Heftige Diskussionen um die Stasi-Akten Gründungsgeschichte der Stasi-Unterlagen-Behörde
Hauptinhalt
14. Januar 2023, 05:00 Uhr
Es war ein schwieriger Weg bis zur Gründung der "Gauck-Behörde". Denn was mit den Akten der Staatssicherheit geschehen sollte, darüber gab es 1990 heftige Diskussionen. Bereits am 15. Januar stürmten einige DDR-Bürger die MfS-Zentrale in Berlin, mit dem Ziel, die Vernichtung der Stasi-Unterlagen zu verhindern. So konnten viele Akten gesichert werden, welche bis 2021 die Stasi-Unterlagen-Behörde verwaltete.
Um die Zukunft im vereinten Deutschland "mit Streitereien über die Vergangenheit nicht unnötig zu belasten", bekannte Wolfgang Schäuble 2009 in einem Interview mit der "Super Illu", habe er 1990 dringend dazu geraten, sämtliche Stasi-Akten ungesehen zu vernichten. Die Ansicht des damaligen Bundesinnenministers war Lothar de Maizière, dem letzten Ministerpräsidenten der DDR, durchaus sympathisch, auch wenn er lediglich für eine Schließung der Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes plädierte. Auf keinen Fall aber, so de Maizière, sollten Bürger Einsicht in die Akten bekommen, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über sie angelegt hatte: "Dann gibt es keinen Nachbarn, Freund oder Kollegen mehr, dann gibt es Mord und Totschlag." Die Bürgerbewegung war in dieser Frage gespalten: Während etwa der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer ein großes "Freudenfeuer" mit den Papieren inszenieren wollte, hätte Bärbel Bohley am liebsten jedem seine Akte mit nach Hause gegeben.
Vernichten oder offenlegen?
Am 15. Januar 1990 hatten DDR-Bürger die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße gestürmt. In den folgenden Tagen entstanden überall in der DDR "Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS". Bis zu den Volkskammerwahlen im März führten sie Aufsicht über die Stasi-Akten. Noch war ihnen aber nicht klar, was mit den riesigen Datenmengen geschehen sollte. Erst allmählich bildete sich die Überzeugung heraus, dass nur eine Offenlegung der Akten eine Aufarbeitung des DDR-Systems ermöglichen könnte. Dagegen formierte sich aber eine Koalition von Befürwortern einer Vernichtung der Stasi-Akten oder wenigstens eines Teils davon.
Die Akten müssen weg!
"Die Aktenvernichtungskoalition bestand aus einer paradox anmutenden Mischung aus Stasi-Leuten, Blockparteifunktionären, DDR-Regierung und - der Bundesregierung", beschreibt Christian Booß, Mitarbeiter der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU). In Bonn nämlich war man im Frühjahr 1990 geschockt, als bekannt geworden war, dass die Staatssicherheit auch viel über bundesdeutsche Politiker wusste und Stasi-Generale unverhohlen drohten, ihr Wissen in großem Stil öffentlich zu machen. Die Devise in Bonn lautete daher: Die Akten müssen weg! Zudem warnte der Bundesnachrichtendienst (BND), so Booß, vor einer Gefährdung der jungen Demokratie im Osten, wenn Bürgerrechtler Stasi-Akten offenlegen würden.
Ein Tenor, in den auch DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel einstimmte. Sämtliche Stasi-Unterlagen müssten binnen weniger Monate vernichtet werden, um Mord und Totschlag zu verhindern, verkündete Diestel unablässig. Und Staatssekretär Eckhardt Wertebach aus dem Bonner Innenministerium unterstütze ihn in seinen Zielen nach Kräften. Tatsächlich wurde eine Unmenge Akten vernichtet oder mit unbekanntem Ziel abtransportiert...
Doch spätestens nach den Volkskammerwahlen vom März 1990 wurde der Protest gegen eine drohende Vernichtung der Akten lautstark. Eine Mehrheit der Volkskammerabgeordneten und Aktivisten der Bürgerkomitees sprachen sich für eine Öffnung der MfS-Akten aus. Und auch die meisten Ostdeutschen mochten sich keineswegs mit einer Vernichtung abfinden.
Dann platzt der Einigungsvertrag…
Im Juli 1990 brachte die Regierung de Maizière einen Gesetzentwurf über die Stasi-Akten in die Volkskammer ein. Er war vom einen Monat zuvor ins Leben gerufenen "Sonderausschuss zur Auflösung des MfS", dessen Vorsitz Joachim Gauck innehatte, formuliert worden. Oberstes Ziel des Entwurfs war "die politische, historische und juristische Aufarbeitung" des MfS. Ein Recht auf Akteneinsicht war darin allerdings nicht vorgesehen. Im Namen der Bundesregierung widersprach Staatssekretär Eckhardt Wertebach dem Gesetzentwurf sofort vehement. Er forderte stattdessen erneut eine "differenzierte Vernichtung". Aber de Maizière lehnte ab und Wertebach warb nun für die Überstellung der Stasi-Akten an das Koblenzer Bundesarchiv, wo sie 30 Jahre lang geschlossen bleiben sollten. Aber auch das traf nicht auf Zustimmung.
Am 24. August 1990 jedenfalls stimmte die Volkskammer der Vorlage des "Gauck"-Ausschusses mit großer Mehrheit zu. Doch die Bundesregierung wollte das Gesetz nicht in den Einigungsvertrag aufnehmen. Mit nur zwei Gegenstimmen forderten die Volkskammerabgeordneten von der Bundesregierung daraufhin, das von ihnen beschlossene Gesetz anzuerkennen und drohten damit, andernfalls den Einigungsvertrag platzen zu lassen.
Geheimverhandlungen in Bonn
Jetzt war die Stunde Joachim Gaucks gekommen. Er reiste zu Geheimverhandlungen ins Bonner Innenministerium. Gauck distanzierte sich von den Besetzern der Stasi-Zentrale und bot der Bundesregierung an, das Gesetz der Volkskammer zurückzuziehen. Die Akten der Staatssicherheit sollten, so formulierte Gauck, nicht in der Obhut von Bürgerrechtlern und ostdeutschen Landespolitikern verbleiben, sondern in eine zentrale Bundesbehörde überführt werden. Dafür verlangte er das Versprechen, dass erst der gesamtdeutsche Bundestag endgültig über die Akten der Staatssicherheit entscheiden werde. Ferner sollte die Behörde unbedingt im Osten ihren Sitz haben und zudem von einem Ostdeutschen geleitet werden. Wer der Herr über die Akten sein würde, darüber gab es angesichts dieser Konstellation keine Zweifel mehr und Bürgerrechtler bezichtigten Gauck deshalb auch prompt des Opportunismus.
Sonst wären die Akten "weg gewesen"
Doch ohne Gaucks Kompromissformel, das mussten selbst seine Kritiker später zugeben, hätte der Einigungsvertrag auf der Kippe gestanden und die Stasi-Akten wären womöglich - wie ein Gauck-Vertrauter einmal formulierte - komplett "weg gewesen". So aber setzte die Regierung de Maizière am 18. September 1990 einen Zusatz zum Einigungsvertrag mit der Verpflichtung durch, dass der Bundestag ein entsprechendes Stasi-Gesetz zu verabschieden habe und der von der Volkskammer berufene Sonderbeauftragte mit der Leitung der zu schaffenden Behörde betraut werden müsse. Damit endete auch die fast ein Jahr währende systematische Vernichtung von Stasi-Akten.
Wir konnten uns diese Vergangenheitsbewältigung leisten
Der Westen hatte also kapitulieren müssen: Sowohl der Plan einer Vernichtung der Akten als auch der einer Überführung ins Bundesarchiv samt 30-jähriger Sperrfrist waren endgültig vom Tisch. "Der Einigungsvertrag geht vor", musste der Bonner Innenstaatssekretär Hans Neusel einigermaßen zerknirscht einräumen. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Deutschen Einheit, nahm die "Bundesoberbehörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" ihre Arbeit auf. Ihr Chef wurde erwartungsgemäß Joachim Gauck. Ein Jahr später, am 29. Dezember 1991, trat das Stasi-Unterlagengesetz in Kraft, in dem nun auch das von den Bürgerrechtlern um Bärbel Bohley stets geforderte Recht auf Akteneinsicht verankert worden war. "Wir konnten uns das als größeres, vereintes Deutschland leisten", resümierte Wolfgang Schäuble 2009. "Hätte die DDR wie Polen oder Tschechien allein den Weg in die Freiheit bewältigen müssen, wäre sie an dieser Form der Vergangenheitsbewältigung womöglich gescheitert."
2021 wurde die Behörde geschlossen, die Akten ins Koblenzer Staatsarchiv überführt. Das Recht auf Akteneinsicht besteht aber weiter.
(Quellen: Christian Booß, Revolutionär mit Staatsräson, Schweriner Volkszeitung, 26. Juni 2010; Klaus Bästlein, Meine Akte gehört mir, Deutschland Archiv 2/11; Jens Giesecke, 20 Jahre Stasi-Aufarbeitung, 29. Juni 2009.)
Dieser Artikel wurde erstmals im März 2011 veröffentlicht.
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR Thüringen | 17. Juni 2021 | 06:00 Uhr