Die Geschichte der "Ostberliner Treppengespräche" Das letzte Buch der DDR: Eine Minute vor der Deutschen Einheit publiziert
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20. Mai 2021, 18:54 Uhr
Am Vorabend der Deutschen Einheit 1990 erschien genau eine Minute vor Mitternacht das letzte Buch der DDR. Die Geschichte der "Ostberliner Treppengespräche" ist genauso kurios wie die seines Verlegers Christian Ewald.
Ein Buch nach eigenem Gusto zu verlegen, wie es Christian Ewald am letzten Tag der DDR tat, war wohl nur in der verrückten Zwischenwendezeit 1989/90 möglich. Wenige Monate zuvor war es noch undenkbar gewesen, dass jedermann verlegt und publiziert, was ihm gefällt. Vom Roman bis zu Betriebsanleitung musste jeder Druck in der DDR genehmigt werden. Wer sich mit allzu kritischen Manuskripten an die staatlichen Verlage wandte, riskierte ein Berufsverbot oder auch Gefängnis.
Das letzte Buch - ein Zufall
Das letzte Buch der DDR stammt jedoch nicht aus der Feder des umtriebigen Künstlers Ewald, aber er war der Geburtshelfer dieses kuriosen Projektes. In den Wirren der Zwischenwendezeit hatte er Besuch von einem fremden Mann bekommen. Ängstlich soll der das Manuskript für die "Ostberliner Treppengeschichten" an seinen Körper gepresst haben, als er das Gespräch mit Ewald suchte. Nur ihm vertraute sich der Fremde an. Ein paar Monate vorher wäre der literarische Abgesang auf kleinkarierte DDR-Funktionäre im eingemauerten Sozialismus Zündstoff gewesen. Allerdings handelte es sich bei dem Werk nicht nur um eine Abrechnung mit dem System, vielmehr warf das Buch auch einen kritischen Blick zurück und thematisierte die Frage, was die Zukunft dem Osten Deutschlands bescheren würde. Christian Ewald war begeistert von dem Manuskript.
Verleger aus Leidenschaft
Dass Christian Ewald zum Verleger des letzten Buches der DDR wurde, war weniger dem Drang geschuldet, Karriere zu machen, als seiner Begeisterung für Dinge, die ihn überzeugten und sein Interesse weckten. Dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch Ewalds Leben. 1949 in Weimar geboren, war er schon als junger Mann ein kritischer Geist. Er machte eine Lehre zum Schriftsetzer und blieb als Korrektor und Plakatmaler immer im kreativen und gestalterischen Bereich zu Hause. Seine große Chance war ein Grafikstudium im fernen Berlin, wo er heute noch wohnt. Es dauerte nicht lange, bis der Freigeist auch die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit auf sich zog.
Christian Ewald begann heimlich in seiner Köpenicker Wohnung Bücher zu produzieren. Keine Massenware, sondern handgeschriebene Kunstwerke voller Fragen. Zwischen den Zeilen war die Kritik an der DDR erkennbar. Eine offizielle Genehmigung für die Veröffentlichung der "Ostberliner Treppengeschichten" wäre undenkbar gewesen. Für den Tausendsassa Ewald war das Buch deutlich mehr als ein Job - es war Leidenschaft.
Drucken auf Packpapier
Ewald nahm die Herausforderung an, dieses Projekt zu Ende zu bringen. Doch konnte er das Buch nicht einfach wie seine künstlerischen Unikate vorher produzieren. Genähte Illustrationen und handgeschriebene Texte waren für das letzte DDR-Buch zu aufwendig. In einem Land, das sich im Untergang befand, und bei einem Verleger, der wenige finanzielle Mittel hatte, war viel Improvisationstalent gefragt. Ewald nimmt, was er kriegen kann. Genau das wurde sein Produktionsprinzip: Der Bucheinband war aus Packpapier-Tüten. Ein Produkt, das keiner mehr haben will. So wurden Überreste der Mangelwirtschaft zum Kulturgut.
Die Betriebe wurden abgewickelt. Die wussten nicht, wer ist der neue Eigner. Sie haben erstmal nicht weiter produziert, haben kaum noch was hergestellt, haben Lagerbestände verkauft.
Prämierter Erfindergeist
Christian Ewald stellte das Buch einen Tag später auf der Frankfurter Buchmesse der begeisterten Kulturszene vor. Vor seinem Stand bildeten sich Menschentrauben, die staunten und bewunderten. Die "Ostberliner Treppengespräche" wurden mit dem "Preis der Stiftung Buchkunst" als eines der "schönsten deutschen Bücher 1990" ausgezeichnet und schließlich auch in den Bestand der bedeutenden Kongressbibliothek in Washington aufgenommen.
Das letzte Buch der DDR war allerdings nicht das letzte Buch des Neuverlegers. So wurde aus dem Werk die erste Edition der "Katzengrabenpresse", dem neu gegründeten Verlag von Christian Ewald. Noch imer bringt Ewald Bücher raus. Die zumeist zweisprachigen Bücher sind ausschließlich Erstausgaben im Bleisatz gedruckt und von Hand gebunden. Aber nie mehr als 999 Stück. Jedes Werk ist ein kleines Kunstwerk, wie das letzte Buch der DDR.