KZ Bergen-Belsen sollte verfilmt werden Warum Film-Material über die Befreiung vom KZ Bergen-Belsen verschwand
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14. April 2021, 14:56 Uhr
Als die britischen Truppen im April 1945 das Konzentrationslager Bergen-Belsen erreichen, sind auch Kameramänner unter den Soldaten. Sie sollen im Auftrag der Regierung die Befreiung dokumentieren. Die Kameraleute filmen tagelang. Es entstehen schockierende Aufnahmen - Material, aus dem der britische Filmregisseur Alfred Hitchcock später einen Lehrfilm machen soll. Doch dazu kam es nicht.
Das Szenario, das sich den Alliierten bei der Befreiung der deutschen Konzentrationslager 1945 zeigt, war grauenvoll. Unter Alfred Hitchcocks Regie sollte aus den Filmaufnahmen, die britische Soldaten machten, ein Lehrfilm für die "ganze Menschheit" werden. Die Dokumentation "Night Will Fall" zeigt, warum das aufwühlende Filmmaterial in den Archiven verschwand.
Worum geht es in dem Film?
Als die britischen Truppen im April 1945 das Lager Bergen-Belsen erreichen, sind auch Kameramänner unter den Soldaten. Sie sollen im Auftrag der Regierung die Befreiung dokumentieren. Doch auf das, was sie hier erwartet, sind sie nicht vorbereitet: Das Lager ist überfüllt, die meisten Häftlinge sind halb verhungert und überall finden sie Tote, mehr als 10.000, nicht begraben, nicht einmal bedeckt. Die Kameraleute bleiben und filmen - tagelang.
Ich gab die Anweisung, alles zu filmen, was eines Tages beweisen würde, dass dies wirklich geschehen war. Der Film sollte eine Lehre für die Menschheit werden, auch für die Deutschen. Für sie machten wir diesen Film.
Inmitten deutscher Landidylle offenbart sich Unvorstellbares
Es sind die letzten Tage des Krieges. Noch weiß die Welt nicht, dass der Name Auschwitz für eine systematische deutscher Vernichtungspolitik steht. Der Film der Briten heißt "Factual Survey", "Fakten-Ermittlung" und zunächst soll er die Verbrechen der Nazis belegen. Doch fertiggestellt wird er nie.
Die Dokumentation "Night Will Fall" rekonstruiert die Geschichte seiner Entstehung. Regisseur André Singer holt dafür Soldaten, Kameraleute und Überlebende der Lager vor die Kamera und lässt sie erzählen. "Ich dachte", sagt einer, "dass ich irgendwann Ruhe finde. Aber es lässt einen nicht los."
Der Geruch der Lager, das Krematorium lief noch. Die toten Körper wie Holzscheite übereinander gestapelt. Es ist schwer vorstellbar, mit normalem menschlichem Verstand. Ich habe in die Hölle gesehen.
Eine dieser Geschichten ist die von Anita Lasker-Wallfisch: Eine deutsche Jüdin aus Breslau, die heute in England lebt. Sie stammt aus einer Musikerfamilie und wurde ins KZ Auschwitz deportiert. Dass sie selbst Cello spielt, rettet ihr das Leben - sie spielt im Häftlingsorchester und muss oft für den KZ-Arzt Josef Mengele auf dem Cello musizieren. Im November 1944 wird sie nach Belsen-Bergen verlegt, wo sie bei der Befreiung des Lagers von britischen Soldaten gefilmt wird. Sie ist damals glücklich und gleichzeitig geschockt, denn sie hatte nicht mehr erwartet, zu überleben. Sie erinnert sich:
Wir haben gelebt und wir sind nicht tot - das war ein Wunder. Jetzt sind wir also befreit, also wohin gehen wir jetzt? Was die Engländer gemacht haben, ist vollkommen logisch, die wollten, dass wir irgendwo hingehen. Nach Hause gehen, 'nach Hause gehen'. Was man nicht realisiert, ist, dass es kein Zuhause mehr gab!
Normalerweise breche ich in solchen Momenten ab. Ich sage, nehmen Sie sich Zeit, lassen Sie uns eine Pause machen. Aber hier war es so, dass jeder von ihnen gesagt hat: 'Nein, es ist wichtig, dass wir weitermachen.' Sie wollten der Welt unbedingt ihre Geschichte erzählen! Wir haben sie nur zusammengefügt.
In den Lagern geht es Zehntausenden wie Anita Lasker-Wallfisch. Die Lager-Überlebenden bleiben, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen - kein Land will sie aufnehmen. Doch sie beginnen, sich ihr Leben zurückzuholen - jedes Kleidungsstück ist für sie ein Stück Würde. Auch diese Verwandlung halten die Kameras fest.
In London trifft unterdessen Filmmaterial nicht nur der britischen, sondern auch von US-amerikanischen und sowjetischen Einheiten ein. Die Regierung drängt darauf, den Film schnell fertigzustellen. Aber die Bilder übersteigen jede Vorstellungskraft.
Sie haben über 2.000 Meter Film – und die Dimension dieser Verbrechen ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht klar. Sie besorgen sich Informationen von Geheimdiensten und allen möglichen Quellen, um zu verstehen, was sie da vor sich haben. Das ist eine riesige Aufgabe!
Für Jahrzehnte verschwand der Originalfilm in den Archiven
Produzent Bernstein holt seinen alten Freund Alfred Hitchcock aus Hollywood dazu. Er soll ihm dabei helfen, den Film zu Ende zu bringen. Hitchcock sieht das Material und macht Vorschläge. Er will Karten verwenden, um zu zeigen, dass die Lager überall, mittendrin in Deutschland waren. So will er zeigen, dass Terror und Idylle direkt nebeneinander lagen.
Es ging ihm um die Behauptung, dass die Menschen nichts von den Lagern wussten. Dabei reichte ein Blick auf die Karte, um zu sehen, dass manche Lager direkt in der Stadt waren, dass Eisenbahnlinien und Straßen vorbeiführten. Es war also unmöglich, dass die Menschen nicht wussten, was dort vor sich ging.
Die Deutschen aufrütteln - mit einem Dokument des Leidens
Fünf Sechstel des Films sind fertig, als er im September 1945 plötzlich gestoppt wird. Ein "Gräuelfilm" sei derzeit nicht erwünscht, lässt das Außenministerium per Brief ausrichten. Dann verschwindet das Projekt in den Archiven. Toby Haggith vom Imperial War Museum in London, der an der Rekonstruktion beteiligt war, erklärt warum:
Der Film verpasst seinen Moment. Und wenn ein Film seinen Moment verpasst, ist er weg. Gerade so ein 'Lehrfilm'. Denn jetzt, im September, sind die Alliierten mit ihren Gedanken schon beim kommenden Winter: Viele Deutschen sind obdachlos, ihre Städte zerstört, es gibt nicht genug zu essen. Wer soll den Wiederaufbau leisten, wenn nicht sie? Haben sie nicht schon genug von ihren Gräueltaten gesehen? Jetzt ist die Zeit, aus Feinden Verbündete zu machen. Jetzt muss es weitergehen!
Einige der Aufnahmen wurden später in Kriegsverbrecherprozessen verwendet, sind zu Dokumenten des Leidens der Opfer geworden. Der Film "Night Will Fall" erzählt so nüchtern wie beeindruckend von ihrer Entstehung: Damals sollten Bilder wie diese die Deutschen aufrütteln, sie mit ihrer Schuld konfrontieren. Und heute?
Es ist für die heutige deutsche Generation doch ein irrsinniger Schock. Die wissen vom Holocaust, aber das zu sehen, ist doch nochmal eine ganz andere Sache. Es hat schon eine Funktion.
Filmpreise für "Night Will Fall"
Die MDR/Arte/NDR-Koproduktion wurde 2016 in New York mit dem "News & Documentary Emmy Award" in der Kategorie "Outstanding Historical Programming - Long Form" ausgezeichnet. Redaktion hatten Katja Wildermuth (MDR) und Barbara Biemann (NDR).
"Night Will Fall" hat schon zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den Peabody-Award 2016 in New York - die Peabody Awards sind die ältesten Filmpreise der Welt und renommiertesten der USA.
Zuvor war der Film schon mit dem The Avner Shalev Yad Vashem Chairman's Award, den Royal Television Society Award für den besten historischen Dokumentarfilm ausgezeichnet worden und war unter anderem für die British Independend Film Awards und den Grimmepreis nominiert.
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im Programm: 10. April 2021 | Night will fall - Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen | MDR 2:15 Uhr