Stasi-Überwachung Warum Ostdeutsche noch immer misstrauisch sind
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12. Oktober 2020, 17:29 Uhr
Die Stasi: 30 Jahre lang überwachte sie ihre Bürger, hörte Telefone ab und las die Post mit. Man sollte sich "beobachtet und kontrolliert fühlen", so die DDR-Oppositionelle und spätere Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen Marianne Birthler. Ein Gespräch über die Stasi und ihre Praktiken.
Wie massiv war die Postkontrolle und Telefonüberwachung?
Erich Mielke hat ja mal gesagt, "Genossen wir müssen alles wissen". Das ist ihnen nicht gelungen, aber natürlich wollten sie so viel wie möglich Informationen über die Menschen, denen sie immer misstrauten, sammeln. Und dazu gehört natürlich auch die Post- und Telefonüberwachung, mit einem riesigen technischen Aufwand.
Das betraf auch Leute, die nicht als Verfolgte oder Staatsfeinde geführt wurden. Das war viel breiter. Viele Menschen unterlagen dieser Kontrolle, aus ganz unterschiedlichen Gründen, weil sie einen verdächtigen Nachbarn hatten oder weil sie mal Westbesuch bekommen haben oder bekommen würden.
Ich habe zum Beispiel Fotokopien von Briefen gefunden, die ich als ganz junge Frau einer Tante im Westen geschrieben habe, in denen ich über nichts anderes berichtet habe, als dass meine zweite Tochter einen Satz über vier Worte bilden kann. Also ganz harmlose Sachen. Das haben die alles fotokopiert und das fand ich in den Akten.
Inwieweit gab es eine totale Überwachung durch die Stasi?
Das Wort total verwende ich sehr ungern. Aber natürlich war das sehr weitgehend. Und die Stasi hatte natürlich auch ein Interesse daran, dass die Menschen sich beobachtet und kontrolliert fühlen. Das war ja auch ein Disziplinierungsmittel. Auf der anderen Seite wollten sie auch, dass die Leute sich beobachtet fühlen, damit sie Angst haben und bestimmte Leute etwas nicht tun, was sie sonst getan hätten.
War die Überwachung von der Verfassung gedeckt?
Das besondere an Diktaturen ist ja, dass sie rechtsförmiges Unrecht schaffen können. Eine Diktatur hat niemals ein Problem irgendwelche Gesetze zu verabschieden, die auch die größten Schweinereien scheinbar legal machen. Insofern ist diese Frage, ob beispielsweise Verfolgung und Überwachung legal war oder nicht völlig müßig. Was in einer Diktatur legal ist, ist noch lange nicht rechtens.
Ein Telefon war zu DDR-Zeiten Luxus, hatten Sie eins?
Ich hatte jahrelang ein Telefon beantragt, vergeblich. Ich habe auch Briefe bekommen, dass vorläufig nicht dran zu denken ist. Dann bin ich das erste Mal verhaftet worden - und eine Woche später hatte ich ein Telefon. Ist klar warum, ich stand dann offenbar auf der Liste derer, von denen man die Kommunikation überwachen sollte. Ich habe also davon profitiert, wenn Sie es so wollen, und einen Telefonanschluss bekommen.
Haben Sie mal mitbekommen, dass Sie überwacht werden?
Ich habe das gar nicht mitbekommen, aber ich konnte es mir denken. Wir konnten es nicht wissen und wir wussten, dass wir es nicht wissen konnten. Aber wir alle, ich und meine politischen Freunde, sind davon ausgegangen, dass die Stasi jederzeit die Möglichkeit hat, den Postverkehr und unsere Telefongespräche zu überwachen. Und heute wissen wir, dass sie das häufig getan hat – manchmal auch dauerhaft.
Inwiefern gab es Verhaltensregeln beim Telefonieren?
Gar keine. Und wir haben uns immer große Mühe gegeben, uns im Freundeskreis nicht von dieser Neurose anstecken zu lassen. Denn es gab ja immer mal Gerüchte, der arbeitet bestimmt bei der Stasi. Aber wenn wir wechselseitig misstrauisch geworden wären, dann hätte die Stasi ja schon die Hälfte von dem erreicht, was sie wollte: Unsere Freundschaften, das Verhältnis zu unseren Lieben zu zerstören. Also haben wir immer versucht, das irgendwie auszublenden.
Können Sie - vor dem Hintergrund der Stasi-Überwachung - das Misstrauen vieler Ostdeutscher auch heute noch verstehen?
Das Gefühl überwacht zu werden, das macht misstrauisch. Das schüttelt man auch nicht einfach so ab. Und ich denke, manchmal sehe ich noch die Spuren davon, dass Menschen so ein Misstrauen mitgenommen haben.
Zur Person: Marianne Birthler war DDR-Oppositionelle, leitete mit der Jahrtausendwende als Bundesbeauftragte mehr als zehn Jahre die Stasi-Unterlagen-Behörde und berät heute die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
Über dieses Thema berichtet die MDR ZEITREISE: TV | 15.09.19 | 22.30