Strukturen des modernen Rechtsextremismus Expertin: Staat auf rechtem Auge blind
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05. August 2022, 11:00 Uhr
Die Strukturen für eine wirksame Bekämpfung des Rechtsterrorismus hätten längst aufgebaut sein müssen, so Carolin Görzig, Leiterin der Hallenser Forschungsgruppe "Wie Terroristen Lernen". Deutsche Ermittlungsbehörden seien auf dem rechten Auge zu lange blind gewesen. Deshalb würde rechtsextremistische Gewalt oft nicht als solche erkannt. Wie sich rechter Terror heute zeigt und wo die Behörden ansetzen müssten, erklärt Görzig am Beispiel des Anschlags in Halle.
Am 9. Oktober 2019 war er plötzlich ganz in ihrer Nähe. Der Terrorismus der "einsamen Wölfe", den die Forscher des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung aus Halle bislang fern des eigenen Landes untersuchten. Doch an diesem Mittwoch ist das Ziel des Attentäters keine zwei Kilometer von ihren Arbeitsplatz entfernt: Die Synagoge. Ausgewählt, um zu Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, die größtmögliche Zahl von Juden in Halle anzutreffen und zu erschießen. Denn die Juden, davon ist der Täter überzeugt, seien dabei, Europa zu unterwandern.
"Für mich war Terrorismus immer ein spannendes Thema, das man analysieren kann, um Zusammenhänge zu verstehen. Dass das jetzt so nahe gekommen ist, war ein Schock", erinnert sich Carolin Görzig, Leiterin der Hallenser Forschungsgruppe "Wie Terroristen Lernen". Seit 15 Jahren ist sie dem Terrorismus und seinen Mustern auf der Spur. Sie hat geforscht zur nordirischen IRA. Zur radikal-islamistischen Gamaa-Islamija in Ägypten. Nun ist der Terror direkt vor ihrer Tür angelangt.
Behörden haben Rechtsextremen Karenzzeit gegeben
Völlig unvorbereitet waren die Forscher freilich nicht. Schon länger hatten sie beobachtet, dass Rechtsextreme weltweit immer häufiger Muster islamistischen Terrors kopieren. Einer der ersten, der die Blaupause von al-Quaida auf seine, rechtsextreme Weise nutzt, ist 2011 Anders Behring Breivik in Norwegen. Auf ihn berufen sich rechte Täter immer wieder. In immer rascherer Folge: 2016 der Amoklauf von München. Zwei Jahre später, im Oktober 2018, eine Attacke auf die Synagoge in Pittsburgh. Ein halbes Jahr später: Christchurch in Neuseeland. Noch im gleichen Jahr: Halle. Zufall?
Ich denke, dass es eine neue Qualität annimmt, so dass man schon fast davon sprechen kann, dass den bislang bekannten vier Wellen des modernen Terrorismus nun ein fünfte Welle des Rechtsterrorismus folgt.
Görzig bezieht sich auf ein Modell des Politikwissenschaftlers und Terrorforschers David C. Rapoport, der seit den 1880er Jahren im globalen Maßstab vier sich abwechselnde Wellen in Folge unterscheidet. Eine anarchistische, gefolgt von der antikolonialen ab Anfang des 20. Jahrhunderts, beerbt von der sogenannten "Neuen Linken", die ab den 1960ern zunehmend aktiv wird. Zuletzt die religiöse Welle mit al-Qaida und anderen islamistischen Gruppierungen.
Getreu Rapoports Modell müsste der religiöse Terrorismus in den 2020er-Jahren langsam abflauen. Abgelöst durch eine neue Welle. Anzeichen dafür, dass dies eventuell bereits passiert, sieht Carolin Görzig in der zunehmenden Häufung rechtextremistischer Attentate. Mindestens in Deutschland kann man dabei kaum von einer überraschenden neuen Entwicklung sprechen:
Man muss auch sagen, dass das schon längst im Gange ist. Staatliche Behörden haben Rechtsextremen gewissermaßen eine Art Karenzzeit gegeben. Denken Sie an die NSU-Morde. Das hat sich alles schon länger angedeutet.
Neuer Typus rechtsradikaler Attentäter
In jüngster Zeit machte vermehrt eine griffige Formel von den "einsamen Wölfen" die Runde. Der Versuch, das Phänomen eines neuen Typus rechtsradikaler Attentäter zu beschreiben. Doch gar so neu ist er nicht, wie Dominik Rigoll, Historiker am Leibniz-Institut für Zeithistorische Forschung in Potsdam, betont:
Die berühmteste "Einsamer-Wolf"-Erzählung, sei ja wohl bis heute Adolf Hitlers "Mein Kampf". Von isolierten, "armen Teufeln" sei da permanent die Rede. Einsam und allein hielten sie Deutschland die Treue und kämpften heldenhaft gegen Juden, Emanzipation und Liberalismus gleichermaßen an. "Kein Wort von den massenhaften Verbindungen dieser Kämpfer zu Polizei und Militär. Dabei waren diese Leute ganz im Gegenteil krass vernetzt." Und nicht nur das: Insbesondere die Speerspitze dieser frühen, militanten völkischen Bewegung kam oft aus bestem Hause. Es war ein Terrorismus der Eliten.
Rechte Selbstinszinierung: Konzept des "einsamen Wolfs"
Also alles eine lange Geschichte der rechten Selbstinszenierung, die jetzt ihre zeitgemäße Fortsetzung findet? Tatsächlich hat das immer wieder von Medien aber auch der Polizei gezeichnete Bild des Amokläufers, der sein persönliches Scheitern mit einem Blutbad "krönt", wenig mit der Realität gemein.
Vielmehr wird hier bewusst ausgeblendet, dass das Konzept des sogenannten "einsamen Wolfs" seit den 1990er Jahren in der rechten Szene äußerst erfolgreich reanimiert wurde. Ausgehend von US-amerikanischen Neonazis wurde die Idee ausformuliert und popularisiert, dass ein Einzeltäter oder kleine Gruppen punktuell in Eigeninitiative, "ohne Führung", mit einer symbolträchtigen Aktion zum "Aufstand der Weißen" beitragen. Aktionen, durch die man die "Minderwertigen" und "Feinde der 'Volks- und Rassegemeinschaft'" am besten trifft. Das ideologische wie taktische Rüstzeug für die Tat liefert immer öfter eine digital vernetzte Community. Das "digitale Rudel".
"Propaganda der Tat"
Görzig ist bei ihren Untersuchungen aufgefallen, dass auch und gerade bei den jüngsten Anschlägen von Halle und Christchurch wieder vermehrt auf eines der ältesten Muster des Terrorismus zurück gegriffen wird: Die "Propaganda der Tat":
Das ist eine Strategie, wo man versucht, die Massen aufzuwecken. Man hat die Idee, die Bürger schlafen. Sie kriegen nicht mit, was wirklich läuft. Und durch so ein krasses Attentat weckt man die Leute auf. Und motiviert damit natürlich auch Nachahmer.
Die zur Schau gestellt Gewalt, der symbolische Akt, soll Signalwirkung entfalten. Zu diesem Zweck versuchen die Täter mittels Videobotschaften und Manifesten die anschließende Deutungshoheit zu behalten. Dass sich Medien dieser unfreiwilligen Inanspruchnahme zunehmend entziehen, die Verbreitung von Bildern und Botschaften drosseln oder ganz verweigern, sei richtig, findet Görzig. Schließlich ist eine der vielen Sub-Botschaften dieser Anschläge: "Seht her, das gewaltige Machtmonopol des Staates kann uns nicht aufhalten. Wen wir angreifen wollen, den treffen wir auch." Die erwünschte Wirkung dabei ist Einschüchterung, Angst.
Dem zukünftig wirkungsvoll zu begegnen, hieße aus Sicht des Teams in Halle: Die Ursachen bzw. den Weg zur Radikalisierung viel genauer in den Blick zu nehmen. Dabei haben die Forscher um Görzig das Ziel, Muster zu suchen und zu erkennen, wie Terroristen (voneinander) lernen. Die Frage, der das Team nachgeht ist: Wie funktioniert Radikalisierung? Und: An welcher Stelle könnten Terror-Schutz und -Prävention ansetzen? Ein Kern-Ansatz: Wer wirklich Staats- und damit Terrorschutz betreiben will, muss viel tiefer in die Ursachenforschung einsteigen und sich von alten Denk-Mustern verabschieden.
Denn: Noch ist kaum im Detail bekannt, wie die Spirale der Enthemmung funktioniert. Dabei deutet das wenige, was die Forscher in bisherigen Feldstudien entdeckten, auf klare Radikalisierungs- wie Rekrutierungsmuster hin. Und möglicherweise gleichen sich junge Islamisten und rechtsextreme Täter in diesem Punkt:
In Bezug auf islamistischen Terrorismus gibt es etwa eine Doktorandin in meiner Gruppe, die Familien von Kämpfern interviewt hat in Kirgistan. Sie hat dabei unter anderem festgestellt, dass das Thema Peergroup, also das persönliche Netzwerk, wen man so kennt, Bekannte, Verwandte, eine ganz entscheidende Rolle bei deren Radikalisierung gespielt hat.
Die Einzeltäter-Hypothese veraltet
Übertragen auf die hiesigen Verhältnisse rechtsextremistischen Terrors hieße das: Ermittler müssten viel früher und viel genauer hinschauen, in welchen Netzwerken und Zusammenhängen sich Täter bewegen und bewegt haben. Stattdessen werde genau das allzu oft ausgeblendet.
Symptomatisch in dieser Hinsicht: der Umgang der Ermittlungsbehörden mit dem Attentat von München 2016. Alle Indizien hinsichtlich eines rechtsradikal motivierten Täters und Anschlags bleiben drei Jahre lang unberücksichtigt. Die Tat, so der Befund der Ermittler, sei ganz sicher ein "Racheakt". Erst vor wenigen Monaten, dann die Kehrtwende: Die "rechtsradikale und rassistische Gesinnung" des Täters wurde einer Neubewertung unterzogen. Der Anschlag gilt nun doch als "politisch motivierte" Gewalttat.
Wie kommt es, dass sich Ermittlungsbehörden in Deutschland so schwer damit tun, rechtsextremistische Gewalt als genau solche klar zu erfassen? Und was hat das für Auswirkungen auf den Terrorismus selbst?
Staat und Terrorismus: Ein Wechselspiel
Erinnern wir uns: Im Juni 2011 erklärte der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich: "Eine akute Gefahr rechtsextremistischer Terroranschläge in Deutschland bestehe nicht." Fünf Monate später kommt die bis dato längste rechtsextremistische Terrorserie der Bundesrepublik ans Licht. Der NSU konnte von 2000 bis 2007 unerkannt morden und dabei auf ein heute geschätztes Umfeld von 100 bis 200 Personen vertrauen.
Ein gigantisches Versagen der deutschen Sicherheitsbehörden – sicher. Nur genau dieses Versagen haben die Täter offensichtlich einkalkuliert. Carolin Görzig spricht in diesem Kontext vom "Mechanismus der doppelten Bestrafung" als klarer Strategie. Der NSU mordete nicht nur. Die Täter ahnten oder kalkulierten ein, dass die Überlebenden und Opfer sich einer inadäquaten polizeilichen Ermittlung ausgesetzt sehen. Und genau so kam es: Das Motiv eines möglichen rechtsextremen Anschlags wurde ganz zuletzt in Betracht gezogen. Andere Motive, angefangen von mafiösen Strukturen über inner-migrantische Konflikte (Stichwort "Dönermord"-Kampagne) erschienen als Ermittlungsansatz über Jahre hinweg viel plausibler. Die Opfer wurden vom Staat noch einmal zu Opfern gemacht. Den Überlebenden und Angehörigen konsequent nicht geglaubt.
376 Morde von Rechts: Je vier Monate Haft
"Nationalistische Arbeitsteilung", sagt Dominik Rigoll, "benennen Historiker dieses Phänomen mit Blick auf den deutschen Rechtsterrorismus im 20. Jahrhundert. Ein bis heute virulentes, leider in der Breite aber noch immer kaum bewusstes Erbe." Seine Spuren reichen zurück bis in die Anfänge der Weimarer Republik, als politische Morde an der Tagesordnung waren. "Integraler Bestandteil von rechter Gewalt war damals der Freispruch der Täter", sagt Rigoll und verweist unter anderem auf die ganz frühe Aufarbeitung des Themas durch den Publizisten und mathematischen Statistiker Emil Julius Gumbel, der genau diesen Zusammenhang im Jahr 1922 bereits mit seinem Buch "Vier Jahre politischer Mord" herausgearbeitet hat.
376 politische Morde von Rechts zählte Gumbel von 1918 bis 1922. Im Schnitt saßen die Täter dafür ganze vier Monate pro Mord ab. Wenn überhaupt. Die Weimarer Justiz, im Verbund mit nationalistisch und republikfeindlich eingestellten Polizeibeamten, tat so gut wie alles, um die Täter zu schützen. Die im gleichen Zeitraum begangenen 22 Mordanschläge von Linken dagegen wurden mit drastischen Strafen und zehn Hinrichtungen geahndet. Gumbels Beweise führen zu einem republikweiten Skandal, der in Untersuchungsausschüssen und teilweiser Wiederaufnahme von Verfahren mündete. Mit wenig Erfolg. Denn die den Terror stützende und schützende Struktur im Machtapparat des Staates blieb weitgehend intakt und damit die "nationalistische Arbeitsteilung".