Joachim Gauck Vom Pastor zum Präsidenten
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17. Juni 2021, 09:46 Uhr
Joachim Gauck war Jugendpastor in Rostock, Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde und der erste ostdeutsche Bundespräsident. Wie kein anderer gab der Theologe und Publizist den Bürgerrechtlern eine Stimme und prägte das wiedervereinte Deutschland mit seinem Engagement auf ganz besondere Weise.
Als vor über zwanzig Jahren Bürgerrechtler die Stasi-Zentralen stürmten, wurde das zu Recht als großer Sieg gegen das Spitzelsystem gefeiert. Doch das war erst der Anfang eines harten Kampfes um die Öffnung der Akten und den bis heute andauernden schmerzhaften Prozess der Aufarbeitung. Ein Pastor aus Rostock, der in dieser turbulenten Zeit zum Fachmann für Stasi-Akten wurde, gilt bis heute als Symbolfigur. Zehn Jahre lang war Joachim Gauck als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), so der Name des Amtes, verantwortlich für die kilometerlangen Aktenbestände der Stasi.
"Ein klares Bild von Macht und Ohnmacht"
1940 wurde Joachim Gauck als Sohn eines Seemanns in Rostock geboren. 1951 musste die Familie mit dem plötzlichen Verschwinden des Vaters und mit der Machtlosigkeit gegenüber dem Geheimdienst fertig werden. Über Nacht wurde Gaucks Vater abgeholt und in ein sowjetisches Lager nach Sibirien verschleppt. Erst vier Jahre später begnadigt, kehrte der Vater 1955 extrem geschwächt nach Rostock zurück. Trotzdem ließ sich Familie Gauck nicht von Hass leiten.
Ich war nie von einem besonderen Hass beseelt, was mir meine kommunistischen Feinde immer unterstellen - das habe ich von meinen Eltern nicht beigebracht bekommen. Obwohl mein Vater zu Unrecht im Gulag war. Er kam zurück. Danach hatten wir ein klares Bild von oben und unten, von Macht und Ohnmacht.
Durch Zufall zum "Stasi-Experten"
Zurück blieb eine distanzierte Haltung gegenüber der DDR-Obrigkeit. Joachim Gauck wurde sein Leben lang eine kritische Stimme. Er studierte Theologie und wurde Pfarrer. 1959 heiratet er seine Freundin Gerhild, mit der er bis heute verheiratet ist, auch wenn beide seit 1990 getrennt leben. Zehn Jahre später kommt Gauck mit der Journalistin Daniela Schadt zusammen. In der Wendezeit wurde er Mitinitiator kirchlicher Proteste und Sprecher des Neuen Forums in Rostock.
Nach dem Mauerfall übernahm Gauck auch politische Verantwortung: In der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR hatte er einen Sitz. Im September 1990 besetzte Joachim Gauck mit Vertretern des Bürgerkomitees zum zweiten Mal die ehemalige Stasi-Zentrale in Berlin, um zu verhindern, dass die Akten für immer geschlossen werden. Denn genau das plante die letzte DDR-Regierung kurz vor der Wiedervereinigung. Rückblickend sieht Gauck seinen Werdegang zum Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen eher als "Zufall".
Ich landete für Bündnis 90/Die Grünen im Parlament und bin irgendwie Fachmann für Stasi-Akten geworden, obwohl ich das gar nicht gewünscht hatte. Ich landete durch Zufall im Innenausschuss. Dort wurde ein Sonderausschuss gebildet, denn die Abgeordneten wollten den Innenminister kontrollieren.
Spezialaufgabe ohne Bedienungsanleitung
Die Proteste gegen die Schließung der Akten hatten Erfolg. Im Oktober 1990 wurde Joachim Gauck von der Volkskammer nahezu einstimmig zum Sonderbeauftragten für die Stasi-Unterlagen berufen. Mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 1991 wurde Gauck "Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik". Sein Auftrag: Der Aufbau einer Behörde, die die Akten für die Öffentlichkeit zugänglich macht.
Aber keiner konnte sagen wie. Noch nie wurde das gesamte Archiv einer Geheimpolizei geöffnet. Hunderte Kilometer Akten, sechs Millionen teilweise fein geschnipselte und unsortierte Dossiers, unbeantwortete Fragen zu Datenschutz und die Gefahr von Lynchjustiz. Gauck begann in einem kleinen Zweizimmerbüro mit Bad, wohnte zunächst in einer ehemaligen konspirativen Wohnung der Stasi.
Ich saß plötzlich in einer möblierten Wohnung, die sich als konspirative Wohnung namens 'Terrasse' herausstellte. Es war so ein komisches DDR-Feeling… Wo ich mein müdes Haupt zur Ruhe legte, hatte ein Stasi-Typ mit einem Informanten gesessen und einen gehoben oder ihn unter Druck gesetzt. Und ich hauste dort. Es war Blödsinn, dass ich mir das angetan habe. Ich hatte aber nicht die Zeit, meinen Befindlichkeiten nachzusinnen.
Die Akten werden geöffnet
Im Januar 1992 war es dann soweit: Die Akten wurden für die Bürger geöffnet. 50 bekannte Stasi-Opfer kamen mit Picknickkorb und Thermoskanne und waren schockiert über die umfangreichen Spitzelberichte zu ihrem Privatleben.
Gauck hatte es geschafft, die Akten zu erhalten und zugänglich zu machen. Und der Bedarf bei denen, die einst ohnmächtig der Stasi gegenüberstanden, war groß. Ein unglaublicher Ansturm auf die Behörde sei es gewesen, erinnert sich Gauck. Bereits am ersten Tag seien die gedruckten Anträge auf Akteneinsicht vergriffen gewesen. Die Berliner Zeitung druckte schließlich die Formulare nach.
Es kamen Abertausende, die es nicht abwarten konnten. Es war sehr turbulent.
Mehr als dreitausend Mitarbeiter beschäftigte zeitweise die Gauck-Behörde, wie die Bundesbehörde bald genannt wurde. Gauck und "seine" Behörde wurden zum Bollwerk gegen das Vergessen. 1995 wurde Gauck wiedergewählt, im Jahr 2000 trat Marianne Birthler an seine Stelle. Gauck ist danach als freischaffender Redner tätig, zeitweise auch als Fernsehmoderator.
Gauck, der Bundespräsident
Nachdem Horst Köhler 2010 völlig überraschend zurückgetreten war, wurde Gauck zum Kandidaten von Rot-Grün für die Nachfolge. Doch am Ende gewann der CDU-Mann Christian Wulff im dritten Wahlgang. Erst 20 Monate später, nach Wulffs Abgang, war es dann so weit. 2012 wurde Gauck mit den Stimmen aller Parteien - mit Ausnahme der Linken - gewählt.
Der frühere evangelische Pastor war bei seiner Wahl mit 72 Jahren der älteste aller bisherigen Präsidenten. Gauck widerstand von Anfang an der Versuchung, sich wie einige seiner Vorgänger als Sprachrohr der Politikverdrossenen zu profilieren. Daran hielt er sich, auch im Ausland, gleichwohl seine ersten vier Jahre durchaus von äußeren Konflikten geprägt waren. Die Finanz- und Schuldenkrise in Europa, die Annexion der Krim, der folgende Konflikt in der Ukraine, dann der Bürgerkrieg in Syrien und die Flüchtlingskrise.
Nicht immer hat Gauck in der Flüchtlingsfrage eine klare Haltung bezogen, jedenfalls keine leicht verständliche. Von "Dunkeldeutschland" sprach er angesichts fremdenfeindlicher Gewalt, aber er warnte auch eher als andere vor naivem Optimismus. "Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich", sagte er am 3. Oktober 2015, dem Tag der Deutschen Einheit. Bei aller Sorge über den Aufstieg der rechtspopulistischen AfD, blieb er bei seiner Botschaft, Deutschland müsse sich etwas zutrauen, auch mehr "Demokratie wagen".
Im Frühjahr 2017 verzichtete Gauck auf eine erneute Kandidatur und wurde von Frank-Walter Steinmeier abgelöst. Danach arbeitete der Altbundespräsident als Buchautor und vermittelte zuletzt bei der schwierigen Regierungsbildung nach der Landtagswahl in Thüringen.
dpa/me
Über dieses Thema berichtete der MDR im Radio: 21.01.2020 | 12.11 Uhr