Baseballschlägerjahre "Auf dem rechten Auge blind": Freie Rechte Jugend nach der Wiedervereinigung
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24. Januar 2022, 16:48 Uhr
Skinheads, Jungs und Mädchen mit Kurzhaarschnitt, Bomberjacke, Schnürstiefel, wahlweise zusätzlich bestückt mit Baseballschläger, Springmesser oder Gaspistole: Nach der Wiedervereinigung räumt die Freie Rechte Jugend den Osten nach ihrer Gesinnung auf. Sie terrorisieren Schwule, Ausländer, Menschen mit anderer Hautfarbe. Kurz: alles, was in ihren Augen "undeutsch" ist und im neuen wiedervereinten Deutschland aus ihrer Sicht nichts verloren hat. Und sie können dabei lange darauf vertrauen, dass ihnen niemand entgegentritt.
Es ist jetzt mehr als 30 Jahre her. Doch noch immer ist Oliver erschüttert von dem, was sich unmittelbar nach dem Mauerfall in seiner Heimatstadt abgespielt hat. Zerbst in Sachsen-Anhalt steht dabei nur für eine von Tausenden ostdeutschen Städten, in denen sich nach dem Mauerfall 1989 plötzlich "Jagdszenen" auf offener Straße abspielten, wie sie Ende des 20. Jahrhunderts in Deutschland niemand mehr für möglich hielt. Wo Skinheads oder Jungs und Mädchen mit Kurzhaarschnitt Homosexuelle, Ausländer oder Menschen mit anderer Hautfarbe, im neuen wiedervereinten Deutschland terrorisierten und dabei darauf vertrauen konnten, dass ihnen niemand entgegentritt.
"Ich habe das Recht herumzulaufen, wie ich will"
"Man hat überall gemerkt, dass der Staat nicht mehr da ist. Mit seinen Organen, mit seinem Gewaltmonopol", sagt Oliver, der nicht mit vollem Namen genannt werden will. Damals 1990, mit 15 Jahren, war er überzeugt, allen stünde fortan das Recht zu, sich zu kleiden und zu stylen, wie es einem beliebt. Dass diese Freiheit in Zerbst enge Grenzen hat, begreift der Junge mit dem frisch geschorenen Iro schnell: "Da hab ich das erste Mal auf die Fresse gekriegt, dann das zweite Mal. Ich habe zwar gemerkt, die finden mein Aussehen scheiße. Aber ich hab' mit 15 einfach nicht verstanden, warum ich das nicht darf. Und dann war der Trotz da: jetzt erst Recht. Du hast ja das Recht rumzulaufen, wie du willst. Du tust ja keinem weh."
Für dieses Recht ist Oliver schließlich fast gestorben. Zusammen mit 16 anderen Jugendlichen. Denn als sie sich entschließen, eine alte leerstehende Mühle als Treffpunkt und Rückzugsort zu nutzen, wo sie niemand so einfach verdreschen und zusammentreten kann, fühlt sich die neue rechtsradikale Jugend der Region herausgefordert.
Brandanschlag auf die Kötschauer Mühle in Zerbst
Sechs Mal versuchen Skinheads und ihr immer reichlicher werdender Anhang, das Gebäude mittels Brandsätzen zu zerstören. Am 2. Oktober 1990, in der Nacht vor der Deutschen Einheit, gelingt es ihnen schließlich. Das Gebäude geht in Flammen auf. Die eingeschlossenen 17 Jugendlichen retten sich in letzter Sekunde durch einen Sprung vom Dach. Ein Wendepunkt - so hoffen Oliver und seine Freunde und werden enttäuscht. Nicht den Tätern wird öffentlich der Prozess gemacht, sondern den vermeintlich provozierenden Opfern:
Wir waren plötzlich daran Schuld, dass wir an diesem Abend fast gestorben wären. Dass da Leute unterwegs waren, die aus niederen Gründen fast gemordet hätten, war kein Bestandteil der Diskussion. Du musstest als jemand, der eine Woche vorher fast verbrannt wäre, dich da hinstellen und dir sagen lassen: 'Selber Schuld.' Das war so der Duktus damals. 'Rivalisierende Jugendbanden' hieß das. Davon hat dann auch der eingeschaltete Staatsanwalt immer geredet. Völliger Quark. Ich habe mich nie in einer Bande gesehen, die andere Leute überfallen hat. Das haben wir einfach nicht gemacht. Wir wurden verprügelt, weil wir anders aussahen.
Bewusste Zerstörung - ein Novum
Das ein Mob von circa 200 bis 250 Menschen am 2. Oktober 1990 bewusst vor das Gebäude zog, um es zu zerstören und die sich dort Versammelten mit allen Mitteln zu vertreiben, wird heruntergespielt. Und die Ermittlungen werden nach kurzer Zeit eingestellt, erinnert sich Oliver: "Von 80 Leuten, die da angegriffen haben, kannte man die Namen. Von denen haben manche die gleiche Schule, mitunter die gleiche Klasse besucht. Das hat niemanden interessiert. Niemanden. Und das, obwohl es Täter gab, die das sogar zugegeben haben. Dazu hat der Staatsanwalt seinerzeit nur bemerkt: Er finde es gut, dass sie das zugeben und da muss man sie ja nicht noch betrafen. Vom Rechtsverständnis, ein undenkbares Ding von einem Staatsanwalt. Und dann ist es im Sande verlaufen."
Das staatliche Versagen: Polizei und Justiz
Was wie ein krasser Einzelfall erscheint, passiert 1990 in Serie. Opfer und Rechtsextremismus-Experten wie Torsten Hahnel vom Miteinander e.V. in Halle haben dabei schon früh auf ein eklatantes Versagen des Staates hingewiesen. Das staatliche Gewaltmonopol galt nicht. Zumindest nicht für bestimmte Opfergruppen und das über fast zwei Jahre hinweg. Wie konnte es dazu kommen?
"Keine Einsatzkräfte", entgegnen ab Herbst 1990 Polizeibehörden immer wieder, wenn sie gefragt werden, warum rechtsradikale Mobs in Dresden, Leipzig, Halle, Jena nahezu ungehindert Anschläge verüben können. Und nicht nur die Vereitelung der Straftat ist ein Problem. Bereits die die routinemäßige Ermittlungsarbeit "schläft" regelmäßig ein. Täter, die keine Anstalten unternehmen, sich zu maskieren, bleiben unbehelligt. Ermittlungen werden eingestellt oder gar nicht erst aufgenommen. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass im ersten gemeinsamen Verfassungsschutzbericht aus den ostdeutschen Ländern gerade mal 36 rechtsextreme Gewalttaten fürs letzte Quartal aktenkundig werden - zu einem Zeitpunkt, wo die Rechtsradikalen jedem Reporter bereitwillig Auskunft über ihre Einschüchterungs-Aktionen geben.
Rechtsradikale in der Polizei: eine Gewissensfrage
Für die Polizei ist das noch lange kein Grund aktiver zu werden. Schließlich hat sie seit dem Herbst 1989 ein Legitimationsproblem. Unter dem Vorwand, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, hatte man schließlich allzu oft den willfährigen "Büttel" des SED-Regimes gegeben. Noch einmal möchte man sich jetzt nicht wieder zwischen die Fronten begeben. Zumal viele Volkspolizisten noch auf die Nachricht warten, ob sie überhaupt in die neuen Strukturen der Länder übernommen werden. Dass in Bezug auf den geringen Verfolgungsdruck gegenüber den Rechtsradikalen auch Sympathien auf Seiten der Polizei eine Rolle spielen könnten – dieser Verdacht kommt ebenfalls früh auf. Und selbst bei der Polizeidirektion Dresden weist man solche Vermutungen im Gespräch mit einem ARD-Team nicht zurück:
Frage: Können Sie sich denn vorstellen, dass Dresdner Polizisten auch mitmachen bei den Rechtsradikalen?
Wolfgang Kießling (Oberkommissar Dresden): Das ist eine Gewissensfrage. Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Von den jungen Kollegen auf jeden Fall.
Fehlender Verfolgungsdruck in der DDR
Zu diesem Zeitpunkt haben Rechtsradikale die Stadt Dresden schon "Hauptstadt der Bewegung" getauft. Das Unterstützungspotential dieser Szene unter ostdeutschen Jugendlichen machen Sozialwissenschaftler bei 50.000 Personen aus. Eine Massenbewegung, deren Aufstieg sich schon wesentlich früher abzeichnete. Bernd Wagner, 1990 bis 1991 Leiter des Staatschutzes im Zentralen Kriminalamt der DDR und später dem Gemeinsamen LKA der neuen Länder, hat sich als Analytiker und Kriminalist bereits ab 1980 auf die Fährte der Rechtsextremisten in der DDR begeben - zu einer Zeit, als das Phänomen offiziell noch kaschiert wurde. Rechtsradikale wurden von der SED aber auch der Polizeiführung vor allem als "verirrte Schafe" dargestellt und unterm Deckmantel des "Rowdytums" verurteilt. Dass sich eine originär sozialistisch erzogene rechtsradikale Jugend in der DDR etabliert, durfte auf keinen Fall öffentlich debattiert werden.
Erst 1987/88 reagierten MfS, Polizei und DDR-Justiz auf die zunehmenden Übergriffe und öffentlich immer wahrnehmbareren Provokationen mit nationalsozialistischen Symbolen und Gesten. Mitglieder der Szene wurden zur Armee eingezogen, zur Ausreise gedrängt oder wegen Rowdytums und öffentlicher Herabwürdigung staatlicher Institutionen inhaftiert - unter anderem in Gefängnissen wie Brandenburg-Görden, wo die Szene mit einsitzenden NS-Kriegsverbrechern direkten Kontakt aufnahm und ihr Ziel, dem antifaschistischen Staat den Krieg zu erklären, nur noch massiver verfolgte.
Spätestens als im Zuge der großen Amnestie im Winter 1989 auch Hunderte Rechtsradikale aus der DDR-Haft entlassen wurden, war klar: Diese politisch motivierten Täter werden alles daran setzen, den Zusammenbruch des Systems DDR auf ihre Weise zu nutzen. Bei den Montagsdemonstrationen in Leipzig sind die unmittelbaren Folgen unverkennbar.
Auf dem rechten Auge doppelt blind
"Ich habe das erste Mal über Rechtsradikalität im Bundeskriminalamt im Juni 1990 ein Referat gehalten", erinnert sich Kriminalist Bernd Wagner. "Da haben mich dann weite Teile der dort Anwesenden aus dem gesamten Bundesgebiet, also Generalbundesanwalt, BND, MAD angeguckt, als ob ich vom Mond gekommen wäre. Die haben mir das in weiten Teilen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht abgenommen. 'Der muss ja die Lage noch verschlimmern, denn der ist ja heimlich noch ein SED-Scherge.' Man hat die Rechtsradikalen im Osten ernsthaft nicht gesehen. Oder wollte sie nicht sehen."
Die Hoffnungen des DDR-Rechtsextremismusexperten waren groß. Nachdem er jahrelang bei seinen Ermittlungen gegen Rechts aus ideologischen Motiven behindert worden war, schien der Weg endlich frei, ohne Scheuklappen gegen diese Szene zu ermitteln. Doch auch die Sicherheitspartner aus dem Westen sahen keine Gefahr in Verzug, wenn man dem seltsamen Treiben auf den Straßen Ostdeutschlands erst mal in Ruhe zuschaut.
Rechtsradikalismus im Osten? Niemals!
"Der westdeutsche Sicherheitsapparat war von der Doktrin geprägt, dass der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik abschüssig sei. Die NPD wurde als fast erstorben deklariert. Die nazistischen Verbände wurden als Kleinstverbände eingestuft", erklärt Bernd Wagner. "Und der Vereinigungsprozess konnte aus deren Sicht auch keine Befruchtung der Szene darstellen, weil man davon ausging, dass sich die Menschen in der DDR alle in die Demokratie hineinfreuten. Nationalistische oder völkische Töne spielten bei der Betrachtung gar keine Rolle. Es wurde eben angenommen, dass die Vereinigung hundertprozentig aufgrund der demokratischen Werte stattfände, die ja in der DDR nicht vorhanden waren."
Was die große politische Bühne anbelangt, liegen die westdeutschen Spezialisten richtig. Die rechtsradikale Szene bleibt zersplittert. Und der schnelle, radikale Wiedervereinigungskurs von Helmut Kohl wirkte sogar auf die "Republikaner", die sich bereits im Höhenflug sahen, pulverisierend. Dass sich die Rechtsradikalen jedoch zunehmend auf ein anderes Feld verlegen, die Eroberung sozialer Räume, die Etablierung sogenannter "national befreiter Zonen", diese Gefahr haben die Staatsschützer nicht erkannt. Schlimmer noch: Als sich abzeichnet, wie massiv die Demokratie unter rechtsradikalen Beschuss gerät und erste internationale Schlagzeilen für unerwünschte Aufmerksamkeit sorgen, wird das Problem öffentlich kleingeredet.
Trauma bis heute
Die Folge: Die Spirale der Gewalt dreht sich immer schneller. 1992 werden so viele rechtsradikale Gewaltdelikte verzeichnet, wie nie zuvor seit 1949 und nie danach. Der Frust über dieses als Zeit der Anarchie bagatellisierte Kapitel Nachwendegeschichte ist bis heute immens. Denn viele der Opfer sehen bis heute nicht die geringste Spur von Aufarbeitung, von Scham, Empathie. Die Gesellschaft ist insgeheim übereingekommen, dieses dunkle Kapitel schnellstmöglich zu vergessen. Damit treibt sie den untergründigen Prozess der Zersetzung von Zivilgesellschaft bis heute voran: Im Oktober 2020 hat die Stadt Zerbst etwa vieler Anlässe aus dem Jahr 1990 gedacht - dass am Vorabend der Deutschen Einheit fast 17 jungen Menschen einem rechtsradikalen Angriff zum Opfer fielen, der toleriert, bagatellisiert und später aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert wurde, blieb aber ausgespart.
Staatliches Versagen auf allen Ebenen
"Das ist das, wo ich heute noch verärgert, traurig oder sauer bin, dass die Stadt bis heute dieses Ereignis nicht bearbeitet hat. Das gehört einfach dazu, dass man über 30 Jahre später anerkennt, dass man in bestimmten Bereichen als Gesellschaft einfach nicht funktioniert hat", so Oliver, der mit 15 Opfer des rechtsradikalen Angriffs in der Zerbster Mühle wurde. "Es gab ein staatliches Versagen auf allen Ebenen. Und das ist auch der Schluss, den ich zu heute ziehen würde: Wir müssen darauf aufpassen, dass so etwas definitiv nicht wieder passiert. Die Fehler von damals anzuerkennen, das ist ein erster wichtiger Schritt dahin."