Ehemalige Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen Marianne Birthler: Frau mit Rückgrat
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14. Juli 2021, 18:26 Uhr
Marianne Birthler hat die jüngere deutsche Geschichte maßgeblich geprägt: Als Bürgerrechtlerin in der DDR, Abgeordnete, Ministerin und Sprecherin von "Bündnis 90/Die Grünen". Bekannt geworden ist sie vor allem aber als unbequeme Wächterin über die Stasi-Akten.
Im dritten Nachkriegsjahr 1948 wird Marianne Birthler in einem Haus in der Warschauer Straße in Berlin geboren. Nur wenige Minuten von der Oberbaumbrücke, der Grenze nach West-Berlin, entfernt. Die Familie lebte zu fünft in einer Zweizimmerwohnung. Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen: der 17. Juni 1953. Trotz Warnungen ist die Mutter am Tag des Volksaufstandes losgefahren, um eine Freundin zu besuchen. Der Vater geht unruhig in der Wohnung auf und ab, tritt immer wieder auf den Balkon hinaus, um nach der Mutter Ausschau zu halten. Sie kommt rechtzeitig vor der Sperrstunde nach Hause. Doch ihr Mann macht ihr eine Szene.
Ich gehöre zur ersten Nachkriegsgeneration. Der politische Hintergrund meiner Kindheit, meiner Jugend und meiner ersten fünf Lebensjahre ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Nachhall von Nationalsozialismus und Krieg, das eingemauerte Leben in der kommunistischen Diktatur und die Erfahrung der Befreiung durch die Herbstrevolution 1989 haben mich geprägt.
Zwischen FDJ und Junger Gemeinde
Marianne Birthlers Vater stirbt drei Jahre später, kurz vor ihrem achten Geburtstag an Tuberkulose. Die Mutter führt sein Geschäft, einen Stand in der Markthalle am Berliner Alexanderplatz, weiter. Marianne Birthler hilft ab und an nach der Schule. Für sie gibt es als Mädchen zwei Leben: Sie muss unterscheiden zwischen dem, was zu Hause gedacht und gesagt wurde, und dem, was die Schule lehrt. Dennoch erlebt sie in der sozialistischen Schule nicht nur Druck, sondern auch "kleine Inseln der Angstfreiheit", Lehrer, die sie zu Kreativität und einer eigenen Meinung ermuntern.
Als 13-Jährige nimmt Marianne Birthler an der Jugendweihe teil, weil die Mutter befürchtet, dass sie sonst die Erweiterte Oberschule nicht besuchen kann. Gleichzeitig ist Marianne Birthler im Konfirmationsunterricht: In der Gemeinde fühlt sie sich wohl, lernt Gitarre spielen, trifft Freunde. Marianne Birthler beschreibt sich nicht als unbedarften Teenager, sondern als ernstes Mädchen, "das sich der Probleme der Welt bewusst ist und zu ihrer Lösung beitragen will". Marianne Birthler entscheidet sich für einen Weg, auf den sich viele nicht trauen: Sie ist sowohl Mitglied in der Jungen Gemeinde als auch in der FDJ. Aus der DDR-Jugendorganisation tritt sie in der neunten Klasse aus. Die Junge Gemeinde gibt ihr Halt, dort lernt Marianne Birthler auch ihren späteren Mann Wolfgang kennen, der Veterinärmedizin studiert.
Von der Hausfrau zur Bürgerrechtlerin
Ende der 1970er-Jahre deutet wenig auf eine Karriere als Staatsfeindin und Politikerin hin. Mit Mann und den drei Töchtern Anna, Uta und Eva lebt Marianne Birthler in einem kleinen Ort bei Schwedt an der Oder. Sie führt das Leben einer Hausfrau auf dem Land, pflanzt Blumen, kämpft gegen Wühlmäuse und strickt. Nebenbei arbeitet sie als Hilfskraft für die Tierärztliche Gemeinschaftspraxis, in der ihr Mann beschäftigt ist. Außerdem hat Marianne Birthler noch eine außergewöhnliche Nebenbeschäftigung: Als Vertriebsmitarbeiterin einer Buchhandlung in Angermünde verkauft sie aus ihrem Wohnzimmerfenster, das zur Straße hinausgeht, Bücher. Ihr bester Kunde ist sie jedoch selbst, manchmal kann sie einige Exemplare der begehrten "Bückware" von Albert Camus, Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann für sich selbst sichern und an Freunde verschenken. In der evangelischen Gemeinde ist Marianne Birthler überaus rege aktiv. An Rebellion - und sei sie noch so klein - muss sie sich aber erst gewöhnen.
Ich bin rot geworden oder habe schreckliches Herzklopfen bekommen, bevor ich in einer Elternversammlung aufgestanden bin und eine Frage zur Schulspeisung gestellt habe. Sich zu exponieren, vor anderen aufzustehen, die eigene Stimme laut zu hören, zu riskieren, dass manche die Augenbrauchen hochziehen – Frauen ist mehr als Männern anerzogen worden, so zu sein, dass man nicht auffällt.
In den 1980er-Jahren geht die Ehe auseinander, Marianne Birthler kehrt zurück nach Berlin. Ihr neuer Arbeits- und Lebensort wird die Eliasgemeinde im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Marianne Birthler arbeitet als Gemeindehelferin und als Katechetin, darf also im kirchlichen Auftrag Religionsunterricht erteilen. Ob getauft oder nicht, versucht sie Berliner Kindern mit ihrer Christenlehre das Rückgrat zu stärken.
Auch sie selbst braucht Mut, als sie 1986 die erste DDR-weit agierende oppositionelle Organisation "AKSK" mitgründet, den "Arbeitskreis Solidarische Kirche". Die Organisation beklagt den "Mangel an Solidarität, Partizipation und Demokratie" im Staat und ist der Stasi ein Dorn im Auge. Die Versammlungen werden beobachtet, auch Marianne Birthler ist in ihrem Blickfeld. Ab 1988 fühlt sie sich der "Initiative Frieden und Menschenrechte" zugehörig, wagt auch öffentlich Protest.
Revolution im Herbst 1989
Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, lässt die DDR-Führung in Berlin in der Nacht hunderte Regimegegner verhaften. In und rund um die Gethsemanekirche sammelt sich der Widerstand. Marianne Birthler ist eine von denen, die mit mehr als 2.000 Menschen in der Kirche ausharrt. Deren Türen sind seit Tagen für alle geöffnet. Am Montag, den 9. Oktober warten alle angespannt auf einen Bericht von der Leipziger Montagsdemo. Dieser kommt über das von Marianne Birthler ins Leben gerufene Kontakttelefon der Opposition zustande. Der Anrufer berichtet: Das Volk ist auf der Straße und es fällt kein Schuss.
Das war wirklich ein unbeschreiblicher Moment in der Kirche. Wildfremde Leute sind sich in den Arm gefallen, haben gejubelt. Und dann stellten wir auch noch fest, dass die Belagerung auch hier in Berlin aufgehört hat, und Kerzen standen draußen überall. Diesen Moment werde ich meinen Lebtag nicht vergessen, das war wirklich der Geschmack von Freiheit.
Marianne Birthler geht auch nach 1989 ihrem politischen Weg weiter. Schon als Abgeordnete setzt sie sich für die Aktenöffnung und die Gründung einer Stasi-Unterlagen-Behörde ein. 1990, im neuen Bundesland Brandenburg, erhält sie als Spitzenkandidatin von Bündnis 90 gar ein Ministerium. Als Bildungsministerin leitet sie die Überprüfung von 27.000 Brandenburger Lehrern auf frühere Stasi-Tätigkeiten.
Doch 1992 funkt auf einmal die Vergangenheit dazwischen: Es ist die Zeit der Stasi-Enthüllungen. Ihr Chef Manfred Stolpe, Ministerpräsident von Brandenburg und Koalitionspartner, steht unter dem Verdacht, enge Kontakte zur Staatssicherheit gehabt zu haben. Das wird zur Zerreißprobe für die Landesregierung. In einem Vier-Augen-Gespräch soll Marianne Birthler dem Regierungschef Loyalität versprechen. Birthler sagt erst zu, dann aber rebellieren Verstand und Körper.
Und dann hab ich aber gemerkt, das geht nicht. Das war 'ne ganz konkrete Situation, wo Jugendliche mich gefragt haben, 'Wie finden Sie denn das mit Stolpe?' Ich hab’ gesagt, tut mir leid, ich rede darüber nicht. Und dann habe ich gemerkt, dass das nicht geht, da ist mir schlecht geworden. Da hat mir mein Körper signalisiert: Jetzt bist zu weit gegangen.
Birthler tritt zurück. Einer ihrer Weggefährten aus der Bürgerrechtsbewegung bleibt damals im Ministeramt: Matthias Platzeck, der später Stolpes Nachfolger wird. Birthler muss ihr Leben noch einmal neu sortieren und macht eine Ausbildung zur Organisationsberaterin. Dann wird sie gefragt, ob sie die Stasiunterlagenbehörde übernehmen würde. Sie sagt Ja und manövriert die BStU zehn Jahre lang erfolgreich durch juristisch hochsensibles Terrain.
"Umwege erhöhen die Ortskenntnis"
2014 veröffentlicht Marianne Birthler ihre Autobiografie, "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben". Es sei mittlerweile ein bisschen Ruhe in ihr Leben eingekehrt, sagt sie damals, bei der Vorstellung ihrer Erinnerungen, mit mehr Zeit für Familie und Freunde. Im November 2016 will Bundeskanzlerin Angela Merkel sie als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt vorschlagen. Sie wäre dann erneut die Nachfolgerin Joachim Gaucks in einem hohen Amt gewesen. Marianne Birthler erbittet sich Bedenkzeit, sagt dann aber ab. Gründe nennt sie offiziell keine.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL Radio | 02. September 2020 | 16:00 Uhr