Vier Kinder stehen auf einer Straße und winken in die Kamera.
Vier Kinder aus Golzow stehen auf einer Straße und winken in die Kamera. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Geschichte einer Langzeit-Doku Die Kinder von Golzow

01. September 2017, 16:21 Uhr

Es ist das Jahr 1961. Gerade hatte man in Berlin begonnen, die Mauer zu bauen. Da beginnt auch - nur kurze Zeit später und gar nicht weit weg - bei der DEFA ein ganz anderes Projekt: Eine Langzeitdokumentation, die Menschen von klein auf in ihrem Leben mit der Kamera begleitet und ihr Leben im Sozialismus zeigt. Die Idee dafür stammt von Karl Gass, einem Filmemacher der DEFA, der das Genre "Dokfilm" seit Anfang der 1950er-Jahre maßgeblich prägte. Bei der Suche nach einem passenden Drehort für die Dokumentation fiel die Wahl auf eine Landschule in Golzow: Ein kleiner Ort im Oderbruch in Brandenburg, der 1960 eine neue Schule bekommen hatte, in der die Schüler wie in der Stadt bis zur 10. Klasse zusammen bleiben würden - optimale Bedingungen also für das Langzeit-Filmprojekt der DEFA.

So begann Filmemacher Winfried Junge, der zuvor als Dramaturgie- und Regieassistent von Karl Gass gearbeitet hatte, das Filmprojekt "Die Kinder von Golzow", wenige Tage nach dem Bau der Mauer. Zu diesem Zeitpunkt waren sich Ideengeber und Filmemacher wohl kaum darüber bewusst, dass sie gerade Film-Geschichte schrieben. Drehte Junge anfangs quasi als Zaungast, mit Kameras draußen vor den Schulfenstern, filmte er später direkt im Klassenzimmer. Junge unddem Kameramann Hans-Eberhard Leupold war schon damals klar:

Um einen solchen Film miteinander zu machen, mussten wir Freunde werden. Und so ist es bis heute geblieben.

Winfried Junge Homepage "Wir Kinder von Golzow"

Längste Dokumentation der Filmgeschichte

Mit den ersten Dreharbeiten für "Die Kinder von Golzow" startet die älteste Langzeit-Dokumentation der Filmgeschichte. Grundschüler der Jahrgänge 1953 bis 1955 werden porträtiert und fortan mit der Kamera in ihrem Leben begleitet. Der Filmemacher Winfried Junge, damals 26 Jahre alt, dreht den ersten Schultag der "Kinder von Golzow" genauso wie ihr Älter-Werden. Diese 18 ABC-Schützen werden als Kinder gezeigt und als Erwachsene, wenn sie selbst längst Eltern sind. Wenn sie sich heute mit ihren Filmen dem Publikum vorstellen, sind sie Großeltern und Rentner.

Die Geschichte einer Generation: 18 Leben im Fokus der Kamera

Die Dokumentation schafft etwas, das nur ganz wenigen Filmprojekten gelingt: Sie erzählt die Geschichte einer Generation. Fast 50 Jahre lang - von 1961 bis 2007 - begleiten die Filmemacher Winfried und Barbara Junge die "Kinder von Golzow". Man kann sagen: fast ein ganzes Leben lang. Bei manchen sogar bis zum Tod. Ganz individuell werden die Lebensgeschichten der Protagonisten beleuchtet. Es sind keine Stars, keine Berühmtheiten, sondern man so sagt "ganz normale" Menschen. Und man schaut zu, wie sie ihr "ganz normales" Leben in der DDR leben. Doch dies ist nur eine von mehreren spannenden Ebenen des Filmprojekts.

Die Geschichte eines Landes: Wie geht es der DDR im Jahr 2000?

Die Filmemacher porträtieren nicht nur die einzelnen Leben der 18 Protagonisten. Sie ermöglichen Zuschauern einen tiefen Einblick in den Staat: zum Leben in der DDR, zur Geschichte dieses Landes und der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Kein Beteiligter des Filmteams hätte ahnen können, wie sich die Langzeitdokumentation entwickeln würde. Als die DEFA das Projekt anfängt, gibt es ein großes Ziel: Man will zeigen, wie die DDR bis zum Jahr 2000 den Sozialismus aufbaut. Doch dazu kommt es nicht. Die Dokumentation zeigt stattdessen anschaulich die Umbrüche eines Landes und letztlich das Umdenken bei Vielen. Die Zuschauer erleben mit, was mit den Menschen passiert, als es 1989 zur friedlichen Revolution kommt und die Dokumentation weiter gedreht wird, weil sie eine Chronik ist.

Eine DDR-"Truman-Show" mit 20 Filmen und 45 Stunden Material

Gudrun, arbeitet 1975 als Köchin
Gudrun (links) arbeitet 1975 als Köchin Bildrechte: mdr/rbb/PROGRESS Film-Verleih/Winfried Junge

Die Mammut-Dokumentation ist weltberühmt und wurde schon 1985 ins Guiness-Buch der Rekorde als das Projekt mit der längsten Produktionsgeschichte eingetragen. Die Filme wurden auf vielen Festivals gezeigt, unter anderem elf Mal auf der Berlinale. Zwischen 1961 und 2007 sind 19 Filme mit einer Laufzeit von 42,5 Stunden entstanden, zusammengeschnitten aus mehr als 400 Kilometer 35mm-Film-Material. Die 18 "Kinder von Golzow" über einen so viele Jahre filmisch zu begleiten, mutet an wie eine kleine DDR-eigene "Truman-Show" und erinnert wie der gleichnamige US-Film aus dem Jahr 1998 an ein Leben unter einer Glaskuppel. Doch nie zuvor hat es eine Dokumentation geschafft, Menschen mit der Kamera über einen so langen Zeitraum so nahe zu kommen. Mit Mut zur Lücke, zu Zeitsprüngen und Brüchen, die es in jedem Leben nun einmal gibt - und Aufnahmen von Menschen, die nicht das offiziell gewünschte Bild in der sozialistischen Gesellschaft bedienten. Dass diese Kluft sichtbar und gezeigt wurde, macht den Film beim Publikum so erfolgreich: Die Zuschauer können die Lebensgeschichten der Protagonisten nicht nur anschauen, sondern gut nachempfinden.

Ein kleiner Ort ganz groß

Nur wenig mehr als 800 Menschen leben heute in Golzow in Brandenburg. Doch als Schauplatz der "Kinder von Golzow" ist es weltberühmt geworden. Die Doku ist der Stolz des Dorfes und damit schmückt der Ort sich auch gerne. Seit dem 21. Januar 2014 führt die Gemeinde offiziell, auch auf den Ortseingangsschildern, die Zusatzbezeichnung "Ort der ‚Kinder von Golzow‘". Die seit 2008 nur noch als Grundschule geführte Schule benennt sich im Juli 2008 in "Grundschule Kinder von Golzow" um. Von wildem Wein umrankt sieht sie heute nicht mehr grau aus wie 1961, als sie das erste Mal für die Doku gefilmt wurde.

Auch ein Filmmuseum gibt es im Ort – mit Gerätschaften aus dem Berliner Schneideraum der Junges, mit Fototafeln, Plakaten, alten Orwo-Filmrollen und DVDs für Besucher, die wegen der "Kinder von Golzow" ins Dorf kommen und sich nach den Schicksalen einzelner "Filmkinder" erkundigen. Auf dem Dorfplatz steht eine Granitskulptur, in die Golzows wichtigste Daten eingraviert sind:

1308 erstmals erwähnt als Gholsow. 1740: Dorf brennt ab. 1952: Gründung der LPG-Einheit. 1961: Beginn der Dreharbeiten ‚Kinder von Golzow‘.

Die Dorfbewohner, nicht nur die 18 Porträtierten, haben akzeptiert, dass das Filmprojekt zu ihrem Leben im Ort dazugehört.

Die unendliche Geschichte ist zu Ende

Der letzte von vier Teilen des 19. Films über die "Kinder von Golzow" kam 2008 mit dem Titel "Und wenn sie nicht gestorben sind - dann leben sie noch heute" in die deutschen Kinos. Autor Winfried Junge ist inzwischen 85 Jahre alt. Vieles hat sich seit dem ersten Porträt über die kleinen Grundschüler verändert. Drei der 18 Protagonisten sind schon gestorben - Brigitte, Jürgen und Jochen. Manche waren immer mal arbeitslos.  Nur noch zwei der damaligen ABC-Schützen leben im Ort. Einige haben den Umbruch 1989 und die Wiedervereinigung nur schwer verkraftet, einige mussten umorientieren oder bezeichnen sich selbst als "Wende-Verlierer". Barbara und Winfried Jungen haben erkannt, dass Filme - entgegen dem ursprünglichen Ziel der DEFA - eher festgehalten haben, wie der Sozialismus zusammenbricht. Die 1990er-Jahre zeigen für die meisten Zuschauer nicht nur schöne, aber vielleicht die wichtigsten Szenen in diesem einzigartigen Zeitdokument.


Über dieses Thema berichtete der MDR auch im: TV | 03.09.2017 | 22:45 Uhr