Leipzig Vom Schlachthof zum Fernsehsender: Erinnerungen ans Fleischkombinat "Delicata"
Hauptinhalt
29. Juni 2022, 09:44 Uhr
Auf dem Leipziger MDR-Gelände werden heute Nachrichtensendungen, Unterhaltungsshows, Arzt- und Zoo-Serien produziert. Und früher? Tonnenweise Fleisch und Wurst – und das in direkter Nachbarschaft zum Wohngebiet. 1991 war Schluss, dem Areal mit den markanten historischen Backsteinbauten drohte der Abriss. Auch wenn das 30 Jahre her ist, ehemalige Mitarbeiter erinnern sich noch gut an ihre Zeit im VEB Fleischkombinat "Delicata", an die Pleite und den Bau der MDR-Sendezentrale in den 1990er-Jahren.
"Brutal und absolut gewöhnungsbedürftig!" So erinnert sich Peter Maciej an seine Zeit im VEB Fleischkombinat "Delicata", als er nach mehr als 30 Jahren wieder auf dem einstigen Betriebsgelände steht. "Aber ohne uns wäre das Schnitzel nicht auf den Tisch gekommen!", fügt er hinzu. Eigentlich hatte der gebürtige Pole Lebensmitteltechnologie studiert. Als er 1975 für ein Praktikum in den Betrieb nach Leipzig kommt, lernt er erstmal, Schweine im Akkord zu zerlegen.
Als Praktikant im VEB Fleischkombinat "Delicata"
Zu DDR-Zeiten ist der 1963 gegründete volkseigene Betrieb einer der größten Arbeitgeber der Stadt, angesiedelt auf einem Gelände im Leipziger Süden, das bereits eine rund hundertjährige Geschichte als Vieh- und Schlachthof hinter sich hat. Entsprechend schwierig sind die Arbeitsbedingungen. Täglich werden hier 1.800 Schweine, aber auch 300 Rinder und sogenanntes Kleinvieh geschlachtet und verarbeitet. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Wohngebiet – und zur Familienbäckerei Perduß, die es seit 1932 und bis heute gibt.
Antje und Thomas Perduß erinnern sich gut an die Geräusche und die Gerüche, aber auch an den Trubel im Laden. Das Kombinat bringt ihnen den ganzen Tag Kundschaft, manche kommen noch mit dem Schlachtermesser im Halfter. Bis die Bäckersleute ein Schild aufstellen, "dass das leider nicht geht", solche Auftritte, noch dazu mit Blut verschmierter Kleidung.
Historie: Der Leipziger Schlachthof wächst mit der Stadt (bitte aufklappen)
Dass die Schlachterei zur städtischen Angelegenheit wird, hat gesundheitliche Gründe. 1860 wird der Zusammenhang zwischen der Trichinose des Menschen und der Trichinenkrankheit des Schweins entdeckt. Daraus abgeleitet werden für Schlachtung und Fleischverkauf neue hygienische Anforderungen. Ab 1882 gibt es auch in Leipzig ein entsprechendes Ortsstatut. Mit dem sprunghaften Anstieg der Bevölkerung in den Städten wächst der Bedarf, die Schlachtung wird industriell betrieben. Aus wirtschaftlichen Gründen werden den Schlachthöfen oft auch Viehhöfe angegliedert – so wie in Leipzig.
Im April 1886 wird nach den Entwürfen und unter Leitung von Stadtbaudirektor Hugo Licht mit dem Bau eines neuen Schlachthofes im Leipziger Süden begonnen. Für den Ort zwischen Altenburger und heutiger Richard-Lehmann-Straße spricht die Gleisanbindung zum Bayrischen Bahnhof. Auf dem mehr als elf Hektar großen Areal werden zunächst 20.000 Quadratmeter bebaut, mit Markthallen für Rinder, Schweine und Kleinvieh, Marktstall, Schlachthallen für Großvieh und Schweine, Kühlhaus, Börsen- und Verwaltungsgebäude, Beamtenwohn- und Pförtnerhäuser, insgesamt rund 40 Gebäude.
Sind die Anlagen des Vieh- und Schlachthofes 1888 für eine Stadt von 175.000 Einwohnern ausgelegt, muss die "Anstalt" 1913 schon den Fleischbedarf von über 615.000 Menschen befriedigen. Deren wachsender Wohlstand führt zudem zu einem höheren Pro-Kopf-Verbrauch. Jahr für Jahr wird deshalb auf dem Gelände der städtischen Einrichtung neu gebaut und modernisiert. Die bebaute Fläche hat sich in 25 Jahren mit rund 48.243 Quadratmetern mehr als verdoppelt. Neu hinzugekommen sind u.a. eine Kleinviehmarkthalle (1892/93), eine zweite Rinderschlachthalle (1900), eine neue Dampftalgschmelze (1905) und eine zweite Schweineschlachthalle (1907).
1912 beginnt der Bau der neuen Großvieh- bzw. Rindermarkthalle, der erst nach dem Ersten Weltkrieg 1919 endgültig abgeschlossen werden kann. Die Kapazität der Großviehschlachthalle ist für 250 Rinder ausgelegt, die Schweineschlachthalle für etwa 800 bis 900 Schweine.
Für das Grundstück werden 942.446 Mark, für den Bau 3.414.130 Mark, für angrenzende Straßen 90.000 Mark ausgegeben, "in Summa 4.446.576 Mk".
Quelle: Doris Mundus, Triangel 2000 / MDR
Forschung am Produkt: Wieviel Wasser passt in die Bockwurst?
1977 hat Gisela Übermuth im Schlachthof-Labor angefangen, dort sind vor allem Blut- und Fleischproben zu kontrollieren.
Doch es wird auch am Produkt geforscht: "Wir haben geguckt, wieviel Wasser in die Bockwurst passt. Es waren 50 Liter auf 100 Kilo. Das war die Grenze, dann platzte alles auf."
Außerdem wird der Leipziger Zoo beraten, wo zu einseitig ernährte Tiger unter schlechten Zähnen leiden: "Da haben wir geguckt, was hat Wild für eine Fettsäurezusammensetzung, wie ist das beim Rind, was muss man zusetzen beim Füttern?"
In der Produktion geht es vor allem um Masse, Planerfüllung hat oberste Priorität. Peter Maciej erinnert sich heute noch an die Vorgaben: "Zwischen 98 und 104 Tonnen haben wir praktisch jeden Tag ausgeliefert. Das ist eine ganze Menge, die erstmal produziert werden musste. Niemanden interessierte, ob das ökonomisch geht."
Allerdings verschwindet die eine oder andere Lende bereits auf dem Gelände, wie Maciej zugeben muss. Gisela Übermuth kommt in diesem Zusammenhang auf die so genannte Schlaraffenlandstrecke zu sprechen: "Die frische Wurst kam unten aus den Rauchkammern und fuhr in Wagen auf Laufbändern zum Lager." Frische Ware, unwiderstehlich duftend und zum Greifen nah.
1.700 Beschäftigte zu DDR-Zeiten
Das Kombinat ist damals dringend auf Vertragsarbeiter aus Polen, Kuba oder Vietnam angewiesen. Für den Job in Leipzig verlässt Quang Vinh Dao seine Heimat, die noch von Krieg und Armut gezeichnet ist: "Wir haben gesagt, egal wo oder was wir machen, Hauptsache wir können kommen." Schließlich wird er zum Wurstkochen eingeteilt, eine Aufgabe, die er recht ungewöhnlich findet so wie das ganze riesige Fleischkombinat. Dann landet der geschickte Handwerker, der nach Feierabend auch Jeans zu nähen weiß, in der Betriebsschlosserei.
Peter Maciej, Gisela Übermuth und Quang Vinh Dao sind drei von ehemals 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die nach der Wende ihren Job im Kombinat verlieren. Im Juni 1990 wird der volkseigene Betrieb in Leipzig aufgelöst und in eine GmbH umgewandelt. Einer der größten Fleischverarbeiter, die Südfleisch AG aus München, will einsteigen, um den Markt im Osten zu erschließen. Gisela Übermuth staunt damals, wie schnell die Produktion abgewickelt wird, während Südfleisch auf dem Gelände zwei Zelte aufstellt, um die eigene Ware zum Verkauf anzubieten, "hauchdünn geschnitten", wie sich die Laborantin erinnert: "Das ging mit unserer Wurst nicht, weil die nicht so viele Stabilisierungsstoffe hatte". Dafür machen die "eine stumpfe Zunge".
Die große Pleite nach der Wende
Insgesamt bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Denn es gibt keine Rettung, statt dessen droht laut Medienberichten "eine der mächtigsten Pleiten Mitteldeutschlands". Schließlich wird 1991 einer der größten Schlachthöfe Deutschlands, der gleichzeitig als "einer der größten Umweltsünder der Region" als "nicht förderungswürdig" gilt, geschlossen und von der Treuhand verwaltet. Gisela Übermuth beräumt mit einer Kollegin noch die Laboretage. Alles auf dem verwaisten Gelände scheint ihr auf einmal "liederlich" und "so abgerissen".
Tabula rasa?
Auch wenn Peter Maciej genau wie Gisela Übermuth schnell wieder einen Job findet, zieht es ihn später nochmal auf das marode Areal zurück. In den alten Garderoben sieht der ehemalige Produktionsleiter Arbeitskleidung an den Haken hängen: "Man hat hier ein Drittel seines Berufslebens verbracht und dann haste gesehen, wie schnell das geht: Dass nix bleibt, nur eine Ruine. Das war nicht schön."
Den Vertragsarbeitern bietet man ein Flugticket und 3.000 Mark an, damit sie zurück in ihre Heimat gehen. Doch Vinh Dao entscheidet sich dagegen. Später gelingt ihm der Neuanfang mit einem Restaurant. Die Bäckerei Perduß verliert zwei Drittel ihrer Kundschaft, besteht aber in der Nachbarschaft, während dem riesigen Schlachthof mit seinen alten Backsteingebäuden der Abriss droht.
Sendezentrale des Mitteldeutschen Rundfunks
Doch 1991 findet sich doch noch ein Interessent: Der neu gegründete Mitteldeutsche Rundfunk braucht eine Sendezentrale. Die heutige Intendantin Karola Wille verhandelt damals als Juristin den Kauf und sagt, sich auf dem heruntergewirtschafteten Gelände eine moderne Rundfunkanstalt vorzustellen, habe viel Fantasie gebraucht. Zumal es eine besondere Herausforderung gibt: Weite Teile stehen unter Denkmalschutz. Von den historischen Backsteinbauten soll so viel wie möglich erhalten bleiben. "Wir haben gesagt, wir haben ja auch so was wie einen Kulturauftrag", erklärt die Intendantin im Rückblick, ohne zu verhehlen, dass die Konsequenz des Denkmalschutzes beachtlich gewesen ist.
Bei der Sanierung der ehemaligen Fleischbörse, heute Sitz der Intendanz, wird dann allerdings auch ein besonderes Juwel entdeckt: der neun Meter hohe Börsensaal mit seinen wertvollen Wandbemalungen, die an Höfe der italienischen Renaissance erinnert.
Historie: Der Leipziger Schlachthof wird zur MDR-Zentrale (bitte aufklappen)
Nach der Wende wird das Schlachthofgelände von der Treuhand verwaltet, Nachfolger des volkseigenen Schlachthofes wird eine GmbH, die jedoch bald Pleite ging. Für die Stadt Leipzig, die als frühere Eigentümerin des Grundstücks frühzeitig Rückgabeansprüche bei der Treuhandanstalt angemeldet hat, ist das Areal einer der bevorzugten Standorte für den neuen Mitteldeutschen Rundfunk. Der sollte laut Staatsvertrag vom 31. Mai 1991 in der Stadt an der Pleiße seinen Hauptsitz haben. Der Intendant zieht zunächst in das schon zu DDR-Zeiten genutzte Funkhaus in der Leipziger Springerstraße, aber schon im Dezember 1991 erwirbt der MDR das einstige Schlachthofgelände.
Für den Standort sprechen die ideale Größe, der annehmbare Preis und die günstige Verkehrsanbindung. Von Anfang ist klar, dass die Umgestaltung zum Fernseh- und Verwaltungszentrum des Senders mehrere Jahre in Anspruch nehmen werden. Deshalb wird das Fernsehen bis Mitte 2000 von provisorischen Standorten in Dresden aus produziert und gesendet. Auf dem früheren Schlachthofgelände, auf dem der MDR denkmalgeschützte Gebäude erhalten und rekonstruieren will, beginnen umgehend erste Baumaßnahmen. Schritt für Schritt werden die Alte Fleischerbörse, zwei Beamtenwohnhäuser, das Pförtnerhaus, die Remise, ein ehemaliger Pferdestall oder der einstige Hornviehmarktstall als Büro-, Sitzungs- oder Technikräume saniert und umgebaut.
Anfang 1993 kann Intendant Udo Reiter in die Börse einziehen. Für die weitere Gestaltung seiner Fernseh- und Verwaltungszentrale schreibt der MDR Mitte 1994 einen Wettbewerb für Architekten und Architektenbüros aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen aus. Realisiert wird nach Überarbeitung der mit dem 2. Preis gewürdigte Entwurf der Arbeitsgemeinschaft GPS/Struhk & Partner. Im Herbst 1997 wird der Grundstein für das größte Investitionsvorhaben des MDR gelegt, ein Jahr später die Richtkrone aufgezogen. Mit MDR aktuell kommt am 14. Mai 2000 die erste Sendung aus dem Neubau in Leipzig, am 13. Juli 2000 wird die Sendezentrale offiziell eingeweiht.
Für einige marode Schlachthofgebäude gibt es dagegen keine Rettung. Auch für die Kleinviehhalle hat die Stadt bereits eine Abbruchgenehmigung erteilt. Der MDR entscheidet sich für den Erhalt, lässt Gewölbe und gusseiserne Säulen aufwendig rekonstruieren.
Heute befindet sich hier u.a. die Kantine, die Peter Maciej 30 Jahre nach seinem letzten Besuch auf dem Gelände staunend betritt: "sehr liebevoll und stilvoll aufgearbeitet das Ganze", lobt er. Damals nach der Wende hat er beim Blick auf die Ruinen gedacht: "Das ist in ein paar Jahren alles weg." Eins aber wird er wohl auf ewig vermissen: "Die beste Cervelatwurst ever wurde in Leipzig produziert. Ich habe noch keine bessere Salami gegessen, das ist Fakt."
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke wo du lebst | Das MDR-Gelände in Leipzig: Vom Schlachthof zur Sendezentrale | 05. April 2022 | 21:00 Uhr