Michail Gorbatschow
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Gorbatschow - Totengräber der UdSSR?

23. August 2019, 11:58 Uhr

Am 1. November 1987 erschien in der UdSSR Michael Gorbatschows Buch "Perestroika". Vier Jahre später, 1991, wurde Gorbatschow als Folge des Augustputsches entmachtet. Wie steht es heute um das historisches Ansehen des letzten Generalsekretärs der KPdSU und des ersten und einzigen Präsidenten der Sowjetunion?

Im Westen, ganz besonders in Deutschland, ist diese Frage recht einfach zu beantworten: Gorbatschow gilt hier nach wie vor als derjenige, der den Ost-West-Konflikt beendete und den Ostblockstaaten Freiheit und Demokratie brachte – ein Held.

Gorbatschow habe die Sowjetunion auf dem Gewissen

Stellt man die gleiche Frage in Russland, fällt die Antwort wohl in den meisten Fällen eher negativ aus. Für viele Menschen gilt Gorbatschow als Verräter, der eine Supermacht auf dem Gewissen hat. Erst kürzlich hat das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum in einer Umfrage gefragt, welchem politischen Programm aus dem Jahr 1991 die Menschen folgen würden, dem von Jelzin, oder dem vom Gorbatschow. 59 Prozent meinten, keinem von beiden. Immerhin 16 Prozent hielten noch zu Jelzin. Gorbatschow dagegen waren lediglich 9 Prozent zugeneigt. Es hat auch etwas mit der aktuellen innen- wie außenpolitischen Situation Russlands zu tun. Bei den anhaltenden Spannungen mit dem Westen und der zunehmend schweren Wirtschaftslage wird die Sowjetunion zu einem historischen Sehnsuchtort.

"Größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts"

Und das nicht nur bei der einfachen Bevölkerung. Die Partei des Politexzentrikers und Populisten Schirinowski hat im März 2016 einen Antrag in die Staatsduma eingebracht, die politische Tätigkeit des Präsidenten der UdSSR Michail Gorbatschow sowie die des ersten Präsidenten Russlands als verbrecherisch einzustufen. Die Begründung: "Der Zerfall der UdSSR, Nationalkonflikte, zahlreiche bewaffnete Auseinandersetzungen, ein marodes Gesundheitssystem, steigende Sterblichkeitsrate sowie die Zunahme von Alkohol- und Drogenkranken und das katastrophale Sinken des Lebensstandards von Millionen von Bürgern während der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – all das ist kein Zufall." Einen Monat zuvor hatte sich schon der populäre sowjetische und russische Schauspieler und Regisseur Nikita Michalkow mit einem ähnlichen Vorschlag geäußert. "Die Enttäuschung an sich ist schon sehr groß, doch wenn es dabei um die enttäuschten Hoffnungen eines riesigen Landes und eines großen Volkes geht, kann ich es nicht anders als eine Tragödie bezeichnen", fügte er später hinzu.

Wladimir Putin dürfte ähnlich denken. Schließlich ist von ihm das Zitat überliefert: "Der Zerfall der UdSSR ist die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts." Als er im Dezember 2011 bei einer Fragestunde, damals noch als Premierminister, gefragt wurde, was er seinerzeit an Stelle Gorbatschows gemacht hätte, antwortete er: "Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, hätte man nachhaltig und unerschrocken für die Erhaltung unseres Staates kämpfen müssen."

Höchster Orden Russlands für Gorbatschow

Es gibt natürlich auch andere Stimmen und Ansichten. Menschen, die vor allem an die Freiheit denken, die Gorbatschows Reformen den sowjetischen Bürgern gebracht haben. So hat der Friedensnobelpreisträger zu seinem 80. Jubiläum im Jahr 2011, fast 20 Jahre nach dem Ende seiner politischen Karriere, vom Präsident Medwedew auch den höchsten Orden des russischen Staates zuerkannt bekommen. "Ich halte das für eine adäquate Wertung der großen Arbeit, die Sie an der Spitze des Staates geleistet haben. Sie haben unser Land tatsächlich in einer sehr schwierigen und dramatischen Situation geleitet. Und wir alle wissen das", sagte Medwedew bei dieser Gelegenheit Gorbatschow gegenüber. Von Präsident Putin gab es dieses Jahr zum 85. Geburtstag lediglich ein knapp gehaltenes Telegramm.

Enttäuschung über den Westen

Doch auch Gorbatschow selbst hat sich über die Jahre verändert. Mit der zunehmenden Abkühlung der außenpolitischen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist sein früheres Vertrauen und  seine Begeisterung gegenüber letzterem eher einer Enttäuschung und Verbitterung gewichen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die NATO und deren über die Jahrzehnte sukzessive erfolgte Ausdehnung in den Osten, immer näher an Russlands Grenzen heran.

Die Beschlüsse des diesjährigen NATO-Gipfels in Warschau, Truppen in den baltischen Staaten zu stationieren, kommentierte er gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax mit den Worten: "Die NATO bereitet sich vor, aus einem Kalten Krieg einen Heißen zu machen. Die ganze Rhetorik in Warschau schreit geradezu nach dem Streben, Russland den Krieg zu erklären. Sie reden nur von Verteidigung, de facto jedoch bereiten sie sich auf einen Angriff vor." Kurz zuvor hat Gorbatschow bereits in einem Interview gegenüber der "Sunday Times" Putins Krimpolitik verteidigt und meinte, er würde in einer ähnlichen Situation ebenso handeln. Nach dieser Aussage hat ihm die Ukraine ein Einreiseverbot erteilt.

(Zuerst veröffentlicht am 19.08.2016)


Über dieses Thema berichtete auch ein MDR Zeitreise spezial im TV: MDR | 20.11.2016 | 22:30 Uhr