PVC aus den Buna-Werken Warum Westarbeiter das modernste Chemiekombinat der DDR aufbauten
Hauptinhalt
07. September 2021, 16:35 Uhr
Plastik erlebte in den 60er Jahren einen regelrechten Boom. Doch nachdem in der DDR Ende der 60er Jahre wegen einer katastrophalen Explosion in Bitterfeld die Hälfte der PVC-Produktionskraft wegfiel, mussten die Werke in Buna modernisiert werden. Und zwar mit Geld und Arbeitern aus der Bundesrepublik. Diese waren in Halle-Neustadt stationiert. Sehr zur Freude der dortigen jungen Frauen, die trotz der Beobachtung durch die Stasi, die eine oder andere Liebschaft eingingen.
Die Buna-Werke sind das Wahrzeichen der DDR Chemieindustrie. Im Chemiedreieck Leuna-Schkopau-Bitterfeld gelegen, waren die Werke der Arbeitsplatz für mehr als 20.000 Menschen. Und das verdankte man besonders einem Produkt: Polyvinylchlorid. PVC war nach 1945 der meistproduzierte Kunststoff der Welt. Auch in der jungen DDR wuchs der Bedarf stetig, denn PVC war - und ist - extrem vielseitig verwendbar. Plaste galt als besonders modern und hielt in den 60er-Jahren vermehrt Einzug in die Haushalte der DDR.
Der Werbeslogan für die Bunawerke war Plaste und Elaste aus Schkopau. Der hing sogar an der Autobahnbrücke bei Dessau. Von Berlin kommend, da fuhr man genau auf den Slogan drauf zu. Das war in der DDR der Massenplast Nummer 1.
Den wachsenden Bedarf an PVC deckten in der DDR nur zwei Anlagen. Das Buna-Werk Schkopau und das Chemiewerk Bitterfeld: Standorte mit reichlich vorhandenen Rohstoffressourcen in unmittelbarer Umgebung, sowie einer großen Anzahl "chemieerfahrener" Arbeiter und Ingenieure. Doch 1968 geriet die PVC-Herstellung jäh ins Stocken.
Der große Knall - danach das Aus
In Bitterfeld explodierte die gesamte Werksanlage. Die Detonation war so gewaltig, dass in Bruchteilen von Sekunden der gesamte PVC-Komplex in Schutt und Asche lag. 42 Arbeiter kamen ums Leben, hunderte wurden verletzt. Veraltete Maschinen, marode Abdichtungen und Schlamperei im Betrieb waren die Ursachen der Katastrophe. Mit der Explosion von Bitterfeld wurde mit einem Schlag fast die Hälfte der gesamten PVC-Produktion der DDR ausgelöscht. Und danach auch nie wieder aufgenommen.
Die DDR hatte von der Voraussetzung her das Knowhow, die Möglichkeiten und hatte auch vom wissenschaftlichen-technischen Niveau die Kenntnisse, um so eine Anlage zu bauen. Was jedoch damals fehlte war die Technik.
Geld zum Bau einer neuen PVC-Anlage hatte das Kombinat nicht. PVC auf dem internationalen Markt einzukaufen war wirtschaftlich nicht zu vertreten. Die SED-Führung hatte nur eine Chance. Sie muss auf dem internationalen Markt einen Partner finden, der in kurzer Zeit eine neue PVC-Anlage errichten konnte. Neue wirtschaftliche Möglichkeiten brachte der 1972 zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausgehandelte Grundlagenvertrag.
Er regelte den Umgang der beiden deutschen Staaten miteinander und ermöglichte eine intensive Zusammenarbeit in politischen und wirtschaftlichen Fragen. Die Vereinbarung diente als Grundlage, mit dem Westen einen milliardenschweren Deal anzubahnen. 1974, auf der Leipziger Frühjahrsmesse, kam es zu ersten Gesprächen zwischen der SED-Führung und der westdeutschen Hoechst AG über den Bau eines neuen PVC-Komplexes am Chemiestandort Buna.
Größte Investition der DDR-Chemieindustrie
Den Zuschlag erhält die Firma UHDE, ein Industrieanlagenbauer, der zur westdeutschen Hoechst AG gehört. Die Baukosten zwischen 1,4 und 1,6 Milliarden D-Mark. Die größte Investition der DDR-Chemieindustrie. Normalerweise wurde so etwas auf DDR-Seite propagandistisch groß gefeiert. Doch in diesem Fall vierhielt sich die SED-Führung auffällig still. In der "Freiheit", dem Zentralorgan der SED-Bezirksleitung Halle, erscheint im Mai 1976 nur ein kleiner Artikel, der von der Vertragsunterzeichnung berichtet. Denn der Vertrag sah vor: 80 Prozent des hergestellten PVCs geht in den Westen - zur Abzahlung des Kredites. Die restlichen 20 Prozent darf die DDR behalten.
Modernstes PVC-Werk Europas
Im Sommer 1976 beginnen die Bauarbeiten. Eine Westbaustelle, mitten im Osten – ein politisch wie wirtschaftlich heikles Unternehmen. Der Plan sieht vor, dass bereits bestehende BUNA-Werk am nordwestlichen Rand zu vergrößern. Um 60.000 Quadratmeter. Einer Fläche, so groß wie neun Fußballfelder. In vier Jahren soll hier die größte und modernste PVC-Fabrik Europas entstehen. Bei einem Projekt dieser Größenordnung kann man schnell den Überblick verlieren. Deshalb wird der Komplex vorab als Modell im Maßstab 1 zu 33 gebaut. Teile davon existieren noch heute. Jedes Ventil, jede Rohrleitung wird am Modell genau geplant. Damit will man von vornherein Konstruktionsfehler vermeiden und ausschließen, dass man Teile verbaut, an die man später nicht mehr rankommt. Schließlich geht es um eine Bausumme in Milliardenhöhe.
Westarbeiter wohnen in Halle-Neustadt
Zu Spitzenzeiten arbeiten bis zu 2.500 Westdeutsche gleichzeitig an dem Komplex. 14 bis 16 Stunden täglich. Um Kontakte mit der DDR-Bevölkerung zu vermeiden, werden diese so nah wie möglich an der Baustelle untergebracht: im gerade entstehenden Neubaugebiet Halle Süd. Ganze Blöcke sind für Arbeiter aus dem Westen reserviert. Was zum Problem wird, wie sich der damalige Personalchef Thilo Kempen erinnert: "Das war das größte Problem. Weil die Wohnkapazitäten nicht frei zur Verfügung standen und die Wohnungen eigentlich schon der Bevölkerung zugesagt waren, für einen bestimmten Zeitpunkt, dass sie da einziehen konnten. Dann kam der Auftrag und es wurde dieser Wohnraum benötigt. Und da wurde denen ganz lapidar mitgeteilt, eure Wohnungen brauchen wir, ihr kriegt sie in drei Jahren."
Techtel-Mechtel im Visier der Stasi
Rund 2.000 Arbeiter fuhren am Wochenende nach Hause in den Westen. Doch die, die da blieben, hatten guten Kontakt zur DDR-Bevölkerung. Besonders zu den jungen Frauen Denn die westdeutschen Arbeiter hatten etwas, was das Herz so manche junger Hallenserin höher schlagen ließ: Westgeld. Mit diesem konnte man alles kaufen und in jedes Klubhaus.
Besonders beliebt war das Hallenser "Schlößchen". Aber: solche Liebschaften waren gefährlich. Denn natürlich kannte die Staatssicherheit Treffpunkte wie das "Schlößchen" und schaute mit Argusaugen darauf, wer da mit wem anbandelt. Und auch die Bauherren aus dem Westen mussten sich etwas einfallen lassen, wenn einer ihrer Arbeiter beim Techtel-Mechtel mit einem Ostmädchen erwischt wurde.
Prestigeobjekt der modernen DDR-Chemieindustrie
Nach 47 Monaten Bauzeit wurde der PVC-Komplex von Hoechst an die DDR übergeben. Zwei Monate eher als geplant. Erich Honecker wollte die modernste PVC-Anlage Europas höchstpersönlich einweihen. Einen ganzen Tag nahm sich Erich Honecker für die Besichtigung der Anlage Zeit. Ab März 1980 lief die Produktion auf Hochtouren. Und schon acht Jahre später hatte die DDR ihre Schulden an den Westen abgezahlt. In Form von PVC-Lieferungen.
Doch mit der Wiedervereinigung 1990 wurde alle anders. Das Buna-Werk produzierte eine Million D-Mark Minus täglich. 1995 schöpften die Werker neue Hoffnung. Der amerikanische Chemiekonzern DOW übernahm den gesamten Standort. Heute beschäftigt DOW in Mitteldeutschland noch rund 1.500 Menschen, 100 davon im PVC-Komplex.