Tausende Stasi-Mitarbeiter spielen zufriedene DDR-Bürger Willkommen zur Staatssicherheits-Show: Helmut Schmidt besucht die DDR
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04. Februar 2022, 12:13 Uhr
Vor fünf Jahren verstarb Altkanzler Helmut Schmidt. Der Mann, der die Bundesrepublik durch schwere Zeiten führte und den Weg für die deutsche Einheit ebnete, ging neben seinem Lebenswerk auch mit einem kuriosen Staatsbesuch in die Geschichte ein. Sein Besuch im mecklenburgischen Güstrow versetzte die Staatsführung in den Ausnahmezustand. Um jeden Preis sollte mithilfe der Stasi vermieden werden, dass die DDR-Bürger Bundeskanzler Helmut Schmidt so anhimmelten, wie sie es einst bei Willy Brandt in Erfurt taten. Mit 19.000 Stasi-Mitarbeitern und 18.000 Volkspolizisten versuchte die Staatsmaschinerie, ausländischen Medien eine starke, in sich geschlossene Republik vorzugaukeln.
Bundeskanzler Helmut Schmidt hat keine einfache Amtszeit. Sie ist geprägt durch terroristische Anschläge der RAF, die weltweite Ölpreiskrise, die NATO-Doppelbeschlüsse und schließlich auch durch Kalten Krieg. Doch mit seinem Weitblick schafft es Helmut Schmidt, dessen Erkennungsmerkmal eine glimmende Zigarette ist, die Bundesrepublik durch die Krisen zu führen. Für den kühlen Kopf, den er in seiner Amtszeit von 1974 bis 1982 bewahrt, feiert in das In- und Ausland.
Doch Schmidts Beliebtheit wird für die DDR-Führung zum Problem, als er anlässlich des dritten deutsch-deutschen Gipfeltreffens mit Erich Honecker Güstrow besucht. Der Weihnachtsmarkt, die Barlach-Gedenkstätte und der Dom zu Güstrow stehen auf dem Programm und werden von Journalisten aus dem sogenannten kapitalistischen Ausland live übertragen. Die DDR möchte sich dabei weltoffen präsentieren, ohne jedoch wirklich weltoffen zu sein. Um diesen Konflikt zu bewältigen, hat die Staatsführung die bereitwilligen Diener der Staatssicherheit vor den Karren gespannt.
Vorbereitungen für den Besuch von Helmut Schmidt
Der gewaltige Apparat des Ministeriums für Staatssicherheit wird in Gang gesetzt. Schon Wochen vor Schmidts Besuch arbeitet das MfS seine Akten nach staatsfeindlichen Individuen durch. Dabei geraten 644 in Güstrow lebende Personen ins Visier. Um die "Sicherheit des Gastes" zu gewährleisten wird deren Bewegungsfreiheit um den 13. Dezember 1981 durch Verhaftungen, Arreste oder geplante Lügen fast vollständig eingeschränkt. Die Stasi plant dafür auch, Telefonleitungen zu kappen und andere moderne Überwachungstechnik einzusetzen. Die Stadtteile von Güstrow, die Helmut Schmidt zu Gesicht bekommen soll, werden herausgeputzt. Dabei werden sogar Häuserwände entlang der Protokollstrecke gestrichen. Doch das allein ist nicht genug: SED-Beauftragte führen 1.500 Familiengespräche mit Einwohnern, um deren politische Einstellung zu festigen. Außerdem werden Jubelkräfte bestellt, die auf den linken Bürgersteigen winken sollen. Links, weil auf dieser Seite Honecker in der Staatskarosse sitzt und Schmidt nicht bejubelt werden soll.
Noch nie war ein so hoher Einsatz erforderlich, wie jetzt hier in Güstrow.
Ziel jeder Maßnahme ist es, jede noch so kleine Störung im Vorfeld auszuschließen: Kein DDR-Bürger soll staatsfeindliche Dinge äußern können, und schon gar nicht sollte der Eindruck entstehen, dass sich irgendjemand in der DDR über den Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt freuen würde. Ganz offensichtlich wurde die Staatsmacht noch immer vom Trauma des Willy-Brandt-Besuches 1970 in Erfurt verfolgt, als die Menschen mit "Willy, Willy"-Rufen den Kanzler feierten und der SED eine harsche Niederlage im Kampf um das bessere Deutschland zugefügt hatten. Deshalb sorgt das MfS dafür, dass Helmut Schmidt keinen einzigen "normalen" DDR-Bürger zu Gesicht bekommt.
Helmut Schmidt kommt und das Spiel beginnt
Am Tag des Besuches beginnen die Greifkommandos von Polizei und Staatssicherheit in den frühen Morgenstunden sämtliche Zufahrten nach Güstrow zu sperren, der sogenannte militärische Außenring ist 6 Uhr morgens geschlossen. Die Jubelkräfte beziehen Position, der Öffentlichkeit wird der Zugang auf den Weihnachtsmarkt ab den Vormittagsstunden verwehrt. Einige Güstrower harren stundenlang, bis Schmidt kommt, auf dem Marktplatz aus. Die meisten "Besucher" des Weihnachtsmarktes werden jedoch von Stasi-Mitarbeitern dargestellt, genauso wie das Publikum in der Barlach-Gedenkstätte und im Güstrower Dom. Anwohner des Marktplatzes kommen nur in ihre Häuser, wenn sie ihren Ausweis zeigen und die Begleitung eines Staatsdieners akzeptieren, der sie bis an die Wohnungstür bringt.
Nur westdeutsche Journalisten dürfen sich in Güstrow, außer der Stasi, frei bewegen. Weltoffenheit wird demonstriert, uneingeschränkt dürfen die Journalisten "normale" Menschen befragen. Willige linientreue Bürger werden in sogenannte Lockvogelpositionen gestellt, sie sollen Westjournalisten anziehen, vorgegebene Antworten aufsagen und mitunter auch sozial-politische Maßnahmen der DDR positiv hervorheben.
Sie sollten die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR als Hauptpunkt natürlich fordern, das war das Wichtigste.
Eine Störung des Staatsbesuches gibt es schließlich doch noch: Hans Camin drängt sich zu den westdeutschen Journalisten durch und fordert, überall in Deutschland hinreisen zu dürfen. Ein Genosse sagt daraufhin frech in die Kamera "das kann man ja auch." Andere herumstehende Staatsdiener haben für diese Art von Vorfällen konkrete Verhaltensvorgaben: Sie rufen durcheinander und lassen Hans Camin nicht wieder zu Wort kommen.
Ein Hustenbonbon für Helmut Schmidt
Nach drei Stunden, also um 16.55 Uhr, endet der Besuch Helmut Schmidts auf dem kleinen Bahnhof von Güstrow. "Ich hoffe, wir sehen uns wieder", sagt der Bundeskanzler zu Honecker, ehe er seinen Salonwagen besteigt. Die Staatsicherheit hat auch für die kurze Abschiedszeremonie klare Anweisungen an ihre "Darsteller" erteilt: "Nur klatschen, nicht rufen 'Auf Wiedersehen!'" Eine Szene hatten sich die Laien-Regisseure des DDR-Geheimdienstes allerdings nicht ausgedacht. Es war jener Moment, als Erich Honecker Helmut Schmidt ein Hustenbonbon durch das Fenster ins Abteil reichte. Ein Moment der "Herzlichkeit", der später ebenso symbolisch für den Besuch Schmidts stehen sollte wie die Tausenden von Sicherheitskräften in der gespenstisch entvölkerten Stadt.
"Große Herzlichkeit für Ihren Bundeskanzler"
Nachdem Helmut Schmidts Zug um 17 Uhr in Richtung Hamburg abgefahren ist, lässt sich ein hoch zufriedener Erich Honecker in seinem Citroen nach Wandlitz chauffieren. Dort setzt er sogleich eine überschwängliche Dankesbotschaft an die Genossen von der Staatssicherheit auf:
Es ist Euch gelungen, Güstrow nicht zu einem zweiten Erfurt werden zu lassen.
Gegenüber dem Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Klaus Bölling, rügt der SED-Chef einige Wochen später, dass die Medien der Bundesrepublik "ein so verzerrtes Bild von dem schönen Empfang in Güstrow" wiedergegeben hätten. Denn "da war doch", sagte Honecker allen Ernstes zu Klaus Bölling, "eine große Herzlichkeit für Ihren Bundeskanzler".
Helmut Schmidt als Bundeskanzler
Helmut Schmidt gilt durch seine Offenheit und Verhandlungsbereitschaft als Wegbereiter für die Deutsche Einheit. Der SPD-Politiker, der am 23. Dezember 1918 in Hamburg geboren wurde, war der fünfte deutsche Bundeskanzler. Davor war er Innensenator in Hamburg, Bundesminister der Verteidigung und Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen. In seiner Amtszeit als Kanzler machte er sich auch als Krisenmanager einen Namen.
Nach seiner politischen Karriere war Schmidt, der in jungen Jahren Volkswirtschaft und Staatswissenschaft studiert hatte, publizistisch sehr aktiv. Er wurde Geschäftsführer und Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit". Durch sein politisches Engagement, welches den Grundstein für die deutsche Einheit legte, wurde Helmut Schmidt unter anderem zum Ehrenbürger der Städte Berlin, Bonn, Bremerhaven, Hamburg und Güstrow ernannt. Am 10. November 2015 verstarb der Altkanzler im Alter von 96 Jahren.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR aktuell | 09. August 2019 | 19:30 Uhr