Erfurt Stasizentrale Stasi raus! Wie Frauen in Erfurt die Stasi davonjagten
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03. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Honecker hat abgedankt, die Mauer ist gefallen, das Politbüro abgewählt. Doch die gefürchtete Geheimpolizei agiert noch immer im Verborgenen. Am 3. Dezember gibt es Gerüchte, die Staatssicherheit würde heimlich ihre Überwachungs-Berichte verbrennen. Mehrere Frauen in Erfurt wollen das verhindern. Am nächsten Tag, es ist der 4. Dezember, machen sie mobil zur Besetzung der Stasi-Zentrale - die erste Aktion dieser Art im Wendejahr.
Der 4. Dezember 1989 ist ein nasskalter Tag. Wie in der gesamten DDR demonstrieren die Menschen auch in Erfurt gegen die alten Machthaber.
Am Morgen des 4. Dezembers, relativ früh, gegen 7 Uhr, hat es geklingelt und vor der Tür standen Frauen, die gefragt haben: 'Bist du dabei?'
Ihr Plan: Die Besetzung der Erfurter Stasi-Zentrale. Denn, was als Gerücht durch die Stadt und die Medien geistert, nämlich dass die Staatssicherheitsleute brisante Papiere vernichten, ist Realität. Tely Büchner erinnert sich: "Man hat das gerochen und Rauchwolken gesehen. Soweit wir wussten, gab es auch Fernwärme. Doch wir hatten den Verdacht, dass dort Akten vernichtet werden."
Rauch über Erfurt
Dieser "riesen Schweinerei" wollen die Frauen nachgehen: "Die Mauer war auf. Und die Bevölkerung hat gesagt: 'Wir wollen es nicht mehr.' Aber die haben einfach weiter gemacht. Letztendlich sind es unsere Biografien und Geschichten, die dort beeinflusst wurden. Es gab viele Menschen, denen Unrecht angetan wurde. Die Aktenvernichtung musste gestoppt werden", so Büchner. Sie ist damals schwanger und aktiv in einer Künstlerinnengruppe - nur eine von vielen Gruppen, in denen sich die Frauen künstlerisch und politisch austauschen. Tely Büchner und ihre Mitstreiterinnen versuchen an diesem Dezembermorgen, so viele Erfurter zu mobilisieren, wie möglich. Der Impuls ging von den Frauen aus und aus Fünf wurden ganz schnell viele.
4. Dezember 1989: Unklare Situation vor Ort
Die Frauen informieren Arbeiterinnen und Arbeiter in verschiedenen Betrieben, das Rathaus, die Staatsanwaltschaft und die Presse, um so eine möglichst große Öffentlichkeit hinter sich zu wissen. "Das war ja eine hoch explosive Zeit. Die Stimmung war total aufgeladen. Mir war wichtig, es friedlich zu regeln und deshalb wollten wir auch die Stadt mit reinholen", berichtet Büchner.
Mehr und mehr Menschen versammeln sich vor den Mauern der Stasi-Zentrale in der Andreasstraße. Doch das Haupttor bleibt verschlossen. Tely Büchner eilt mit anderen zum Hintereingang. Dann der Moment, an dem ihr kurz der Atem stockt:
Denn da standen zwei bewaffnete, ganz junge Männer. Und was ich in deren Augen gesehen habe, das war Angst und Hilflosigkeit.
Doch es fallen kein Schüsse. Angst hatte die junge Frau in diesem Augenblick nicht: "Klar war es gefährlich. Man wusste nicht, wohin der Pegel ausschlägt. Aber es war ein Prozess, der nicht mehr aufzuhalten war. Es war vielmehr unser unbedingte Wille, etwas zu ändern. Und es war auch extrem wichtig, dass so viel Leute da waren." Ohne Gegenwehr dringen die Aktivisten weiter in den Gebäudekomplex vor und öffnen das Haupttor für die anderen Demonstranten.
Stasi-Akten in Öfen verbrannt
Während in den Räumen verhandelt wird, macht sich die junge Tely Büchner auf die Suche nach dem Ort, an dem womöglich Akten verbrannt werden. Von Öfen oder Abhöranlagen allerdings wollen die anwesenden Stasi-Offiziere nichts wissen. Es habe ein Katz-und Maus-Spiel begonnen, wie sie sich heute erinnert.
Die Aktivistinnen und Aktivisten durchkämmen Raum für Raum, Etage für Etage. Im Keller werden sie schließlich fündig: "Das ist eben immer noch mal was anderes, wenn man dann davor steht. Wenn man die Säcke sieht, die Asche, die Schnipsel und denkt, was und wie viel von diesen Akten ist eigentlich schon verschwunden und verbrannt", so Büchner.
Neben den verkohlten Akten stoßen sie schließlich auch auf ein ganzes Archiv mit noch intakten Unterlagen - ein Raum mit unzähligen Akten, nur zugänglich mit einem Spezialschlüssel. Sie beschließen den Raum zu versiegeln. Ab jetzt gehören die Stasi-Akten den Bürgerinnen und Bürgern, die sich nun auch nach ersten Beweisstücken ihrer Unterdrückung machen.
Viele von ihnen haben Repressalien erlebt. Ich bin nie inhaftiert gewesen. Doch es gab Einschränkungen in der Kunst. Künstlerische Freiheit gab es nicht. Die haben wir uns genommen.
Ab jetzt bewachen Erfurter Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit der Volkspolizei die eroberte Stasi-Festung. Freiwillig, rund um die Uhr. In der Stasi-Zentrale Andreasstraße brechen neue Zeiten an. Noch am gleichen Tag besetzen Menschen an vielen Orten in der DDR weitere Gebäude der Staatssicherheit.
Zivilcourage ist da ein ganz wichtiges Element. Allerdings werden die Sätze, die wir damals gesagt haben, heute von Leuten instrumentalisiert, die dazu nichts zu sagen haben. Aber ohne Inhalt bleiben sie hohl.
Das Ausmaß der Überwachung
Die Stasi-Mitarbeiter werden in den nächsten Monaten schrittweise von den Bürgern entlassen. In den Stasi-Objekten kehrt Ruhe ein. Eine skurrile Situation. Die Freiwilligen sichern Waffen, Technik, Tonbänder. Das Ausmaß der einstigen Überwachung wird allmählich deutlich. Es ist Zeit zum Aufräumen.
Gedenkveranstaltungen am 3. und 4. Dezember 2022
Zum 10. Jahrestag der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße gibt es eine Jubiläums-Veranstaltung ab 16.00 Uhr sowie die Vorstellung der neuen digitalen Präsenz: www.andreasstrasse.de. Einen Tag später, am 4. Dezember 2022, erinnert die Gedenkstätte ab 18.00 Uhr an die Besetzung vor 33 Jahren, mit anschließender Podiumsdiskussion zur "Aufarbeitung der Rolle des sowjetischen Geheimdienstes KGB und seiner Nachfolgeorganisation FSB in Russland".
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Der Osten - Entdecke, wo du lebst | 15. Februar 2022 | 21:00 Uhr