Feldstudien in DDR-Städten Wie wohnte es sich in der DDR? - Studierende waren auf Erkundungstour in der Platte und im Altbau
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21. Januar 2023, 05:00 Uhr
Die maroden und vom Einsturz bedrohten Altstädte der DDR – sie waren 1989 Symbol für den Zusammenbruch des Sozialismus. Die "Platte" am Stadtrand war zu einem Versprechen geworden: Bäder mit WC und Warmwasser. Doch wie lebte es sich in den vom Verfall bedrohten Altstädten und wie in den Neubaugebieten der DDR? Dazu gab soziologische Studien. Im "kommunalen Praktikum" der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar begaben sich junge Leute zu Beginn ihres Architekturstudiums auf Erkundungsreise quer durchs Land und durften tief in das wahre Leben der DDR-Bürger schauen - eine einmalige Gelegenheit. Bernd Hunger war einer der Assistenten, die ab Ende der 1970er Jahre das Praktikum intensiv betreuten - von Rostock über Dessau bis Karl-Marx-Stadt und Erfurt.
Herr Hunger, was war die Idee dieser Feldstudie?
Die Idee dieses kommunalen Praktikums war, dass man direkt am Beginn des Studiums mit zwei Seminargruppen vier Wochen lang in eine Stadt hineinfährt und dort vor Ort ausgewählte, sehr komplexe Wohnquartiere untersucht. So haben die Studentinnen und Studenten der Stadt- oder Gebietsplanung gleich wichtige Eindrücke sammeln können.
Soziologische Studien in der DDR – wie kam es dazu und wurde das Projekt von Berlin unterstützt?
Da war eine sehr spannungsvolle Sache. Soziologie hatte ja immer noch den Hauch einer bürgerlichen Wissenschaft. Befragungen mussten vom Ministerpräsidenten persönlich genehmigt werden. Deswegen hat der Lehrstuhlinhaber Professor Staufenbiel gesagt, wir nennen das nicht Befragung, sondern wir machen Einwohnergespräche und die Städte haben da auch mitgemacht. Die lokalen Behörden und die lokalen Ämter und die waren ja auch sehr interessiert, manchmal etwas rauszukriegen und vor allem auch die Argumente der Studenten und der Hochschule zu verwenden, um eine Änderung in der Baupolitik hinzukriegen.
Was genau haben die Studenten in dem Praktikum gemacht?
Jeder Student, jede Studentin musste mindestens zehn Interviews mit Bewohnern führen. Es wurde beobachtet, fotografiert und sie sollten zeichnen, das Quartier auch räumlich vermitteln. Und das lief über vier Wochen vor Ort. Das Charmante an der Sache war, dass die Studierenden, bevor sie überhaupt studiert hatten, schon einen Einblick bekommen haben, wie das Verhältnis zwischen Raum und Menschen funktioniert. Der damalige Lehrstuhlleiter Professor Fred Staufenbiel hat das Projekt konkret einzelnen Städten angeboten, und die haben sich bereit erklärt, Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung zu stellen. Und dann fielen ungefähr 50 Studenten über diese Stadt her.
Dort wurden verschiedene Wohnquartiere definiert, meistens eine Großsiedlung im Innenstadtbereich, ein Gründerzeitgebiet, ein Einfamilienhausgebiet. Und in jeder dieser Siedlungen wurde die gleiche Methode, dieselben Fragen angewandt. Und da kann man sich vielleicht vorstellen, dass da zum Schluss in den Köpfen der Studenten ein sehr komplexes Bild nicht nur der einzelnen Quartiere, sondern der Stadt insgesamt entstanden ist.
Die erste größere Stadt, die im "kommunalen Praktikum" untersucht wurde, war Erfurt. Und die Ergebnisse der Studenten führten zu Kritik an der staatlichen Linie des Städtebaus. Warum?
Besonders dramatisch war es gleich am Anfang, als das erste größere kommunale Praktikum 1980 in Erfurt stattfand, in der Pergamanter Gasse im Andreasviertel. Da kam aus Sicht der Studierenden und erst recht aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner heraus, dass es ein Unding ist, dass die Stadt Neubaugebiete am Stadtrand weiterbaut und gleichzeitig der Altstadtkern verfällt. Also da war schon ein ziemlicher Pfeffer drin.
Das Interessante war aber eben, dass uns sehr, sehr viele Verantwortungsträger, Stadtarchitekten, aber auch Kulturstadträte auf der lokalen Ebene richtig unterstützt haben. Sie haben gesagt, schreibt alles auf, das wollen wir jetzt mal diskutieren und der großen politischen Führung in der DDR nahebringen. Das hat auch ganz gut geklappt. Wir haben in der Regel Broschüren draus gemacht, die wirklich republikweit gelesen wurden. Man kann sagen, wir waren auf der planerischen und intellektuellen Höhe der Zeit. Es war ganz klar, dass es so nicht weitergeht: In den Innenstädten faktisch weniger Wohnungen zu bauen, als an den Rändern der Städte, die Innenstädte verfallen zu lassen.
In Erfurt wurden die Bewohnerinnen und Bewohner des Andreasviertels befragt. Das Viertel sollte eigentlich seit den 1960er Jahren eine vierspurige Straße bekommen, um künftig den Domplatz und den Juri-Gagarin-Ring zu verbinden.
Die Studentinnen und Studenten hatten den Auftrag, das Viertel um die Pergamentergasse aufzunehmen und dort in diesen kleinen, wunderbaren, verwinkelt vorstädtischen Strukturen von Erfurt Interviews zu machen. Und so ist das Andreasviertel noch einmal entstanden, städtebaulich und sozial, als Milieu. Mit dem Ergebnis - das ist eine ganz, ganz tolle Sache. Hier müsst Ihr alles tun, um das zu erhalten, mindestens das städtebauliche Gefüge zu erhalten und den Leuten zu garantieren, dass sie dort wohnen bleiben können, falls sich etwas erneuert.
Was war den Leuten im Erfurter Andreasviertel so wichtig?
Wir haben gefragt, was sind die Vor- und Nachteile ihres Wohngebietes? Ist es laut oder leise, ist es gemütlich gebaut oder ist es eher ungemütlich. Womit sind Sie am meisten zufrieden in der Wohnung, im Wohngebiet? Fühlen Sie sich heimisch und so weiter. Und da kam immer wieder raus, dass natürlich die Wohnverhältnisse unbedingt verbessert werden müssen, also, Außenklo und so weiter, Zentralheizung. Aber die städtebauliche Struktur, diese Kleinteiligkeit, die Funktionsmischung, die Vielfalt der Stadträume, das alles sei ganz toll. Daraus leitete sich natürlich dann die Forderung der Leute ab: Tut alles um diese Strukturen zu erhalten. Es kann nicht sein, dass man hier abreißt und relativ unsensibel Wohnungsneubau betreibt.
Erfurt wollte eine solche Befragung durch die Studenten zunächst gar nicht?
Die DDR war ja in der auf der konkreten Handlungsebene der Menschen durchaus sehr vielfältig. Und beispielsweise hatte uns der sehr engagierte Kulturstadtrat von Erfurt eingeladen, diese Untersuchungen zu machen. Das fand der damalige Stadtarchitekt von Erfurt gar nicht so gut, weil seine Strategie schon noch eher darauf aus war, Neubaugebiete am Stadtrand als Schwerpunkt zu behandeln. Solche Spannungen gab es dann schon.
Welche Wirkung hatte das kommunale Praktikum?
Spätestens dann Ende der 70er-Jahre, genau als dieses kommunale Praktikum losgeht, haben Praktiker in den Büros für Städtebau, die Architekten, die Kommunalpolitiker gesehen, dass das ganze Wohnungsbauprogramm zu einseitig orientiert ist auf das Bauen am Stadtrand. Und alle suchten Argumente, wie man die politische und staatliche Führung der DDR dazu bringen kann, einen Kurswechsel hinzukriegen hin zu mehr Rekonstruktion.
Insofern fanden diese Ergebnisse auf der kommunalpolitischen Ebene bei denjenigen, die das ändern wollten, schon eine sehr positive Resonanz. Also eine Stadt, die das überhaupt nicht wollte, hätte gar nicht das Geld dafür auf den Tisch gelegt oder Unterkunft für die Studentinnen und Studenten bereitgestellt, sondern das war so ein Pingpong. Man hat gesagt Leute, wir können euch das anbieten, da kommen Ergebnisse raus, das haben junge Leute gemacht, die werden wir vorstellen. Die wurden auch vorgestellt und mit den Bürgern diskutiert, mit dem Oberbürgermeister, der immer dabei war. Aber die Städte musssten sich auch dieser Kritik aussetzen. Und dann haben Städte wie Erfurt eben doch mitgemacht, weil sich dieser Kulturstadtrat dafür stark gemacht hat. Und Karl-Marx-Stadt oder Dessau haben mitgemacht oder Rostock. Da haben die Chefs in den Rathäusern gesagt, okay, das finden wir gut, das gucken wir uns an. Und das Charmante war natürlich, dass das dann immer unter dem Label junge Leute und Studentenarbeit auch verkauft werden konnte.
Es war ein tolles Ausbildungskonzept und ein tolles Konzept, um einfach dranzubleiben an den Themen. Aber die ganz praktische Wirkung war von Stadt zu Stadt verschieden und hatte im Falle von Erfurt de facto gar keine Wirkung auf die Altstadt.
Haben Sie es geschafft, einen Kurswechsel in der Städtebaupolitik zu erreichen?
Nein, das haben wir nicht geschafft. Es mussten erst die Leute 1989 auf die Straße gehen und dafür eintreten. Was wir aber geschafft haben, ist, dass wir eine Studentengeneration ausgebildet haben, die auf höchstem Niveau war. Die genau wusste, was zu tun ist, die sofort nach der Wende in Lohn und Brot stand. Unsere Studentinnen und Studenten sind Baudezernenten geworden, haben Planungsämter übernommen. Also wir waren intellektuell einfach sehr, sehr gut auf diese Wende vorbereitet. Und andererseits haben diese Studien natürlich auch mit zum Erosionsprozess in der DDR beigetragen. So nach dem Motto: So kann es nicht weitergehen, das müssen wir anders machen. Das sagen ja sogar schon die Soziologen.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise | 11. Dezember 2022 | 22:00 Uhr