Podcast | Diagnose: Unangepasst Tripperburgen: Schleppende Aufarbeitung und kaum Entschädigung

16. Juli 2024, 05:00 Uhr

Zehntausende Frauen und Mädchen wurden in der DDR in sogenannten Tripperburgen zwangseingewiesen und misshandelt. Die Aufarbeitung dieses Kapitels geht jedoch nur schleppend voran. Auch die offizielle Anerkennung des Unrechts und eine rechtliche Auseinandersetzung, ist oft mit einem langen anstrengenden Prozess für die betroffenen Frauen verbunden. Eine Betroffene erzählt, wieso es sich trotzdem lohnt.

"Ich hatte drei Ablehnungen vom Landgericht. Da hatte man aufgeführt, was in meiner Akte steht. Da habe ich gedacht, ich bin in der DDR." So beschreibt Renate* ihren Rehabilitation-Prozess. Über mehrere Jahre hat sie am Landgericht Chemnitz für die Anerkennung des Unrechts gekämpft, was ihr in der DDR in der "Tripperburg" widerfahren ist. Erst als eine Anwältin ihren Fall ans Oberlandesgericht Dresden richtet, wird Renate offiziell rehabilitiert.

Der Weg dahin war lang und aufreibend: "Zorn und Wut und Unverständnis, dass man in dem neuen System diese alten Akten aufführt und die genauso übernimmt. Und dann das Urteil fällt. Also das war für mich unabdingbar. Ich kam mir vor wie in alten Zeiten. Und das drei Mal!"

Das liegt daran, dass das Gericht Begründungen aus ihrer Kranken- und Stasiakte übernommen hat, ohne diese zu hinterfragen. Diese Akteneinträge sind jedoch vom damaligen Blick auf ein Leben geprägt, das nicht der sozialistischen Ideologie entsprochen hat. Und dieser undifferenzierter Blick auf ihren Fall macht sie wütend.

Am Bahnhof aufgegriffen

Als Renate mit 15 Jahren auf dem Leipziger Hauptbahnhof von der Transportpolizei aufgegriffen wurde, wusste sie nicht, dass sie sich damit noch Jahrzehnte später beschäftigen wird. Sie wird damals in die geschlossene venerologische Station in der Leipziger Riebeckstraße gebracht. Dort wird Renate für vier Wochen zwangseingewiesen, täglich gynäkologisch untersucht und psychisch wie physisch misshandelt.

Renate teilt damit ein Schicksal mit zehntausenden Frauen, denen ähnliches in der DDR passiert ist. Drei weitere Frauen berichten im Podcast "Diagnose: Unangepasst - Der Albtraum Tripperburg" über ihren Umgang mit dem Thema und wie sie noch Jahrzehnte später um Anerkennung ihres Leids und die Rehabilitation kämpfen.

Aufarbeitung startet erst im Jahr 2012

2012 schiebt die damalige Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt, Birgit Neumann-Becker, ein Forschungsprojekt an. Die Wissenschaftler Maximilian Schochow und Florian Steger beginnen daraufhin mit der Aufarbeitung um die geschlossene venerologische Station in Halle. Sie führen Interviews mit Betroffenen - aber auch mit medizinischem Personal, was zu DDR-Zeiten auf diesen Stationen gearbeitet hat. Sie durchforsten Archive und sammeln so immer mehr Beweise über das Bestehen dieser Stationen.

Es melden sich immer mehr Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Irgendwann erschließt sich den Wissenschaftlern ein Bild: Diese Form der Disziplinierung und der Unterdrückung hatte System. "Und dabei wurde uns klar: Okay, das hat offensichtlich nicht nur in Halle stattgefunden, sondern so was hat offensichtlich DDR-weit stattgefunden.", erzählt Maximilian Schochow im Podcast.

Kaum Geld und wenig Zeit für Forschung

Diese Berichte zeigen Schochow zufolge auch, "dass dort Sachen stattgefunden haben, die eben nicht einer medizinischen Versorgung entsprechen. Sondern dass da eine politische Erziehung im weitesten Sinne stattgefunden hat und dass die Frauen dort offensichtlich auch sehr stark traumatisiert wurden."

Wir könnten da 100 Jahre arbeiten, also die Akten dafür existieren.

Maximilian Schochow | forscht seit über 10 Jahren zu "Tripperburgen"

Dabei sind noch nicht alle Archivbestände erfasst und es melden sich auch immer wieder neue Zeitzeuginnen. Es fehle einfach an Zeit und Geld, erklärt Schochow. Es würde eine Menge an ungelesenen Akten in Archiven "vergammeln", die man auch nicht in Eigenregie korrekt auswerten könne.

Auch eröffnen sich immer wieder neue Themenbereiche, wie zum Beispiel Männer in den sogenannten Tripperburgen oder wie solche geschlossenen venerologischen Stationen in der BRD betrieben wurden. Schochow dazu: "Ich arbeite daran nach wie vor kontinuierlich weiter und finde da immer wieder neue, für mich sehr spannende Aspekte in dem Thema."

Ohne Akten keine Rehabilitation

Die Arbeit der Wissenschaft erleichtert es aber betroffenen Frauen vor Gericht, das Leid und Unrecht, was ihnen widerfahren ist, anerkennen zu lassen. Das Finden von Belegen in Archiven und Krankenakten über die Existenz dieser Stationen und die Methoden, mit denen dort gearbeitet wurde, hilft bei der Beweisführung.

Du brauchst deine Akte, aber viele Akten sind vernichtet worden. Dann hast du nichts in der Hand und kannst nichts machen.

Renate | war in der Tripperburg in Leipzig

Aber dann gibt es immer noch das Problem, dass betroffene Frauen ihre Akten vorlegen müssen. "Wenn ich meine Akte nicht gehabt hätte, hätte ich nichts gekriegt. Du brauchst deine Akte, aber viele Akten sind vernichtet worden. Dann hast du nichts in der Hand und kannst nichts machen." Renate betont immer wieder, dass das ihr großes Glück war, weil sie einen Beweis hatte und das, was ihr widerfahren ist, auch so konkret in ihrer Kranken- und Stasiakte steht.

Langer und teils retraumatisierender Prozess

Das bedeutet aber auch nicht, dass der Prozess dann leicht für die Frauen wird. Das Beispiel von Renate zeigt das deutlich. Sie hat insgesamt vier Anläufe benötigt, bis das Landgericht Chemnitz ihr Unrecht offiziell anerkannt hat. Das ist auch nur passiert, weil Renate an eine Anwältin geraten ist, die sich für ihr Recht eingesetzt hat und den Fall an die nächst höhere Instanz weitergeleitet hat:

"Sie hat mir diese Anklageschrift genauso geschrieben, wie ich mir das vorgestellt habe. Das hat sie zum Oberlandesgericht nach Dresden geschickt. Und die haben dann nach einem Vierteljahr dem Antrag stattgegeben. Also bin ich praktisch rehabilitiert worden. Politisch für meinen Aufenthalt in der Tripperburg und auch im Jugendwerkhof. Ich bin auch beruflich rehabilitiert worden, weil es ja hieß, ich sollte den Facharbeiter machen und dann haben sie mich ja dort eingesperrt."

Auch andere betroffene Frauen erzählen dem Recherche-Team um den Podcast, dass sich der Prozess der Rehabilitierung lange hingezogen hat und zum Teil auch retraumatisierend war. Denn die Frauen werden mit ihren Akten und der abwertenden Sprache daraus konfrontiert sowie müssen sie ihre Zeit in den "Tripperburgen" schildern.

Offizielle Anerkennung ist mehr Wert als finanzielle Entschädigung

Bei einem erfolgreichen Prozess wird den Frauen das widerfahrene Unrecht offiziell anerkannt und sie werden auch finanziell entschädigt. Das bedeutet: Bei einer strafrechtlichen Rehabilitierung gibt es pro angefangenem Monat Freiheitsentzug 306,78 Euro - das wird einmalig ausgezahlt. Da die meisten Frauen jedoch maximal vier Wochen zwangseingewiesen wurden, fällt die Entschädigung relativ gering aus.

Zudem gibt es die Möglichkeit auf eine SED-Opferrente von monatlich 330 Euro. Die wird aber nur ausgezahlt, wenn mindestens 90 Tage Freiheitsentzug nachgewiesen werden können - das betrifft vor allem Frauen, die in Tripperburgen und zum Beispiel Jugendwerkhöfen nachweislich festgehalten wurden.

Und wenn es damals eine richtige Freiheit gegeben hätte, hätte es sowas überhaupt nie gegeben. Deshalb sollte man da wirklich mal drüber reden.

Renate | Betroffene aus Leipzig

Anderen Betroffenen Mut machen

Für Renate hat die finanzielle Entschädigung zwar auch eine Rolle gespielt, aber ihre Motivation war eher, auf das Unrecht aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass nicht nur bestimmte Personen dort eingeliefert wurden. "Weil das wurde ja immer so verdammt. ‚Was waren das für Frauen? Das waren doch alles Huren. Die sind doch auf den Strich gegangen.’ Das wird doch so abgetan. Und deshalb erzähle ich das mal, wie so was eigentlich immer zu Stande gekommen ist, dass es so was ändert. Und wenn es damals eine richtige Freiheit gegeben hätte, hätte es sowas überhaupt nie gegeben. Deshalb sollte man da wirklich mal drüber reden."

Sie will auch andere betroffene Frauen ermutigen diesen Schritt zu wagen, ihr Unrecht anzuzeigen und darüber zu reden. "Ich muss sagen, ich würde es den Frauen raten, das schnell zu beantragen. Auch wenn das erste Mal vielleicht abgelehnt worden ist."

*Der Name wurde von der Redaktion geändert, um Anonymität zu wahren.

Mehr zu dem Thema:

Dieses Thema im Programm: ARD Audio | Diagnose: Unangepasst - Der Albtraum Tripperburg | 30. April 2024 | 06:00 Uhr