Zum 85. Geburtstag Winfried Junge: Zeitzeuge, Chronist und Dokumentarfilmer
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30. Juli 2020, 17:18 Uhr
Der bedeutendste Filmchronist der DDR, Winfried Junge, hat mit seiner Langzeitbeobachtung über die "Kinder von Golzow" internationale Filmgeschichte geschrieben. Jetzt feiert Winfried Junge seinen 85. Geburtstag.
1961 beginnt der Regisseur Winfried Junge seine Dreharbeiten in dem kleinen Dorf Golzow im Oderbruch. Er filmt Kinder einer Landschulklasse bei ihrer Einschulung und begleitet fortan für fast fünf Jahrzehnte deren Alltag und Leben in der DDR und späterhin im wiedervereinten Deutschland. Insgesamt kreiert Winfried Junge 19 Filme über die "Kinder von Golzow", seit Ende der 1970er Jahre in enger künstlerischer Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau Barbara.
Kriegskind in Deutschland und Polen
Winfried Junge wird am 19. Juli 1935 in Berlin als erstes und einziges Kind von Werner und Margarete Junge geboren. Nachhaltig geprägt hat ihn seine Kindheit im Zweiten Weltkrieg. 1939 wird Junges Vater eingezogen. Als Unterleutnant wird er in der Verwaltung eingesetzt und ist in Łódź, damals Litzmannstadt, stationiert. Er darf in dieser Position seine Familie mitnehmen – so kommt es, dass Winfried Junge abwechselnd ein Halbjahr in Dahlwitz-Hoppegarten und in Łódź zur Schule geht. Er hat intensive Erinnerungen an diese Zeit:
Züge von zerlumpten Kindern durch Deutschland, durch Polen, das nahe Ghetto in Łódź, die Straßenbahn, die durchs Ghetto fuhr, man ahnte durchaus, was sich dahinter abspielte.
Im Februar 1945 sieht der Neunjährige seinen Vater während eines Urlaubs in Berlin zum letzten Mal.
Die Nachkriegszeit verbringt Winfried Junge in Berlin-Friedrichshagen. Seine Mutter verdient den Lebensunterhalt für beide und er übernimmt viele Pflichten im Alltag: mit Lebensmittelkarten einkaufen, überall Schlange stehen, um Essen zu ergattern, sich um die Wohnung kümmern. Und über allem noch viele Jahre die Hoffnung, dass der Vater zurückkehren wird. Aber er bleibt vermisst und wird 1950 für tot erklärt.
Filmstudent an der ersten Deutschen Filmhochschule in Babelsberg
Umwege führen Winfried Junge zum Dokumentarfilm. Nach seinem Abitur 1953 immatrikuliert er sich zunächst für Germanistik an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Der Zufall spielt ihm zu und er erfährt von der bevorstehenden Gründung einer Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. 1954, kurz nach dem Tod seiner Mutter, die an Krebs verstarb, bewirbt sich Junge dort. Es ist die erste und bis 1966 auch die einzige Hochschule für künstlerische, administrative und wissenschaftliche Filmberufe in Deutschland. Winfried Junge wird im Bereich "Dramaturgie" angenommen. An der neu entstandenen Filmhochschule gibt es noch keine richtige Struktur oder Routinen, die Studenten werden dazu aufgerufen, mitzugestalten.
Ich weiß noch, wie wir zusammengerufen worden zur ersten Sitzung im Babelsberger Schloss. Da hieß es dann, nun bringt mal eure Stühle aus den Zimmern mit, dass man erstmal sitzen kann. Und da wurde ziemlich ungeniert gesagt, also wir müssen gemeinsam was aus der Sache machen. Was würde euch denn interessieren? Was soll unterrichtet werden?
Eine Hochschule, die sich erst finden muss, bietet auch Freiräume, sich zu entfalten und auszuprobieren. Es sind wichtige Lehrjahre für den jungen Dramaturgen, dem mehr und mehr klar wird, dass es ihn nicht zum Spielfilm, sondern zum Dokumentarfilm zieht.
Wegbereiter und Ziehvater von Winfried Junge: Karl Gass
Nach seinem Studium wird Winfried Junge Regieassistent bei Karl Gass, einem der wichtigsten Wegbereiter des DEFA-Dokumentarfilms. Sie realisieren zusammen fünf Filme, danach verhilft Gass Junge zur ersten eigenen Regiearbeit. "Wenn ich erst zur Schule geh", der erste Golzow-Film, entsteht. Es ist die Idee von Karl Gass, nicht nur die Einschulung der Golzower zu drehen, sondern auch in den nächsten Jahren dranzubleiben und zu schauen, wie die Kinder im Sozialismus heranwachsen und ihn späterhin mitgestalten würden. Winfried Junge nimmt diesen Auftrag an und wächst in seine Arbeit als "Chronist einer Generation" hinein. Als ehemaliges Kriegskind, das die Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren und den Vater im Krieg verloren hatte, glaubt er an die Idee des Sozialismus und setzt sich als Filmemacher für ihn ein, indem er den Alltag der Menschen in der DDR, ihr Leben und Lernen, dokumentiert. Mit allen Höhen und Tiefen, Schwächen und Stärken, die ein Lebenslauf so mit sich bringen kann.
Neben dem preisgekrönten Lebenswerk über die Golzower dreht er, teilweise zusammen mit seiner Ehefrau, 35 weitere Dokumentarfilme für die DEFA und berichtet schwerpunktmäßig über das Leben in der DDR aber auch über Menschen aus anderen Ländern – es entstehen Dokumentarfilme über Syrien, Libyen, Somalia und Großbritannien.
Chronist der DDR – auch ihres Untergangs
Dass Winfried Junge auch nach dem Zusammenbruch der DDR an seinen Golzower Protagonisten festhält und sie in Zeiten des Umbruchs und als Bundesbürger porträtiert, macht seine Chronik umso wertvoller. Es ist ihm 1989 nicht leichtgefallen, weiterzudrehen, er fühlt sich blockiert und sieht auch viele seiner Hoffnungen, die er mit der DDR verband, zerstört. Heute ist er froh, dass er und seine Frau Barbara durchgehalten haben und für den Fortgang der Chronik kämpften. Sie haben der Nachwelt einen umfassenden Einblick in gelebte Geschichte der DDR und deren Ende hinterlassen. Bis heute sind sie mit den Filmen im In- und Ausland unterwegs. Seit 1996 sind sie Mitglieder der Akademie der Künste. 2020 sagte Winfried Junge rückblickend: "Das Golzow-Projekt zu realisieren und über die Zeiten zu bringen, bedurfte keiner Kunst. Eher war es ein Kunststück, bei dem das Geld der Zensor war. Es in 46 Jahren vollbracht und bis heute nahezu 60 Jahre am Leben gehalten zu haben, macht uns im achten bzw. neunten Lebensjahrzehnt froh."
Dieses Thema im Programm: Die Kinder von Golzow | 03. November 2016 | 00:20 Uhr