herstellen." In Leipzig existieren 1944 mehr Lager für Zwangsarbeiter als Straßenbahnhaltestellen: rund 500. Und diese Unterkünfte lagen keinesfalls außerhalb der Stadt.

Zwangsarbeit für den Flick-Konzern in Leipzig

Seit 1932 gehörte die Allgemeine Transportanlagen GmbH (ATG) zum Friedrich-Flick-Konzern. Ab Mitte der 1930er-Jahre stellte die Firma in Massenfertigung Flugzeugteile her und war ein bedeutender Zulieferer der Luftrüstung. Der ATG gehörten verschiedene Leipziger Zuliefererfirmen wie die Leipziger Werkzeug- und Gerätefabrik. Die ATG betrieb mindestens 20 Zwangsarbeitslager in Leipzig. 1943 betrug der Anteil der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter an der Gesamtbelegschaft etwa 25 Prozent, im Jahr 1944 etwa 40 Prozent.

Zwangsarbeit prägt das Leben der Nachgeborenen

Eine dieser Zwangsarbeiterinnen in Leipzig war Jewgenija Iwaschtschenko, die sich als 36-Jährige nach dem Krieg das Leben nahm und eine Tochter zurückließ: Natascha Wodin.

Nach dem Krieg waren Jewgenija und ihr Mann Jakow Wodin wie rund eine Million andere "Displaced persons" auch in Deutschland geblieben. Sie wurden in Fürth sesshaft. Ihre Tochter Natascha ziehen sie in dem "Wissen" groß, dass ihre Eltern russische Emigranten seien. Erst spät deckt sie das Geheimnis ihrer Eltern auf und schreibt Bücher darüber. Sie skizziert ihr Leben und das ihrer Eltern in der dreiteiligen Dokumentation "Unter Deutschen" so: "Wir waren ausgegrenzt bei den Deutschen. Denen galten wir als Kommunisten. Das war absurd, denn wir sind ja nun gerade vor denen geflohen. Trotzdem waren wir die Kommunisten, die Bolschewisten, die bösen Russen. Nach der Schule, in Forchheim, begannen sehr oft die Hetzjagden und dann jagten die mich bis zu den Blocks, in denen ehemalige Zwangsarbeiter wohnten."

Ihr Vater, sagt sie, hätte das Leben in Deutschland nie richtig angefangen. "Er hat insgesamt fast 50 Jahre in Deutschland gelebt. Der konnte nicht viel mehr sagen als 'brauche' und 'brauche nichts', das waren seine Standardwörter. Er hat das Leben in Deutschland nie begonnen, glaube ich." Ihre Mutter nimmt sich 1956 das Leben.

Zwangsarbeiter: "zerstörte Menschen"

"Meine Eltern waren zerstörte Menschen. Die Verschleppung und die Zwangsarbeit und dann die Verachtung in Deutschland. Ich glaube, das spielte eine große Rolle. Das hat auch für mich noch große Folgen gehabt." Der Suizid der Mutter, der Vater, der sich nie auf das Leben in Deutschland einlassen konnte, prägten das Leben der Schriftstellerin. Sie ist heute eine der Stimmen, die in ihren Büchern einen Aspekt der NS-Zeit sichtbar macht, den junge Leute bis heute noch nicht mit der deutschen Geschichte verbinden.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Unter Deutschen – Zwangsarbeit im NS-Staat | 14. Mai 2023 | 23:05 Uhr

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