Lexikon: DDR-Wohnungsbau Der Traum von der Platte
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24. November 2021, 17:00 Uhr
Die DDR war ein Land der Wohnungssuchenden. Riesige Plattenbausiedlungen sollten die Misere beseitigen. Doch den Preis zahlten die Altstädte - sie verfielen oder wurden einfach abgerissen. Sämtliche verfügbaren Bauleute waren im Neubauprogramm eingebunden, Material war auch kaum mehr übrig und Geld sowieso nicht.
Erich Honecker war gut gelaunt an jenem Sommertag des Jahres 1984, als er in Berlin-Marzahn die Zwei-Millionste Neubauwohnung feierte. Es gab Blumen und Sekt und das Fernsehen war auch dabei. Doch eins kam an diesem Festtag nicht zur Sprache: Dass das ehrgeizige "staatliche Wohnungsbauprogramm" bereits ein Milliardenloch in den Haushalt der DDR gerissen hatte. Was als soziale Wohltat angedacht war, begann sich zu einem ökonomischen Desaster zu entwickeln. Und ein Ende war noch gar nicht abzusehen - mindestens eine Million Wohnungen sollten in den kommenden sechs Jahren noch aus dem Boden gestampft werden, um das Wohnraumproblem in der DDR ein für alle Mal zu beseitigen.
Wohnraummangel von Anbeginn
Mangel an Wohnraum gab es in der DDR von Beginn an. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich viele Häuser in desolatem Zustand oder waren gar nicht mehr vorhanden. Hinzu kamen Millionen von Vertriebenen, die ebenfalls zügig mit Wohnungen versorgt werden mussten. Zunächst wurden Neubauten noch in klassischer Bauweise errichtet. Aber das hatte einen entscheidenden Nachteil: Es dauerte einfach zu lange. In den 1950er-Jahren wurde deshalb nach rationelleren Verfahren gesucht. Eine Lösung schien die Großplatten-Bauweise zu bieten. Einen ersten Versuch gab es 1953 in Johannistal bei Berlin. Vier Jahre später wurde die Stadt Hoyerswerda zum groß angelegten Experimentierfeld für den industriellen Wohnungsbau. Dabei bedienten sich die Planer vor allem auch der Ideen der "modernen Architektur", wie sie etwa in den 1920er-Jahren im "Bauhaus" entwickelt worden waren.
"Jedem eine eigene Wohnung"
1972 wurde im Rahmen der von Honecker proklamierten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" das "Staatliche Wohnungsbauprogramm" aufgelegt. Bis 1990 sollte die Wohnungsnot in der DDR beseitigt sein. "Jedem eine eigene Wohnung", lautete das durchaus ehrgeizige Ziel der SED. Von 1973 an wurden in höchstmöglichem Tempo in allen Bezirken der DDR an den Stadträndern Neubaugebiete in Großplatten-Bauweise errichtet. Es entstanden neue Stadtteile oder komplette Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern wie Halle-Neustadt. Die Wohnungen waren genormt und sahen überall gleich aus.
Klassenlose Gesellschaft in der Platte
Doch die Plattenbauten - die ganz nebenbei die Illusion von der klassenlosen Gesellschaft stärkten, wohnten doch Leute aus den verschiedensten Schichten in ihnen beieinander - erfreuten sich tatsächlich großer Beliebtheit, und wer eine Wohnung ergattert hatte, schätzte sich glücklich: Es gab Bäder und Warmwasser, manchmal sogar einen Balkon, und das lästige Kohlenschleppen entfiel auch. Und bezahlen mussten die Bewohner einen eher symbolischen Mietzins, der nicht einmal annähernd die Kosten deckte: maximal 1,25 Mark pro Quadratmeter inklusive Heizung und Warmwasser. Den Rest steuerte der Staat bei. Ein ökonomischer Irrsinn, der sich irgendwann rächen musste.
Sparpolitik
Anfangs waren die Plattenbausiedlungen noch großzügig geplant worden, mit Schulen, Kindergärten, Spielplätzen, mit Kaufhallen, Wohngebietsgaststätten und gelegentlich gar mit Schwimmhallen. Später fielen diese so genannten "Sonderbauten" mehr und mehr dem Rotstift zum Opfer. Und auch in den Wohnungen selbst wurde gespart. Aus der Dreiraumwohnung machte beispielsweise eine hinzugefügte Wand eine Vierraum-Wohnung und als Heizungsrohre fehlten, ersannen clevere Bauleute das "Einrohrsystem" ohne Röhre für den Rücklauf. Wenn es zu warm wurde, mussten eben die Fenster geöffnet werden ...
Die DDR blieb ein Land der Wohnungssuchenden
Doch trotz des gigantischen Wohnungsbauprogramms blieb die DDR ein Land der Wohnungssuchenden. Es existierte kein freier Wohnungsmarkt und die staatliche Wohnraumvergabe war ein Fiasko. Über die Dringlichkeit entschied ein Punktesystem auf dem Wohnungsamt. Schichtarbeiter und kinderreiche Familien hatten gute Chancen auf eine sogenannte "Wohnraumzuweisung", aber auch Beziehungen, politische Ämter und allerlei Tricks konnten von Nutzen sein. "Kommen Sie wieder, wenn sie verheiratet sind und Kinder haben", hörten junge Leute an den Sprechtagen jeden Dienstag auf der "Kommunalen Wohnungsverwaltung".
Ruinen schaffen ohne Waffen
Die Altstädte aber verfielen
Den Preis für Honeckers Neubauprogramm zahlten die Altstädte. Nur wenige Altbau-Viertel erhielten den Status eines "Rekonstruktionsgebietes". Sämtliche verfügbaren Bauleute waren im Neubauprogramm eingebunden, Material war auch kaum mehr übrig und Geld sowieso nicht. In der Regel wurden die Altstädte dem Verfall preisgegeben oder einfach abgerissen. "Ruinen schaffen ohne Waffen" hieß diese absurde Politik bei der Bevölkerung.
Eine Abschaffung der subventionierten Mieten wäre ein Weg gewesen, der Misere zu entkommen. Doch wie bei der Sozialpolitik und der Preisbindung für Waren des Grundbedarfes wich die Parteiführung aus Angst vor Unruhen in der Bevölkerung jeder Reform aus. "Ich lass mir doch nicht meine Politik kaputt machen", soll Honecker bei einer Sitzung gesagt haben, als man ihn auf die ökonomischen Belastungen durch das Wohnungsbauprogramm und die viel zu niedrigen Mieten aufmerksam machte. Und so wurde einfach weiter gemacht - bis zum Untergang der DDR.
Halle-Neustadt hatte keine Straßen ...
1964 gebaut, war die Stadt, die heute zu Halle gehört, nie mehr als eine Schlafstadt für Chemiearbeiter in Leuna und Buna und ihre Familien. Zu DDR-Zeiten gab es dort zum Beispiel nie ein Hotel oder ein Warenhaus. Das Rathaus wurde erst 1990 fertiggestellt.
"Ha-Neu" bestand aus acht Wohnkomplexen die jeweils zahlreiche Blöcke umfassten. Straßennamen existierten nicht. Stattdessen wurden alle Wohnblöcke und Eingänge nach einem kaum zu durchschauenden Prinzip mit dreistelligen Zahlen durchnummeriert.
So wohnten Halle-Neustädter zum Beispiel im Block 468, im Eingang 3. Die Postadresse lautete dann:
Fam. Müller-Meier,
Halle-Neustadt
Bl. 468/8
Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR ZEITREISE - Geschichtsmagazin mit Mirko Drotschmann | 13.02.2018 | 21:15 Uhr