Willy Brandts neue Ostpolitik: "Wandel durch Annäherung"

17. Mai 2022, 11:31 Uhr

Willy Brandts Politik, "Wandel durch Annäherung", trug maßgeblich dazu bei, dass sich der Eiserne Vorhang Stück für Stück öffnete. Das schaffte der spätere Nobelpreisträger, indem er den menschlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontakt zum kommunistischen Nachbarn suchte. Sein Ziel war, das grausamen Sterben von DDR-Flüchtlingen an der Berliner Mauer zu beenden.

Es ist der 17. August 1962. Ein Tag, der das Leben von Willy Brandt für immer verändern wird. Er ist Regierender Bürgermeister von West-Berlin und wird an diesem Tag Zeuge einer menschlichen Tragödie. Der 18-jährige Peter Fechter will über die Mauer vom Osten in den Westen der Stadt flüchten. DDR-Grenzer schießen auf ihn – Fechter wird von drei Schüssen in Lunge und Bauch getroffen und bleibt auf der Ostseite liegen. Drei DDR-Grenzposten stehen, mit ihren Waffen im Anschlag, tatenlos neben Fechter, der vor Schmerz laut schreiend langsam verblutet.

Mauertoter als Auslöser für Brandts Ostpolitik

Der grausame Tod von Peter Fechter wird für Brandt zur Initialzündung. Er will gegen diese unmenschliche Mauer, die Deutschland in zwei Teile spaltet, kämpfen. Doch er weiß: Es ist nicht möglich, die Berliner Mauer wegzureden, wegzufluchen oder wegzubomben. Aber vielleicht ist es möglich, sie zu durchlöchern und transparent zu machen, indem enge menschliche, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte zu den kommunistischen Nachbarn hergestellt werden. "Wandel durch Annäherung" nennt Brandt seine revolutionäre Idee, um humanitäre Erleichterung für die Menschen in dem geteilten Land zu erreichen.

Im Kern hat Brandts Ostpolitik dabei einen durch und durch nationalen Ansatz: Er will tun, was möglich ist, um die Einheit der Nation zu wahren – dadurch, dass er "das Verhältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung" löst. Egon Bahr, der engste Mitarbeiter von Brandt, geht noch einen Schritt weiter und nennt als Ziel dieser Politik ausdrücklich "die Beseitigung der DDR." Die Ostpolitik, so Bahr, sollte eine Umarmung anstreben, in der die Bundesrepublik die DDR eines Tages langsam, aber sicher ersticken kann.

Im Zeichen der Entspannungspolitik

Und plötzlich hat Brandt die Möglichkeit, diese Politik im großen Stil umzusetzen, als er 1969 Kanzler wird. Er nimmt mit den östlichen Nachbarn Kontakt auf und will enge Beziehungen zu den Kommunisten knüpfen. Am 19. März 1970 trifft sich Brandt als Erstes mit den Machthabern der DDR, im ostdeutschen Erfurt. Die DDR-Bevölkerung verehrt den westdeutschen Kanzler und bereitet ihm einen triumphalen Empfang. Doch die SED-Führer wollen mit Brandt nicht verhandeln. Sie fürchten die Annäherung an den Westen.

Ostverträge machen Annäherung mit der DDR möglich

Doch Brandt gibt nicht auf. Seine Ostpolitik gleicht einem komplizierten Beziehungsgeflecht, in dem alle Punkte einander bedingen und zueinander in Balance gebracht werden müssen: Moskau, Warschau und Ost-Berlin. Gelingt es Brandt, mit Moskau und Warschau Verträge abzuschließen, wird sich Ost-Berlin um den Preis der Isolierung im eigenen Lager kaum mehr verweigern können. Letztlich geht es Brandt darum, die DDR aus ihrer Riegelstellung herauszudrängen.

Im August 1970 fliegt Brandt nach Moskau. Es ist das schwere Erbe des Zweiten Weltkriegs, dem er sich in Moskau stellen will. Am 12. August 1970 wird der Moskauer Vertrag unterschrieben, mit dem Westdeutschland die Nachkriegsgrenzen und damit den Verlust der alten deutschen Ostprovinzen jenseits der Oder-Neiße-Grenze akzeptiert. Breschnew triumphiert und feiert das Schriftstück als großen Sieg der sowjetischen Außenpolitik.

Der Kniefall von Warschau

Parallel zu den Gesprächen mit Moskau nimmt Brandt auch den Kontakt zu Warschau auf. Für ihn stellt die Aussöhnung mit dem polnischen Nachbarn den "moralischen Kern" der gesamten Ostpolitik dar. Zu tief sind die Wunden, die Deutsche den Polen geschlagen haben. In kaum einem anderen Land haben die Nazis so gewütet wie hier. Auf polnischem Boden standen die Todesfabriken des Holocaust. Es sind hochemotionale Tage für den Moralisten Brandt. Und so kommt es in Warschau zu einer Geste, die die Welt aufwühlt. Am 7. Dezember 1970 legt Brandt am Mahnmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto im Rahmen einer Feierlichkeit einen Kranz nieder. Nach dem Richten der Kranzschleife kniet er sich plötzlich vor dem Mahnmal nieder.

Der Kniefall von Warschau wird zum Symbol für Willy Brandts Ostpolitik, mit der er die globale Ordnung neu gestalten will. Und er erreicht sein wichtigstes Ziel: Ost-Berlin kann sich nun nicht länger verschließen. 1971 wird mit der DDR das Transitabkommen abgeschlossen, das erstmals seit 1945 den ungehinderten Verkehr von bundesdeutschen Bürgern nach West-Berlin ermöglicht. Ende 1972 folgt schließlich der Grundlagenvertrag, in dem das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR neu festgelegt wird. Es ist der erste Schritt einer Annäherung beider deutscher Staaten. Damit wird der Eiserne Vorhang, der Deutschland teilt, ein wenig gelüftet. Doch sein eigentliches Ziel erreicht Brandt nicht: Der DDR-Schießbefehl bleibt bestehen und an der Mauer sterben weiterhin Menschen.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 28. September 2019 | 06:45 Uhr