Neue Erkenntnisse Das Leipziger Modell '89 - Wie die Partnerschaft von Bürgern und Stasi den friedlichen Wandel prägte

16. Dezember 2022, 12:49 Uhr

Neue Erkenntnisse und Akten zur Stasibesetzung zeigen, dass die Stasi im November 1989 mit Schusswaffen drohte. Dennoch redete man miteinander. Der Dialog zwischen Stasi und Bürgern war schon vor der Besetzung der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit am 4. Dezember 1989 weit gediehen. Leipzig war offenbar zum Deeskalationsmodell geworden. Es entsteht der Eindruck einer moderierten Besetzung. Zu einem friedlichen Wandel gehören immer zwei.

Oft erscheint das Ende der Staatssicherheit als ein Volkssturm, der über die gelähmte DDR-Geheimpolizei hereinbrach und sie für immer hinwegfegte. Die Heldenrolle wird dabei meist regionalen Bürgerrechtlern zugeschrieben. Grob vereinfacht und mit weitem Abstand wirkt die Geschichte in der Tat so. Bei näherer, detaillierter Betrachtung ist diese Erzählung zu glatt, war die Stasi pfiffiger und flexibler im Umgang mit den Protestierern. Über die Rolle der Bürgerrechtler muss man oft rätseln und der eigentliche Furor ging wohl eher von mehr oder minder unpolitischen Bürgern aus, die gelegentlich auch über die Stränge schlugen. Dies zeigt eine Neubewertung von Akten aus Leipzig.

Herbst '89: Stasi-Zerschlagung rückt in den Fokus

Das Thema Stasi stand ursprünglich nicht als Nummer eins auf der Agenda des revoltierenden Volkes der DDR im Sommer und Frühherbst '89, auch wenn es im Raum mitschwang. Zunächst ging es um Reisefreiheit, Freiheit allgemein, den miesen Zustand der DDR, Honecker und seine SED, die knüppelnden Polizisten und Justizwillkür. Nachdem die Herrschenden Stück für Stück zurückweichen mussten, weil kein großer Bruder mehr bereit war zu helfen, rückte das Thema Staatssicherheit immer mehr in den Vordergrund. Mitte November auf den legendären Leipziger Montagsdemos, die zu dieser Zeit nach offiziellen Angaben auf ca.100.000 Teilnehmende angeschwollen waren, war die örtliche Stasi besorgt über eine "zunehmende Aggressivität", wie im Protokoll des Ministeriums für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Leipzig vom 12.11.1989 nachzulesen ist.

SED-Strategen verordnen Dialog statt Gewalt

Die regionalen Sicherheitsorgane, insbesondere die Stasi, wurden nervös. Die Demonstration, die traditionell einmal um den Altstadt-Ring zog, musste immer die sogenannte "Runde Ecke" passieren, wo sich die Geheimpolizei über die Jahre eine regelrechte Trutzburg mit einigen tausend Mitarbeitern aufgebaut hatte. Was, wenn erregte Bürger das Gebäude stürmen würden? Die Stasi war noch bewaffnet. Im November dachten auch einige "Stasi-Provinzfürsten" in einzelnen sächsischen Kreisdienststellen noch daran, sich notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Aber in der "Heldenstadt" Leipzig, wo die martialisch aufmarschierte DDR-Ordnungsmacht am 9. Oktober vor der Zahl der Demonstranten kapitulieren musste, schien diese Lösung kaum opportun. Zudem hatten die neue Staatsführung und SED-Strategen um Egon Krenz nach der Absetzung von Erich Honecker den Dialog ausgerufen. Sie hofften, durch Bürgerdialoge mit ihrer SED wieder in die Offensive zu kommen. Reden statt Zuschlagen war die Alternative zum Sicherheits-System Honeckers, die auch den bewaffneten Organen - samt Stasi - verordnet wurde. Also redeten sie.

Gipfeltreffen mit Bürgern und Stasi-Vertretern

Am 12. November 1989 um 17 Uhr kam es im Leipziger Haus der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft im Raum "Kiew". zu einem "Gipfeltreffen" besonderer Art. Bürgerrechtler und Vertreter der staatlichen "Schutz- und Sicherheitsorgane" trafen aufeinander, die Stasi war gleich mit zwei Offizieren präsent, Polizei und Feuerwehr begnügten sich mit je einem Vertreter. Der erste Termin am Morgen war noch gescheitert. Durch Vermittlung von zwei Vikaren, die zugleich in der Bürgerrechtsgruppierung "Neues Forum" aktiv waren, kam es dann doch noch zur einer Zusammenkunft.

Ob es wirklich die beiden die Initiatoren des Zusammentreffens waren oder ob die Sicherheitskräfte selbst daran gedreht hatten, muss vorerst offen bleiben. Das Protokoll schrieben jedenfalls die Staatsvertreter und auch das Thema "Sicherung der Gewaltlosigkeit", vor allem an den berühmten revolutionären Montagen, war als Hauptthema offenbar gesetzt. Edgar Dusdal, der heute Pfarrer ist, erinnert sich, dass die Staatsseite die Lage "dramatisch" darstellte. Sie präsentierten seiner Erinnerung nach Fotos mit Kerzen vor der Leipziger Stasizentrale, die Brandspuren am Gebäude belegen sollten.

Stasi: Deeskalation, sonst Waffengewalt?

Wenn man den Stasi-Protokoll Glauben schenken kann, ließen sich die 15 Bürgervertreter ohne große Umschweife darauf ein, Ideen einzubringen. Das Ganze liest sich in der Stasiverschriftung wie ein professionelles Deeskalationsmeeting zur Eindämmung von Fußballfans oder Kreuzberger Randalen. Das war ein "Einschüchterungsversuch", meint Dusdal heute. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass es zu keinen Übergriffen kommt, sonst müssten sie von der Schusswaffe Gebrauch machen, da bliebe ihnen keine andere Wahl.

Im Protokoll findet sich so ein Hinweis nicht. Ein bloßer Bluff war es allerdings auch nicht. Nach Lage der Akten galt der Schusswaffengebrauch Mitte November noch als Ultima Ratio der Stasi-Objektsicherung. Funde in Kreisdienststellen, für die die Leipziger Bezirksverwaltung verantwortlich war, zeigen, dass dort der Einsatz von Schusswaffen zu dieser Zeit noch erwogen wurde, um "aufdringliche Bürger" abzuwehren.

Herbst '89: Warum Leipziger Bürger und Stasi in den Dialog traten

Vielleicht erklärt die Drohung von Schusswaffeneinsatz, warum die Leipziger Bürger so konstruktiv mit den Vertretern der "bewaffneten Organe" sprachen, die ihnen noch kurz zuvor hochgerüstet gegenüber gestanden hatten. Man befand sich mitten in einem revolutionären Umbruch und dennoch hatte offenbar keiner grundsätzliche Einwände gegen diese Art der Gespräche. Das mag aber auch daran liegen, dass die Leipziger nach ihrem "Sieg" vom 9. Oktober selbstbewusst waren und sich seit diesem Termin mit den damaligen Vermittlern, darunter mehrere SED-Mitglieder und der Gewandhausdirigent Kurt Masur, eine Art "Miteinanderkultur" herausgebildet hatte. Schon zwei Tage nach der Großdemonstration, die nicht mehr unterdrückt werden konnte, führte der Leipziger Oberbürgermeister ein Gespräch mit leitenden kirchlichen Amtsträgern. Kurt Masur moderierte am Wochenende regelmäßig Gewandhausforen.

Der neue Geist, der in Leipzig wehte, war freilich nicht nur lokal ertrotzt, sondern Ergebnis des Strategiewechsels nach der Ablösung von Erich Honecker. So wurden den Stasi-Genossen in der Bezirksverwaltung als Ergebnis der 9. Tagung des ZK der SED mitgeteilt, dass es notwendig sei, "ehrliche und gemeinsame Arbeit der gesamten Bevölkerung und ehrlichen Dialog mit allen Bürgern auch mit Andersdenkenden" zu führen. Damit waren explizit auch die Mitglieder vom Neuen Forum gemeint. In der SED-Führung hatte sich inzwischen die Devise durchgesetzt, "Demonstration sind nur mit politischen Mitteln zu lösen". Anders als erhofft gingen nach dem Abgang Honeckers die Demonstrationszahlen nicht herunter, sondern stiegen weiter und auch die Forderungen der Demonstranten wurden immer breiter und grundsätzlicher. Dieser Trend sollte umgekehrt werden.

Stasi will im Dialog "feindliche Kärfte entlarven"

Wie schlitzohrig die Stasi-Leute ihren Dialog anlegten, zeigen die internen Arbeitsprotokolle der damaligen Dienstbesprechungen. Diese Gespräche dürften nicht zur Anerkennung des Forums führen, "feindliche Kräfte sind dabei zu entlarven". Entsprechend wurde in der Nachlese zu den Treffen zur Demonstrationsvorbereitung genau differenziert, wer sich sachlich und wer in der Diskussion "eine starke Ablehnung des MfS" zu erkennen gegeben und eher fordernd aufgetreten war. Keine Belanglosigkeit, da es das MfS in dieser Zeit immer als seine Aufgabe ansah, Verfassungsfeinde zu beobachten und seine Präventiv-Verhaftungslisten aktualisierte.

Das Leipziger Modell der Sicherheitspartnerschaft

Von dem ahnten die Bürger bei ihren Gesprächen offenbar nichts. Eher arglos besprachen sie deeskalierende Taktiken. Vor einer Polizeikette sollte eine zweite Kette aus Ordnern des Neuen Forum aufgestellt werden. Die Großdemo vom 4. November in Berlin diente bei derartigen Vorschlägen als Vorbild. Eher aus dem Kreis der Offiziellen dürfte der Vorschlag gestammt haben, 2.000 Ordner aus dem neuen Studentenrat zu rekrutieren. Mit tausenden Flugblättern und Megaphonaufrufen sei zur Gewaltlosigkeit aufzurufen, straßenmusikähnliches Entertainment könnte helfen, die Menge gegen Ende der Demo zu zerstreuen. Die Bürger konzedierten laut Stasiprotokoll sogar, dass die Sicherheitsorgane vor der Demo Alkoholisierte und Aggressive aus der Menge herauslösen sollten. Theologe Edgar Dusdal, der damals mit dabei war, meint aus heutiger Sicht, keiner habe widersprochen, weil ohnehin jeder wusste, dass es nachher anders kam. Schon fast zu brav wirkt es, dass die Bürgervertreter laut Protokoll ihr Gegenüber - Polizei und Stasi - fragten, ob der Staat nicht bei der Beschaffung der Schärpen behilflich sein und ihnen ein Büro stellen könnte.

Oppositionelle wehren sich gegen Stasi-Einfluss

Folgt man dem Protokoll des ersten Treffens vom 12. November 1989 hatten die Staatsvertreter es fast geschafft, die Opponenten des Staates einzuwickeln und zu Verbündeten zu machen. Wie wenig die Stasileute aber wirklich im Umgang mit Andersdenkenden geübt waren, zeigt ein Rundfunkinterview einige Tage danach. Im Rahmen der neuen Offenheit schwärmte Leipzigs Stasi-Chef Manfred Hummitzsch am 14. November vom "Ideenreichtum und der Konstruktivität der Bürgervertreter." Der Zeitzeuge meint, es gab damals eine ganze Reihe von Versuchen, die Bürgerbewegten zu instrumentalisieren. Dabei habe die SED versucht, sich "an die Spitze" zu stellen.

Diese öffentliche Funktionalisierung durch den Stasichef ging dann einigen Revolutionären, vor allem vom Neuen Forum, endgültig zu weit. Diese Ungeschicklichkeit führte zu einer gewissen Radikalisierung und es setzten sich nun die durch, die von den Stasivertretern die Vernichtung von Personendossiers, einen Untersuchungsausschuss, die rechtliche Verfolgung von Schuldigen und mehr Transparenz forderten. Sie fühlten sich von der Stasi "provoziert" wie auch schon durch die Kameraüberwachung der Demos. Beim zweiten Treffen am 16. November 1989 hatten die Bürger erst einmal genug. Daraufhin wurde eine "Denkpause" vereinbart, weil sie sich durch das Medienlob des Stasichefs zu sehr vereinnahmt gefühlt hatten, was ihnen schade.

Immerhin hatte sich zu diesem Zeitpunkt das Prozedere, was am 12. November 1989 vereinbart worden war, schon weitgehend eingespielt. Auch für Leipzig galt die sogenannte "Sicherheitspartnerschaft": Demonstrantenordner mit Schärpen "Keine Gewalt" vor der Runden Ecke gehörten zum "normalen" Bild der Demonstrationen vom 13. und 30. November 1989, wo den Angaben nach über Hunderttausende unterwegs waren.

Demonstration auf dem Nikolaikirchhof in leipzig
Demonstration auf dem Nikolaikirchhof in Leipzig. Bildrechte: MDR/WDR/Christa Köfer

Eskalation und erste Gespräche am "Runden Tisch"

Selbst bis nach Berlin in die Stasi-Zentrale wurde das Leipziger Modell bekannt. Die dortigen Auswerter dokumentierten, dass ihre Leipziger Kollegen "dem Neuen Forum für Schutz gedankt" hatten. Durch Dialog mit den Gruppen müsse "das Vertrauen des Volkes zur Staatssicherheit […] wiederhergestellt werden". Diese Sicherheitspartnerschaft sollte sich in gewisser Hinsicht auch am 4. Dezember bewähren: Es war der Tag, an dem erstmals in der DDR Stasi-Bezirks- und Kreisverwaltungen besetzt wurden. Das Ergebnis war allerdings in Summe ein anderes, als vom MfS erhofft. An diesem Tag drohte die Volksseele überzukochen. Enthüllungen über Aktenvernichtungen und Geldunterschlagungen, zuletzt die Flucht des ominösen Außenhändlers Schalck-Golodkowski am Wochenende zuvor, schienen die Leipziger Montagsdemonstration aus dem Ruder laufen zu lassen. Daran hatte zu diesem Zeitpunkt keiner der politischen Hauptakteure ein Interesse. SED und Opposition hatten sich für den 7. Dezember erstmals zum Runden Tisch verabredet, um den gesellschaftlichen Großkonflikt politisch zu lösen, der letzte SED-Ministerpräsident Hans Modrow hoffte, in diesen Tagen als ehrlicher Makler zu punkten.

Bürgerdelegation soll in Leipzig deeskalieren

Das in Berlin durchgespielte Szenario war dramatischer, ähnelte aber in Grundzügen dem Leipziger Modell. Vor allem der Deeskalationsvorschlag wirkte wie eine Weiterentwicklung der Leipziger Gespräche. Eine Bürgerdelegation sollte in Leipzig die "Runde Ecke" besuchen, sich in Anwesenheit von Medienvertretern von der ordnungsgemäßen Verwahrung der Akten überzeugen und dies noch vor Beginn der Demo am Gewandhaus auf dem heutigen Augustusplatz, damals Karl-Marx-Platz, der wartenden Menge laut mitteilen, um diese zu beruhigen. Die Ordner mit der beruhigenden Schärpe "Keine Gewalt" und das Zusammenspiel von Demoorganisatoren mit der Volkspolizei gehörten ohnehin zur Routine.

Was schön gedacht war, um die Stasi zu retten, geriet aus bis heute noch nicht wirklich geklärten Umständen für die DDR zum Fiasko, weil die örtlichen Stasi-Leute in Leipzig zu sehr auf Zeit spielten. In den Varianten, die zur Abwehr aufdringlicher Bürger dienten, war für den Notfall noch die Gewaltanwendung vorgesehen.

Stasi-Zentralen in Leipzig und Erfurt gestürmt

Am Montag, den 4. Dezember 1989, war die Lage vor der großen Demo in der Runden Ecke angespannt. Man hoffte auf die Volkspolizei, die von außen sichern sollte. Zur Besänftigung der Massen sollte über das örtliche Radio versprochen werden, dass die Runde Ecke bis April an die Stadtverwaltung abgegeben werde. Alle Genossen und Genossinnen sollten um ein Uhr nach Hause geschickt, Türen u. Eingänge verbarrikadiert werden. "Es ist damit zu rechnen, dass das Objekt abgeriegelt wird", heißt es.

Die Weisungen der Stasi-Führung aus Berlin spiegeln das Rückzugsgefecht vom Tage wieder. Mielke-Nachfolger Wolfgang Schwanitz forderte, zunächst noch das Betreten der Gebäude mit "allen Mitteln" außer Gewaltanwendung zu verhindern. Später - da war in Berlin wohl gerade die erste Stasi-Besetzung am Morgen in Erfurt bekannt geworden - hieß es kleinlauter, wenn es sich nicht vermeiden ließe, solle mit Bürgerdelegationen gesprochen werden, Akten seien auf keinen Fall zu zeigen. Auch diese Position sollte sich nicht mehr halten lassen.

Unter dem Druck der Ereignisse musste die Bezirksverwaltung Leipzig dann wirklich eine größere Delegation ins Haus lassen, die sich als Bürgerkomitee etablierte und die sächsische Stasi-Dienststelle parallel zu entsprechenden Vorgängen republikweit Stück für Stück demontierte. Immerhin der Volkssturm auf die Runde Ecke, eine Straßenschlacht wie in Dresden am 4. Oktober konnte im wahrsten Sinne des Wortes abgebogen werden. Die Demo zog an der Runden Ecke vorbei.

Berlin und Dresden übernehmen Deeskalationsmodell

Die Stasi versuchte, ihre Erfahrungen mit dem Leipziger Modell auch andernorts zu nutzen. Zunächst herrschte noch die Illusion, "reformiert" mit einem kleineren Apparat weitermachen oder zumindest ihre Haut retten zu können. Bürgervertreter wurden seit den Dezembertagen immer dort zu Hilfe gerufen, wo der Volkszorn zu überborden drohte, etwa in Schmalkalden und Dresden. Um zu verhindern, dass auch die Berliner Stasi-Zentrale von Bürgern lahm gelegt würde, lud auch der amtierende Stasi-Chef Wolfgang Schwanitz eine Delegation am 7. Dezember zum Gespräch mit seinen PR-Leuten. Einige Tage später waren sogar die Spitzenleute der damals größten Oppositionsgruppe vom Neuen Forum dorthin geladen. Die Berliner Oppositionellen spielten offenbar mit, um den politischen Prozess am "Runden Tisch", wo einige Tage später ein Kompromiss zur Herrschaftsübergabe ausgehandelt werden sollte, nicht zu gefährden.

Die Berliner Bezirksverwaltung des MfS, immerhin auch eine Dependance mit über 3.000 Mitarbeitern, wurde sogar präventiv mehr oder minder geräuschlos vom MfS selbst aufgelöst. Die Regierung installierte dazu Mitte Dezember ein Bürgerkomitee, das im Berliner Polizeipräsidium gegründet wurde. Damit sollten offenkundig größere Demonstrationen vor Berliner Stasitoren vermieden werden. Das gelang - zumindest einen Monat lang. Erst Mitte Januar war der Brass der DDR-Bevölkerung, vor allem im Süden schon wieder so weit angewachsen, dass sogar ein wilder Generalstreik drohte. Bürgerrechtler wollten diese Lage nutzen, um auch der Stasi-Zentrale in Lichtenberg den Garaus zu machen.

Trotz Stasi-List: Berliner-Zentrale wird gestürmt

Aber auch an diesem Tage, dem 15. Januar 1990, als eine große Demo vor den Toren angesetzt war, versuchte die Regierung Modrow und Stasi-Leute, durch moderierende Gespräche und Verhandlungen mit Bürgerkomitee-Vertretern den revolutionären Schwung abzufedern. Sie übergaben ihnen und der Volkspolizei die Verantwortung für das große Stasi-Objekt in Berlin-Lichtenberg, schon bevor sich die Demonstranten überhaupt versammelt hatten. Bekanntlich ging diese Kriegslist nur zum Teil auf: Die Demonstranten stürmten auf das Lichtenberger Gelände. Der Schaden jedoch blieb zunächst überschaubar, die brisanten Akten waren weitgehend gesichert und unangetastet. Allerdings waren die Tage der Stasi dann endgültig gezählt. Das Leipziger Modell hatte den Untergang lediglich verlangsamt.

Dr. Christian Booß
Dr. Christian Booß Bildrechte: MDR

Zu Dr. Christian Booß Der in (West)Berlin geborene Historiker und Journalist war 2001-2006 Pressesprecher der Stasi-Unterlagenbehörde. 2007-2018 war er ebenda Forschungskoordinator. Nach seiner Promotion zum Dr. jur. über Rechtsanwälte in der DDR arbeitete er seit 2019 als Forschungskoordinator an der Europauniversität Viadrina.

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