Trabi-Dieb bleibt acht Jahre unentdeckt So klaute ein VEB-Mitarbeiter 24 nagelneue Trabis
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11. August 2023, 11:00 Uhr
Wer in der DDR einen Trabi wollte, der musste geduldig sein. Bis zu 17 Jahre konnte es dauern, bis das nagelneue, langersehnte Auto endlich vor der eigenen Haustür stand. Noch 1987, zwei Jahre vor dem Mauerfall, gab es mehr als drei Millionen Vorbestellungen. Schneller an einen Trabant zu kommen, war schier aussichtslos. Was Kombinatsleitung und DDR-Regierung nicht in den Griff bekamen, machte einen VEB-Mitarbeiter in Zwickau erfinderisch.
Seit 1958 läuft der Trabant beim VEB Sachsenring in Zwickau vom Band. Thomas B., der dort seit seiner Jugend als Schlosser arbeitet, macht sich die Mangelwirtschaft der DDR zunutze. Angetrieben von finanziellen Nöten, beschließt er, einen Trabant aus dem Werk zu klauen. Was eigentlich eine einmalige Aktion sein soll, stellt sich für Thomas als luxuriöser Nebenverdienst heraus.
Anfangs wollte ich lediglich meinen Verdienst aufbessern. Als ich jedoch merkte, wie schnell und einfach man zu viel Geld kommen kann, stahl ich weiter.
Täter nutzt Schwachstelle im Betrieb aus
Das Werk in Zwickau war durch die Produktion, die auf drei Standorte verteilt war, kaum zu kontrollieren. Thomas B. erkennt die Schwachstelle des Betriebes und schmiedet einen ausgefuchsten Plan. Er bringt sein privates Kfz-Kennzeichen in der Werkspause an einem der nagelneuen Trabis an und wartet. Als dann das Transportfahrzeug die Neuwagen aus dem Betrieb fahren will, nutzt er die Gelegenheit. Thomas B. reiht sich hinter dem Laster ein und fährt gemeinsam mit ihm zum Ausgang des Werksgeländes. Nun steht ihm der schwierigste Part bevor. Er muss die Betriebswache überwinden. Gemeinsam nähern sie sich der Schranke, sie öffnet sich planmäßig und lässt das Transportfahrzeug passieren. Gespannt sitzt Thomas B. im Trabi. Werden sie die Schranke schließen? Muss er einen Passierschein vorzeigen? Sind die Kontrolleure skeptisch?
Nichts dergleichen passiert. Der Aufwand, die Schranke erneut zu schließen, um Thomas B. zu kontrollieren, ist für die Wächter zu groß. Sie winken ihn durch, ohne die Fahrzeugpapiere zu prüfen. Er zögert nicht und verlässt das Werksgelände. Thomas B. hat es geschafft. Er ist nun Besitzer eines neuen Trabis. In wenigen Minuten hat er das bekommen, worauf andere DDR-Bürger Jahrzehnte lang geduldig warten.
Um nicht aufzufallen, stellt er den neuen Trabant in einer nahe gelegenen Seitenstraße ab, kehrt zurück ins Werk und arbeitet bis zum Feierabend weiter. Erst Stunden später holt er gemeinsam mit einem eingeweihten Kumpanen den Trabi ab. Auch in den Tagen und Wochen darauf bleibt Diebstahl unentdeckt. Der Grund: die lückenhafte Kontrolle. Angestachelt von den ausbleibenden Konsequenzen macht er weiter.
Autodiebstahl mit Kalkül
Thomas B. handelt nicht impulsiv. Er verkauft die geklauten Trabis nicht direkt weiter, sondern fährt sie Wochen später in weit entfernte Werkstätten. Die Mitarbeiter sind eingeweiht und helfen ihm, die Herkunft der Autos zu verschleiern. Gemeinsam montieren sie die Fahrgestellnummern der gestohlenen Trabis ab und ersetzten sie durch die Schilder alter, schrottreifer Fahrzeuge. Die gestohlenen Wagen hüllen sich nun in ein legales Gewand mit gültigen Papieren.
Der Wert der Fahrzeuge lag bei etwa einer Viertelmillion DDR-Mark, und das war eine enorm große Summe. Wenn man sich vorstellt, dass der Durchschnittsverdienst in der DDR bei etwa 1.300 Mark lag am Ende, viele Menschen natürlich auch weniger verdient haben, dann kann man sich ausrechnen, dass das enorme Beträge gewesen sind.
Die Käufer ahnen nichts und legen der Werkstatt bereitwillig den Kaufpreis für den nagelneuen Trabant auf den Tisch. Die Zusammenarbeit von Thomas B. und den Werkstätten zahlt sich aus.
Dem Luxus folgt Übermut
Insgesamt klaut der Schlosser 24 Trabis aus dem volkseigenen Werk und bringt sie über diese Methode unters Volk - ein Nebengeschäft mit gutem Erlös. Er unternimmt teure Flugreisen und lebt acht Jahre lang auf großem Fuß. Seine Mitmenschen werden skeptisch. Wo hat Thomas B. das Geld für die teuren Luxusgüter her, die er ständig kauft? Im April 1988, acht Jahre nach seinem ersten Diebstahl, fliegt er schließlich auf.
Der 41-Jährige wird festgenommen. Sein Prozess steht unter keinem guten Stern, denn der beklaute Staat nimmt den Fall besonders ernst. Im Saal des Bezirksgerichtes Karl-Marx-Stadt bleibt kein Platz leer. Das Urteil soll künftige Langfinger abschrecken und unterstreichen, welche Bedeutung der größte Pkw-Hersteller der DDR für die Ökonomie hat. Der Dieb Thomas B. bekommt die höchste Strafe aufgebrummt, die es für Diebstahl sozialistischen Eigentums gibt: zehn Jahre Haft. Nach der Wende wird diese Strafe im Rahmen der praktizierten Amnestie auf fünf Jahre halbiert. Auch für die nichts ahnenden Käufer hat das Gerichtsurteil Folgen. Sie alle müssen ihre Trabis dem VEB Sachsenring zurückgeben.
Diebstahl als Folge der DDR-Mangelwirtschaft?
Neben Trabis gab es in der DDR noch viele weitere Waren, an denen es den Bürgerinnen und Bürgern im alltäglichen Leben mangelte. Besonders hoch waren die Versorgungsengpässe bei Kleidung, Möbeln, Bettwäsche, Fleisch, Wurst, Obst oder Gemüse. Die volkseigenen Betriebe, die diese Waren produzierten, wussten, dass einige Mitarbeiter hin und wieder zu Langfingern wurden. Die geklauten Waren nutzten sie entweder zur eigenen Versorgung oder, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.
Neufahrzeuge aus einem Betrieb zu entwenden, das war natürlich ein Sonderfall. Gleichzeitig ist es aber auch ein Symptom für ein größeres Problem in der DDR-Wirtschaft gewesen, der Planwirtschaft, weil sie dort ja Mangel hatten in vielen Bereichen.
Auch wenn Trabi-Diebstahl eine andere Größenordnung hat, als Süßigkeiten in der Jackentasche verschwinden zu lassen, war es eine absehbare Folge der DDR-Wirtschaft. Denn wo Mangel herrscht, kommt es zu Organisations- und Improvisationstalent.
Dieser Artikel wurde erstmals 2020 veröffentlicht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 25. Oktober 2020 | 22:25 Uhr