Dachparty in den 1980er-Jahren in Leipzig
In allen Phasen der DDR versuchten die Jugendlichen, dem staatlichen Anpassungsdruck und den gesellschaftlichen Zwängen zu entkommen und sich eigene Freiräume zu gestalten. Bildrechte: MDR/Mahmoud Dabdoub

Blueser auf dem Pressefest Erfurt 1978: Schlagstöcke gegen Blues- und Rockfans

18. November 2021, 16:09 Uhr

Ein Fest der "disziplinierten Lebensfreude" war das alljährliche Pressefest in Erfurt. Am 27. Mai 1978 aber kam es zu einer Massenschlägerei zwischen Polizei und Jugendlichen.

Das Pressefest der Erfurter SED-Bezirkszeitung "Das Volk" hatte Tradition: Auf dem weitläufigen Gelände der "Internationalen Gartenbauausstellung" (IGA) am Stadtrand wurden einmal im Jahr Bühnen und Stände aufgebaut. Bratwurstbuden wechselten sich mit Bierständen ab. Auf den Bühnen musizierten Volksmusikkapellen, Soldatenchöre und Schlagersänger. Dazu gab es Modenschauen, Sportwettbewerbe und eine Bastelstraße für die Kinder. Die Veranstalter hatten an die ganze Familie gedacht.

So war auch alles für das Pressefest am 27. und 28. Mai 1978 vorbereitet. Nichts schien das fröhliche Treiben zwischen den gepflegten Rabatten und Gewächshäusern der IGA trüben zu können. Routinemäßig meldete die Volkspolizei am Sonnabend um 12:40 Uhr: "Ca. 25.000 Pressefestbesucher auf der IGA, keine Vorkommnisse."

"Tätliche Auseinandersetzungen" am Abend

Am Abend begann ein Konzert der Dresdner Gruppe "electra" und der "City Rock Band" aus Berlin. Doch der Auftritt musste nach der Hälfte abgebrochen werden. Offiziell wurde von "technischen Störungen" gesprochen. Tatsächlich herrschte bei der Volkspolizei Alarmstimmung. Gemeldet wurden Personen, zumeist Jugendliche und zudem alkoholisiert, die auf dem Konzertgelände außer Kontrolle geraten waren. Die Polizei verstärkte ihre Präsenz auf dem IGA-Gelände. 40 Festnahmen, 16 Ordnungsstrafverfahren, sieben verhängte Ordnungsgelder und 14 Belehrungen waren die Bilanz des ersten Festtages. Die Polizisten protokollierten abschließend: "Ruhe und Ordnung ist wieder hergestellt".

Walter Schilling 5 min
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Im Juni 1978 öffnete Pfarrer Walter Schilling seine Kirche für Hunderte Tramper und Blueser. Mit "JUNE 78" wollte er den Jugendlichen "ein Gefühl von Freiheit" geben.

Mi 31.08.2005 20:15Uhr 04:32 min

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Massenschlägerei

Am nächsten Morgen wollte die Polizei von Anfang an alles unter Kontrolle haben. Sie griff hart durch. Wer nicht ins Bild des Pressefestes passte, wurde kurzerhand festgenommen. Unter starker Polizeipräsenz ging das Fest der "disziplinierten Lebensfreude" wie geplant weiter. Für den Abend kündigte das Programmheft eine "Bluesparty" mit der Gruppe "Fusion" und den Solisten Stefan Diestelmann, Regine Dobberschütz und Hansi Klemm an. Durch einen kurzen Regenschauer verzögerte sich jedoch der Konzertbeginn. Um sich die Zeit zu vertreiben, machten es sich ein paar Bluesfreunde auf den abgesperrten Rasenflächen in Bühnennähe bequem, tranken Bier und steckten sich Blumen ins Haar. Zehn Minuten später brach buchstäblich ein Orkan los: eine Massenschlägerei gewaltigen Ausmaßes.

Ein Fernschreiben des Ministeriums für Staatssicherheit fasst die entscheidenden ersten Minuten im Rückblick so zusammen: "Ca. 80 Jugendliche haben sich in den durch Seile abgesperrten Raum auf dem Rasen im Veranstaltungsbereich der Bühne 2 niedergelassen; der Aufforderung der Ordner, die Rasenfläche zu verlassen, kamen die Jugendlichen nicht nach. Provokatorisch setzten sich andere Jugendliche daraufhin auf diese Fläche. Diese kamen der Aufforderung der Ordner nicht nach, beschimpften diese und wurden tätlich."

"Einsatzalarm"

Bei den Verantwortlichen lagen die Nerven blank. Umgehend begannen sie, den Konzertplatz zu räumen. Die anfangs zivilen Ordner sowie sieben Schutzpolizisten und drei Hundeführer mit ihren Schäferhunden reichten nun nicht mehr. "Innerhalb von 5 Minuten wurden daraufhin 55 Kräfte der DVP (Deutschen Volkspolizei, Anm. d. Red.) , darunter 22 Diensthundeführer mit Hund und 2 Züge der 7. VP-Bereitschaft mit Sonderausrüstung sowie Kräfte der BV und der KD Erfurt dem Handlungsraum zugeführt", heißt es in einem Rapport an Staatssicherheitsminister Erich Mielke.

Mit Schlagstöcken, Schilden und geschlossenen Helmen – eine martialische Ausrüstung, die sonst nicht in der Öffentlichkeit zu sehen war – gingen die Uniformierten massiv gegen die Bluesfans vor. Unter den Augen von Hunderten Pressefestbesuchern wurde wahllos auf die Konzertbesucher eingeprügelt. Doch die Jugendlichen schlugen zurück: Gartenbänke wurden zertrümmert, Scheiben der Ausstellungshallen gingen zu Bruch, ein Lastwagen der NVA blieb ramponiert liegen. Die aufgebrachten Jugendlichen rissen SED-Mitgliedern die Parteiabzeichen vom Revers. Ein bedrängter Polizist gab zwei Warnschüsse ab, blutende Menschen lagen zwischen Scherben und kläffenden Hunden.

"Prächtige Stimmung" auf einem "gelungenen Fest"

Nach einer Stunde war die Auseinandersetzung zwischen den Jugendlichen und der Staatsmacht vorbei. 46 Personen wurden festgenommen, mindestens 26 Personen mit Biss- und Schnittwunden, Gehirnerschütterungen und Knochenbrüchen in Erfurter Krankenhäusern versorgt, darunter sechs Polizisten und ein Redakteur der Bezirkszeitung. Auch zwei Diensthunde wurden als verletzt gemeldet. Laut Schätzungen der Polizei waren etwa 200 Jugendliche an den Ausschreitungen beteiligt. Durch die Polizei, so heißt es lakonisch in einem SED-Protokoll, konnten in "kurzer Zeit die Ordnung und Sicherheit" wiederhergestellt werden.

In der Lokalpresse war von den Prügelszenen am Wochenende nichts zu lesen. Im Gegenteil: "200.000 Pressefestgäste in enger Verbundenheit mit unserer Zeitung", jubelte "Das Volk". Von "prächtiger Stimmung", "erlebnisreichen Stunden" und einem "gelungenen Fest" war im SED-Blatt die Rede. In den folgenden Jahren erstellte das Ministerium für Staatssicherheit regelmäßig "Maßnahmepläne zur politisch-operativen Sicherung" der Erfurter Pressefeste. Ziel war die "Verhinderung des feindlich-negativen Wirksamwerdens bereits angefallener bzw. bekannter negativ-dekadenter und anderer kriminell gefährdeter Jugendlicher". "Personen, die durch ausgesprochen verwahrlostes, unästhetisches, schmutziges Aussehen, durch renitentes und provokatorisches Verhalten und Alkoholmissbrauch in Erscheinung treten", sollten schon im Vorfeld daran gehindert werden, in Richtung IGA-Festgelände aufzubrechen. Künftig wollten die Erfurter Genossen ungestört feiern.