Filme am Puls der Zeit – DOK Leipzig wird 60
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30. Oktober 2017, 09:03 Uhr
"Tribüne der kämpferischen Dokumentaristen" sollte sie sein, atemraubender Seismograf der weltweiten politischen Eruptionen und natürlich die ganz große Bühne, auf der sich die DDR-Kulturpolitik glanzvoll inszenieren kann. Drei Jahrzehnte lang, seit der Gründung 1955, lebte die "Internationale Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche" in und von diesem einzigartigen Spagat.
Etwa 35.000 Besucher strömten Jahr für Jahr ins Leipziger Kino "Capitol", das mit 1.000 Plätzen größte Kino der Messestadt – denn die Dokfilmwoche, wie sie inoffiziell hieß, war schließlich bis 1989 das "Fenster zur Welt". Oder wie es eine Besucherin 1990 ausdrückte: "Es war einfach mein Lebenselixier, diese eine Woche im Herbst im Kino zu sein. Ich habe mir dort Kraft geholt, die ich im Land nirgendwo sonst bekommen konnte."
Klassentreffen der Avantgarde - Die "goldenen 60er Jahre"
Weltoffenheit, Toleranz, Aufbruchsstimmung – ausgerechnet diese Attribute sind es, die die ersten Leipziger Festivaljahre für viele Zeitzeugen am treffendsten beschreiben. Inmitten des Kalten Krieges, kurz nach dem Mauerbau, finden sich alljährlich im November plötzlich die Besten des Genres ein, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen – über Kontinente und Systemgrenzen hinweg. Der Brasilianer Alberto Cavalcanti ebenso wie der Amerikaner Richard Leacock oder der Pionier des Dokumentarfilms, der Holländer Joris Ivens. Selbst seit 50 Jahren ein unermüdlicher Wanderer zwischen den Welten und getrieben von politischem Engagement ebenso wie von der Suche nach künstlerischer Meisterschaft, versteht es Ivens bei den Jungen Widerspruchsgeist, Rebellion und Leidenschaft zu wecken. Zusammen mit Chris Marker, dem französischen Wirbelwind des "Cinema Verite" (Kino der Wahrheit), wird er in Leipzig "Spiritus rector" einer ganzen Dokfilmergeneration. Bereits 1962 zeigt sie Proben ihres Könnens. Und mit Jürgen Böttcher ("Ofenbauer") und Winfried Junge ("Nach einem Jahr") nehmen gleich zwei der hoffnungsvollsten DEFA-Nachwuchstalente die allerersten "Silbernen Tauben" mit nach Haus.
"Der gewöhnliche Faschismus" - eine Sternstunde des Festivals
Stille, 1.000 Zuschauer im "Capitol" halten die Luft an. Dann bricht es aus ihnen heraus. 15 Minuten lang stehende Ovationen. Was ist passiert in diesem November 1965? – Michail Romm, angesehener Spielfilmregisseur aus Moskau, hat ein Experiment gewagt, das er selbst so beschreibt: "In diesem Film wollte ich mich mit dem Zuschauer unterhalten über diese parasitäre Erscheinungsform, über das Schicksal der Menschheit im zwanzigsten Jahrhundert. Der Film unterscheidet sich deshalb stark von allem, was bisher dazu entstanden ist."
Sein Film "Der gewöhnliche Faschismus" ist eine atemberaubende Tour de Force durch NS-Propagandamaterial. Voller Einsichten, Emotionen, Abgründen. Reich an Komik ebenso wie Schmerz und Zorn. Was Dokumentarfilm kann, wenn er seinen Mitteln vertraut und vordergründige politische Lektionen hinten anstellt: Mit diesem einen Film, einem der wichtigsten sowjetischen Filme dieser Dekade, hat Michail Romm es gezeigt und die Tür zu neuen Ufern weit aufgestoßen. Und dabei selbst von dieser Uraufführung in Leipzig direkt profitiert. Denn daheim in Moskau hatten sich Zweifel gemehrt, ob der Film, der gefährliche Analogien zur Ära des Stalinismus aufkommen lässt, überhaupt so zugelassen werden kann. Nach Leipzig, nach der umjubelten Uraufführung und einem eigens für den Film geschaffenen "Sonderpreis der Jury", ist der Weg frei.
Feindliche Übernahme
"Die Leipziger Filmwoche ist kein Festival wie viele andere. Hier wird praktische Politik gemacht." – Als die ARD sich 1971 entschließt, wieder einmal von der "wichtigsten Kulturveranstaltung der DDR" zu berichten, fallen ein paar gewichtige Änderungen ins Auge. Vorsitzender der Jury ist nun kein Dokumentarfilmer mehr (wie einst Karl Gass, der "Vater des DDR-Dokfilms"), sondern ein Fernseh-Chefkommentator: Karl Eduard von Schnitzler. Nicht genug: Die neue Jury verteilt Preise im Dutzend. Spötter sprechen von einer Leipziger "Taubeninflation". Und die Formate des Fernsehens ziehen auf der großen Leinwand ein und damit auch die offizielle Politik. "Die Filme hier werden nicht zuerst nach ästhetischen Kategorien bemessen, sondern nach ihrem politischen Informationsgehalt. Ihrer politischen Brauchbarkeit. Leipzig will kein pluralistisches Festival wie Oberhausen sein, wo unterschiedlichste Tendenzen und Meinungen vorgeführt werden. Leipzig ist begrenzt durch die von der Politik vorgezeichneten Zielsetzung." ("Titel, Thesen, Temperamente“, ARD 1971)
Die Dokfilmwoche hat plötzlich Schlagseite. Vom familiären, inspirierenden Treff der Filmemacher ist sie abgedriftet zur Protokollveranstaltung. Jedes Jahr zum Auftakt: ein über die Maßen aufwändiger Empfang. Mittendrin: Petitionen, Appelle, Politprogramm. Mitunter noch mit durchaus glanzvollem Rotlicht. 1971 ein erster umjubelter Auftritt des sozialistischen Cowboys Dean Reed, 1974 dann kommt die amerikanische Schauspielerin Jane Fonda nach Leipzig. Doch allzu oft wird die Luft dünn im Saal.
Nur wer genau hinschaut, Programme an den "Rändern" besucht, zu mitternächtlicher Stunde oder früh am Morgen, findet noch, wofür das Festival einst Anerkennung genoss: atemberaubende Erkundungen der Wirklichkeit. Doch selbst als Winfried Junges Golzow-Epos "Lebensläufe" 1981 mit einer "Goldenen Taube ehrenhalber" ausgezeichnet wird, trügt die Hoffnung, dass es bald mehr solcher vertiefenden Einblicke in die pralle, konfliktreiche Welt sozialistischer Helden gibt. Erst 1987 – zum 30. Jubiläum – kommt die ganz geballte Wucht der aufgestauten Auseinandersetzung in zahllosen Perestroika-Filmen zum Vorschein. In den Kinosälen und auf Leipziger Festivalfluren findet eine erste Generalprobe statt - des Aufbruchs 1989.
"Kleine, weiße Friedenstaube" oder: "Sag beim Abschied leise servus"
Einen Sturm der Entrüstung löst sie aus, die Entscheidung des Festivaldirektors Claas Danielsen, ab 2004 auf das altbekannte Picasso-Logo zu verzichten. Die jahrzehntelange Losung des Festivals "Filme der Welt – Für den Frieden der Welt" war bereits 1990 über Bord gegangen. "Also wir haben die Friedenstaube ja nicht gestrichen, sondern wir haben sie etwas vom Sockel runtergeholt. Die Taube ist ja Symbol des Festivals geblieben. Das war nur immer ein sehr hehrer Anspruch und ich fand, dass dieses Festival so ein bißchen mehr ins Leben eintauchen muss", begründete Danielsen seine Entscheidung.
Es wird nicht bei dieser einen richtungweisenden Entscheidung bleiben. Denn nach fast 50 Jahren ächzt das Festival gewaltig unter seiner Geschichte. Zwar ist die Dokfilmwoche nur mit leichten Blessuren und trotz eines 1991 katastrophalen Besucherrückgangs über die Wendezeit gekommen. Aber um die Jahrtausendwende scheint an vielen Stellen die Luft raus. "Viele internationale Kollegen sagten: Leipzig, ja toll, da war ich 1983 und das werde ich nie vergessen, wie wir damals im 'Hotel Astoria' saßen… Tolle Geschichten. Und da hab ich gesagt: Na, und kommt ihr jetzt wieder? - Nee! Es war nicht wichtig, es war nicht so, dass die Leute kommen mussten", erinnert sich Claas Danielsen an jene schwierigen Jahre.
Damit sie alle wiederkommen, die Filmemacher, die Produzenten und Verleiher und vor allem ihre besten Produktionen wieder hierher zur Premiere schicken, musste sich Festivaldirektor Claas Danielsen eine Menge einfallen lassen. Neue Wettbewerbe (einen exklusiv für den Deutschen Film), neue Preise, mehr Angebote für die Branche und auch fürs Publikum eine größere, differenziertere Programmauswahl – mit deutlicher Stärkung des Animationsfilms, der lange nur am Rand mitlief.
Nur in einem sollte das Leipziger Erbe immer klar erkennbar bleiben: an dem Anspruch, Seismograf zu sein, politische Erosionen und Eruptionen auf der Welt adäquat abzubilden. Noch einmal Claas Danielsen: "Das ist ganz wichtig, weil der Dokfilm auch eine Rolle übernimmt, da er es uns erlaubt, hinter den Mainstream-Medien mal genauer hinzusehen, was eigentlich so die politischen Entscheidungen und die Großwetterlagen im Leben der Einzelnen verändert haben."
Dok Leipzig Next
Politisch und aktuell zu sein – auch unter Intendantin Leena Pasanen soll sich an diesem Anspruch nichts ändern. Im Gegenteil. 2017, zum Jubiläum, finden sich zahllose Filme, die auf gewaltige gesellschaftlichen Umbauprozesse verweisen oder diese in Erinnerung rufen. Einmal mehr sind es gerade Filme aus den osteuropäischen, postsozialistischen Ländern, die diese Veränderungen auf einzigartig dichte und künstlerische Weise spiegeln. Filme wie der internationale Wettbewerbsbeitrag "Love is potatoes" der russisch-niederländischen Filmemacherin Aljona van der Horst nehmen darüber hinaus auch Wirklichkeiten in den Blick, die beim Leipziger Festival bis 1989 tabu waren: die Ära des Stalinismus beispielsweise. Doch nicht das Thema allein oder die sehr persönliche Annäherung daran heben diesen Film aus über 2.000 eingereichten Dokfilmen heraus, "Love is potatoes" steht auch stellvertretend für das, was Dokfilm im 21. Jahrhundert sein und leisten kann: "Für mich ist dieser Film nicht zuletzt auch beeindruckend durch seine verwendeten Animationen. Es ist eine ganz einfache Art des Erzählens von Geschichten, die uns hilft, das Geschehene zu verstehen", sagt Festivaldirektori Leena Pasanen. "Es ist wundervoll zu sehen, wie sich das Genre entwickelt hat. Und das ist mit ein Grund, warum Dokumentarfilm heute wieder so stark ist. Es ist eben eine Kunstform, die keine Grenzen kennt."
Über dieses Thema berichtete der MDR im Radio auch in "Kultur am Morgen" 27.10.2017 | 07:10 Uhr