Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 21. Dezember 2022 Skandal im Sparbezirk
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21. Dezember 2022, 09:00 Uhr
Der Fall Schlesinger ist die größte Korruptionsaffäre im öffentlich-rechtlichen Rundfunk seit seiner Gründung. Gelingt jetzt eine große Rundfunkreform? Eine Kolumne von Ralf Heimann.
Schließlich kam noch die Sache mit den Ruhegeldern dazu, und das brachte einen Verdacht, der sich in den Monaten zuvor immer weiter verfestigt hatte, noch einmal in besonderer Deutlichkeit zum Ausdruck: Anscheinend sind jegliche Maßstäbe verloren gegangen.
Es war etwas öffentlich geworden, über das in der Führungsetage beim Rundfunk Berlin-Brandenburg, dem RBB, vorher möglicherweise nicht einmal bekannt war, dass es besser nicht öffentlich werden sollte.
Ruhegelder haben eigentlich nichts Verwerfliches. Sie sind eine zusätzliche Sozialleistung zur Absicherung. Doch in der Chefetage des Rundfunks Berlin-Brandenburg hatte man diese Regelung anscheinend pervertiert.
Eine frühere Programmdirektorin etwa erhält Monat für Monat 8.200 Euro vom RBB. Dabei war sie vor fünf Jahren auf eigenen Wunsch gegangen. So hieß es damals jedenfalls. Kurz vor ihrem Abgang hatte Patricia Schlesinger den Job als Intendantin bekommen, auch die Programmdirektorin war als Kandidatin gehandelt worden. Vier Monate später ging sie.
Heute ist die Frau, die bei ihrem Abschied erst 53 Jahre alt war, Professorin für Fernseh-Journalismus. Sie verdient ihr Geld in einem anderen gut bezahlten Beruf, bräuchte also eigentlich keine Absicherung, bekommt aber weiterhin monatlich so viel Geld zusätzlich, wie Menschen in einem durchschnittlichen Vollzeitjob nicht mal in zwei Monaten verdienen. Alles aus Rundfunkbeiträgen. Das ist schwer zu vermitteln.
Stimmt was nicht, lohnt ein genauer Blick
Der Fall reihte sich ein in eine lange Liste aus Verfehlungen, Missständen und unsauberen Praktiken, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 öffentlich geworden waren. Im Juni hatte das Magazin "Business Insider" über einen Beratervertrag zwischen der Messe Berlin und Patricia Schlesingers Mann, dem früheren Spiegel-Reporter Gerhard Spörl, berichtet. Der Vertrag warf einige Fragen auf. Wolf-Dieter Wolf, der Mann, der Gerhard Spörl als Berater der Messe engagiert hatte, war gleichzeitig RBB-Verwaltungsratschef, also Vorsitzender des Gremiums, das Patricia Schlesinger kontrollieren sollte. Das klang ungewöhnlich, aber an dieser Stelle hätte es noch mehrere mögliche andere Erklärungen gegeben. Auf einen Moloch deutete all das zunächst nicht hin.
Doch wenn an einer Stelle Unstimmigkeiten sichtbar werden, lohnt meist ein etwas genauerer Blick. Und so war es auch diesmal.
Es sah so aus, als wenn Schlesinger geholfen hätte, Beraterverträge an Immobilien-Experten zu vermitteln, mit denen auch Wolf Geschäftsbeziehungen unterhielt. Ihr eigenes Gehalt war kurz vorher um 16 Prozent auf 303.000 Euro angehoben worden – in einer Zeit, in der die Führung im Haus vermittelte: Es muss gespart werden. Ein in anderen Sendern so nicht bekanntes Bonus-System für Führungskräfte, von dem man sich einredete, es sei gar kein Bonus-System, wurde öffentlich.
Patricia Schlesinger hatte zudem mehrfach Gäste auf Kosten des Senders zu sich nach Hause eingeladen, unter anderem die Berliner Polizeipräsidentin. Die sagte später, es seien rein private Treffen gewesen. Auch ein zu besonderen Konditionen gemieteter Dienstwagen mit Massagesitzen erweckte den Eindruck von unnötigem Luxus, den man sich einfach gegönnt hatte – wie auch eine Dienstreise nach London, an der auch auf den zweiten Blick wenig Dienstliches zu erkennen war. Dazu war die Chefetage für 1,4 Millionen Euro renoviert worden. Auch hier war die Frage: War das denn wirklich nötig?
Patricia Schlesinger gab der Wochenzeitung "Die Zeit" ein langes Interview, erkannte bei sich selbst aber keine größeren Verfehlungen, außer dass sie die Wut der Menschen unterschätzt habe. So stand es in der Überschrift.
Ein Investigativteam recherchierte im eigenen Haus, auch in anderen Sendern schaute man jetzt etwas genauer hin. Im NDR-Landesfunkhaus Kiel fanden sich Hinweise darauf, dass Verantwortliche Beiträge unterdrückt haben sollen, weil sie nicht zur Überzeugung der Führung passte. Die Rede war von "politischen Filtern".
Im Landesfunkhaus Hamburg geriet die Leiterin Sabine Rossbach unter Verdacht, ihrer Tochter, der Inhaberin einer PR-Agentur, geholfen zu haben, PR-Beiträge im Programm unterzubringen. Auch Rossbachs Mann hatte einen Beratervertrag, bei dem sich die Frage stellte: Hatte er den vielleicht über seine Frau bekommen?
Der Sender verneinte. Es sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Sabine Rossbach habe mit dem Beratervertrag nichts zu tun. Eine interne Untersuchung kam später zu dem Ergebnis, dass das Betriebsklima im Sender ziemlich katastrophal sei, aber der Verdacht der Vetternwirtschaft falsch – wobei auch hier offene Fragen blieben, wie Jan Böhmermann später im "ZDF Magazin Royale" herausarbeitete.
"Eine Hand wäscht die andere Pfote"
Konkret ging es um einen zweifelhaften Fernsehbeitrag über die Kontaktaufnahme zu toten Haustieren, der von der Tochter der NDR-Kulturchefin produziert worden war, die Sabine Rossbach wiederum mit einem der laut Böhmermann seltenen Festverträge ausgestattet hatte. Böhmermann beschrieb das alles mit dem Satz: "Eine Hand wäscht die andere Pfote." Es schien zu dem Eindruck zu passen, dass es bei den öffentlich-rechtlichen Sendern drunter und drüber geht.
In der RBB-Berichterstattung war es wie so oft bei Investigativ-Geschichten. Es genügt nicht eine einzige Enthüllung, um etwas zum Einsturz zu bringen, das sich in vielen Jahren etabliert hatte. Nach den ersten Berichten bekam das Magazin "Business Insider" Post von Schlesingers Anwalt, der laut dem Magazin erst Falschbehauptungen bemängelte, dann ein Hintergrundgespräch mit Schlesinger anbot, das Gespräch dann selbst führen wollte und schließlich wütend wurde.
Schlesinger selbst tat die Vorwürfe ab, sie sprach von einer Kampagne gegen den RBB. Erst unter massivem Druck trat sie als ARD-Vorsitzende zurück.
Wenige Tage später legte sie auch ihr Amt als RBB-Intendantin nieder. Sie sagte, sie habe immer versprochen, sich für das Wohl des Senders einzusetzen. Aber auch bei ihrem Rücktritt entstand noch der Eindruck, dass dabei ein anderes Motiv eine große Rolle spielte - selbst nicht zu kurz zu kommen.
Anfang September wählte der RBB-Rundfunkrat die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin Katrin Vernau zur Interims-Intendantin. Mitte November legte Vernau offen: Wenn der RBB weiter so wirtschaftet wie bisher, dann hat sie in fünf Jahren ein Minus von über 170 Millionen Euro. Der Sender müsse bis Ende 2024 Rücklagen in Höhe von 41 Millionen Euro bilden, in einem anderen Wort: sparen. Allerdings geriet auch Vernau selbst in die Kritik. Obwohl sie knapp 300.000 Euro im Jahr verdient, gab ihr der Sender noch tausend Euro im Monat zur Miete ihrer Zweitwohnung dazu.
Ende November geriet dann noch ein anderes umstrittenes Projekt in den Fokus: das "Digitale Medienhaus", das der RBB sich bauen wollte, für zunächst 65 Millionen Euro. Katrin Vernau sprach nun dagegen von über 300 Million Euro. Vernau sagte, die Kosten seien systematisch kleingerechnet worden. Hier wiederum war die Frage: Was machen eigentlich die Aufsichtsgremien der Sender so?
Diese Frage war auch schon Teil der Debatte. Also: Sind die Aufsichtsgremien der Sender wirklich so konstruiert und besetzt, dass sie die Sender kontrollieren können? Sollen sie das überhaupt? Oder haben sich nicht doch eher eine beratende Funktion? Und falls sie ihrer Aufgabe nicht nachkommen, wie ließe sich das ändern?
Sollte man die Gremien besser mit Fachleuten besetzen, die sich nicht so leicht täuschen lassen? Oder ginge dann ihr Charakter verloren, den der Rundfunkpionier Hans Bredow formuliert hatte, als er die Kontrollinstanz vorschlug? Er stellte sich ein Gremium vor, in dem ein "möglichst großer Kreis der Rundfunkteilnehmer durch Spitzenorganisationen (…) erfasst wird". Das Gremium sollte die Gesellschaft möglichst gut abbilden. Das wurde auch nun wieder diskutiert. Falls Sie sich für die Hintergründe interessieren: Die MDR-Redaktion "MEDIEN360G", unter deren Dach das Altpapier erscheint, hat dazu ein umfangreiches Dossier erstellt.
Im Oktober: der Zwischenbericht
Aus ein paar offenen Fragen zu einem Beratervertrag des Ehemanns der RBB-Intendantin war der einer der größten Korruptionsskandale geworden, den der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland jemals erlebt hat. Dabei gab es nicht die eine große skandalöse Enthüllung. Es war eher so, wie der Olaf Steenfadt von der Initiative "Neue Medien" es dem Deutschlandfunk sagte: "Jeder einzelne Vorgang ist möglicherweise noch irgendwie begründbar, aber in der Summe verfestigt sich ein Eindruck, dass da jemand einfach komplett abgehoben von der Realität agiert hat."
Ein Abschlussbericht lag Mitte Dezember weiterhin nicht vor, doch der Zwischenbericht im Oktober deutet an, dass die Vorwürfe wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen sind. Und auch dort, wo sich am Ende herausstellen wird, rechtlich war alles in Ordnung, wird das abschließende Urteil vielleicht anders ausfallen. Was rechtlich im Einklang mit den Regeln ist, kann trotzdem als unpassend, unangemessen oder unmoralisch empfunden werden.
Die Ergebnisse aus dem Abschlussbericht werden das Bild aber möglicherweise gar nicht so sehr prägen. Das Urteil steht für viele ohnehin schon fest. Und das ist einer von mehreren medialen Effekten, die sich seit Mitte Juni beobachten lassen. Schon der Verdacht gegen Schlesinger bestätigte einen Verdacht gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Erzählung von der außer Kontrolle geratenen Intendantin fügte sich ein in eine andere Erzählung, die von den außer Kontrolle geratenen Anstalten. Und so wurde der Fall zu einem Argument, mindestens für eine radikale Reform, schon bevor klar war, ob sich der Fall überhaupt als Argument eignet.
Das zeigten die weiteren Recherchen. Nach der Enthüllung beim RBB begann die Suche auch in den anderen öffentlich-rechtlichen Sendern, aber in den meisten Häusern fand sich nur wenig Berichtenswertes. In Kiel und in Hamburg kamen interne Prüfungen zu Ergebnissen, die dem anfänglichen Verdacht nicht entsprachen. Anfang Dezember bestätigte das in Kiel auch ein externer Bericht.
Welche Schlüsse lassen die Enthüllungen also zu?
Nimmt man die Ergebnisse in Kiel und Hamburg und vielleicht auch noch die vom WDR dazu, könnte man aus ihnen zum Beispiel schließen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Problem mit seinen verkrusteten Behördenstrukturen und toxischen Hierarchien hat. Doch das spielte in der Diskussion kaum eine Rolle. Tatsächlich passierte etwas anderes.
Die Schlesinger-Affäre befeuerte eine viel größere Debatte – die über die Reform und Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Sender. Tom Buhrow sagte Mitte Dezember in einer Anhörung im Berliner Landtag, durch die RBB-Affäre sei der "Deckel vom Topf geflogen".
Einigung nach sechs Jahren
In ihrem Aufsatz mit dem Titel "Fernsehen" im 2008 erschienenen Handbuch "Grundlagen der Medienpolitik" schreiben Lutz Hachmeister und Knuth Hickethier: "In zyklischen Abständen (…) wird nach dem Verhältnis von Gebührenaufkommen und realer Programmleistung bei ARD und ZDF gefragt."
Immerhin das scheint sich inzwischen geändert zu haben. Es wird nicht mehr nur gefragt. Als der Landtag in Sachsen-Anhalt sich Ende 2020 weigerte, der Erhöhung des Rundfunkbeitrags zuzustimmen, leitete das die nächste Eskalationsstufe ein. Es war klar, dass der vereinbarte Mechanismus – Sender melden ihren Bedarf an, Beitragskommission entscheidet, Landtage nicken die Entscheidung ab – so nicht mehr ohne Weiteres funktionieren würde. Es musste sich etwas ändern. Das erste Ergebnis wurde in diesem Juni präsentiert. Nach sechs Jahren gelang es den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten endlich, sich auf eine Reform zu einigen.
Ihre Kernpunkte: Die Gremien der Sender sollten mehr Macht bekommen, um besser über Kosten und Qualität wachen zu können. Und der Programmauftrag sollte nicht mehr für alle Kanäle gelten. Anders gesagt: Wenn die Sender wollen, dürfen sie Teile des Programms ins Netz verlagern oder Kanäle ganz abstellen.
Eine radikale Schrumpfkur, wie sie immer wieder gefordert wird, war nicht Teil der Reform. Im Grunde war die Einigung einfach die nächste Runde in einem Pingpong-Spiel, in dem der Pingpong-Ball die Verantwortung für die geforderten Kürzungen ist. Und das Spiel geht so: Die Sender reagieren schulterzuckend mit dem Verweis: Das muss die Politik entscheiden. Die Politik zeigt auf die Sender.
Wenn die Politik etwas entscheidet, dann muss das in der Medienpolitik einstimmig passieren. 16 Länder müssen zustimmen. Schon das macht einen Teil der Reformvorschläge, die regelmäßig auf den Tisch kommen, unwahrscheinlich.
Macht, Einfluss und regionale Identität
Ein naheliegender Gedanke, über den immer wieder gesprochen wird, lautet: Nicht jedes Land braucht eine eigene Sendeanstalt. Hamburg hat keinen Sender, sogar die Hauptstadt Berlin teilt sich einen mit Brandenburg, aber das kleine Bremen hat Radio Bremen und das Saarland den Saarländischen Rundfunk. Die immer wiederkehrende Frage ist: Kann man diese Sender nicht mit anderen Anstalten zusammenlegen?
Klingt aus der Ferne plausibel, aus der Nähe sieht es je nach Perspektive doch noch etwas anders aus. Das Saarland argumentiert mit Zahlen, die für den Saarländischen Rundfunk sprechen, andere, zum Beispiel der SWR, argumentieren mit anderen Zahlen dagegen. Tatsächlich haben solche Argumente hier aber eine eher nachrangige Bedeutung. In Wirklichkeit geht es um Macht, Einfluss und regionale Identität.
Das zeigte eine Posse Anfang September sehr schön. Elf Jahre nach der Ankündigung, dem Wirtschaftsmagazin Plusminus eine einheitliche Moderation zu geben, gelang es den ARD-Anstalten, sich darüber zu einigen. BR, HR, MDR, NDR, SR, SWR und WDR produzieren die Sendung abwechselnd, einige der Anstalten wollten allerdings nicht auf eine eigene Moderation verzichten. Die Lösung sieht so aus: Sechs Anstalten setzen dieselbe Moderatorin ein, das Saarland behält seine eigene.
Von außen erscheint es wie ein fürchterlich kleingeistiges Kleinklein, in dem die eigenen Interessen wichtiger sind als die des Publikums. Allerdings: Mit jedem Identitätsmerkmal, das eine kleine Anstalt abgibt, gibt sie auch einen Teil ihrer Existenzberechtigung ab. Und Identität wie auch Publikumsnähe sind in der Reformdebatte wichtige Argumente.
Wenn die öffentlich-rechtlichen Sender ein Akzeptanzproblem haben, dann ist es besonders wichtig, möglichst vielen Menschen nah zu sein, durch regionale Anstalten und regionale Programme, zu denen Menschen eine Verbindung haben.
Das ist einer der Gedanken hinter einem Reformvorschlag, mit dem Sachsen-Anhalts Medienminister Rainer Robra seit Jahren durchs Land tingelt. In diesem Vorschlag sollen die ARD-Sender zeigen, was vor der eigenen Haustür so los ist. Sie wären das "Schaufenster der Regionen".
Daneben gibt es weitere Vorschläge. Die FDP zum Beispiel wünscht sich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der sehr viel weniger Geld kostet und sich vor allem um Informations- und Bildungsangebote kümmert, und der die Unterhaltung privaten Medienunternehmen überlässt.
Das Argument dagegen ist wiederum: Ein Sender, der sich nur um Information und Bildung kümmert, wird große Teile der Bevölkerung überhaupt nicht erreichen und irgendwann auch nicht mehr interessieren. Die Reduzierung auf das Informations- und Bildungsangebot könnte aus dieser Perspektive also letztlich den Weg ebnen, um den Sendern am Ende ganz den Stecker zu ziehen, denn für ein bildungsbürgerliches Elitenprogramm lässt es sich auch nicht mehr rechtfertigen, dass alle Menschen Rundfunkbeiträge zahlen müssen.
Ein ähnliches Setting hat die Debatte um die Kulturangebote der Sender. Die Fragen hier sind: Brauchen die Sender elf Rundfunk- und Rundfunksinfonieorchester, sieben Rundfunkchöre und vier Bigbands? Brauchen sie 73 Radiosender? Brauchen sie überhaupt so viele Nischenangebote für sehr kleine Interessengruppen? Sollte ein von allen finanziertes System nicht vor allem Angebote machen, die sehr viele Menschen interessieren? Das ist die im Rundfunk anscheinend dominierende Argumentationslinie, die immer wieder dazu führt, dass Nischenangebote gestutzt werden, um massentauglicher zu werden. Die Gegenposition in dieser Debatte ist: Sind die öffentlich-rechtlichen Sender nicht gerade dazu da, Angebote zu machen, die ein auf den Markt zugeschnittenes Programm nicht machen kann? Das alles wurde auch nun wieder durchdekliniert.
Tom Buhrows Revolution
Die Vorschläge sind zu großen Teilen nicht neu, aber neu war Anfang November, dass ein ARD-Vorsitzender öffentlich einräumte, der öffentlich-rechtliche Rundfunk werde sich verändern müssen, wenn er auch weiterhin existieren wolle. "Tom Buhrow ruft eine Revolution aus" stand über der in der FAZ abgedruckten Rede, die Buhrow im Hamburger Übersee-Club hielt, um schon durch Ort und Anlass deutlich zu machen, dass er hier nicht als ARD-Vorsitzender sprach, sondern als "Privatmann".
Buhrow stellte viele Fragen, im Kern ging es um eine: Was für einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollen wir? Buhrow beschrieb, was die Reformen nach seinem Eindruck notwendig macht – die schwindende Akzeptanz für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in seinem aktuellen Umfang. Und er beschrieb, was den Reformen nach seiner Erfahrung im Weg steht – das Gezerre der einzelnen Interessengruppen, die großen Widerstände, die fehlende Bereitschaft der regionalen Anstalten, bei sich selbst anzufangen. Buhrow schloss aus alledem: "Wir müssen aus dem bisherigen System ausbrechen."
Viele Fachleute nahmen die Rede verwundert auf, denn Buhrow selbst war bislang nicht als großer Reformer aufgefallen. Die rheinland-pfälzische SPD-Staatssekretärin Heike Raab, die für die Länder die Medienpolitik koordiniert, sagte etwa, die Intendantinnen und Intendanten hätten keine zwei Wochen zuvor zusammengesessen, da habe Buhrow keine Reformvorschläge geäußert. Was ebenfalls für Verwunderung sorgte, war der Zeitpunkt der Analyse. Buhrows Amtszeit endet zum Jahreswechsel.
Der Vorschlag führte immerhin zu Diskussionen darüber, wie es gelingen könnte, sich nicht wieder in denselben Schlingen zu verfangen wie in den vergangenen Jahren. Buhrows eigener Vorschlag: ein Runder Tisch, der eine Art Gesellschaftsvertrag ausarbeitet. Das Besondere an so einem Vertrag ist, dass der oder die Einzelne seine Zustimmung zu einem übergeordneten Ziel gibt, obwohl für ihn oder sie selbst dadurch möglicherweise Nachteile entstehen.
Tatsächlich kann es nur so gelingen, ein System zu überwinden, das gerade so konstruiert worden war, dass Entscheidungen von oben nach den Erfahrungen im Nationalsozialismus nicht mehr so einfach möglich sein sollten.
Aber auch ein Runder Tisch ist nicht die abschließende Antwort. Der Vorschlag verweist zunächst auf viele weitere Fragen. Die wichtigsten fasste Frauke Gerlach, die Direktorin des Grimme-Instituts, Anfang Dezember in einem Beitrag im Blog Medienpolitik.net zusammen. Dort beschäftigte sie sich mit der Frage, wie man am besten die Menschen in die Entscheidung einbeziehen kann, die den Rundfunkbeitrag bezahlen.
Gerlachs Fragen lauten: "Wer nimmt an diesem Tisch Platz und mit welcher Legitimation? Wie lautet der konkrete Auftrag und was sind die Ziele? Welche Interessen und Perspektiven werden berücksichtigt? Wird es ein exklusiver Kreis sein, der 'keine Tabus' kennt und 'Tabula rasa' macht?"
In der Frage nach dem Auftrag steckt noch eine weitere, deren Beantwortung darüber entscheiden würde, ob ein Runder Tisch überhaupt irgendwelche Chancen hätte, etwas zu ändern. Sie lautet: Welche Verbindlichkeit hätten die Beschlüsse? Käme man an dem Tisch zum Ergebnis, Deutschland kommt auch mit weniger Anstalten aus, aber die Landesregierung eines Bundeslandes von sagen wir etwa der Größe des Saarlands hätte das letzte Wort, wäre man nicht viel weiter als vorher.
"Mut entdeckt man nicht plötzlich"
Der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert, der im September noch einmal in dem Sender verkünden durfte, dass Carmen Miosga ihn als Rekordhalter überholt hat, sagte im November einen Satz, der ein Kommentar zu Tom Buhrows Hamburger Rede sein könnte: "Mut entdeckt man nicht plötzlich, man hat ihn." Damit adressierte er die fehlende Reformbereitschaft in den Sendern. Wickert sagte, er wäre dafür, Radio Bremen oder den Saarländischen Rundfunk abzuschalten.
"Wetten, dass…"-Moderator Thomas Gottschalk sprach sich schon im Mai, vor den Schlesinger-Enthüllungen, für eine Fusion von ARD und ZDF aus. Diesen Vorschlag hörten einige auch aus Tom Buhrows Rede heraus. Eine andere Variante wäre, das ZDF zu privatisieren. Doch auch das ist keine neue Idee.
Wie geht es jetzt weiter? Anfang Dezember haben die Länder den frisch beschlossenen Medienstaatsvertrag in einigen Punkten nachjustiert. Die Sender hätten keine eigenen Vorschläge gemacht, so hieß es. Tom Buhrow wies das zurück. Es ging um Transparenzregeln, Standards, um Fehlverhalten zu verhindern und eine bessere Aufsicht durch die Gremien. Aber auch, wenn all diese Punkte perfekt gelöst würden, wäre das noch immer keine große Rundfunkreform.
Wie kann es gelingen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu verschlanken und besser zu kontrollieren? Um eine Antwort zu finden, reicht ein nüchterner Blick auf die Interessenlage. Die Sender selbst haben kein starkes Interesse daran, sich selbst große Stücke aus dem Fleisch zu schneiden. Die Landesregierungen möchten Wahlen gewinnen, und dieses Ziel gerät in Gefahr, wenn sie schlechte Standortpolitik betreiben, wenn also Anstalten in ihrem Land Arbeitsplätze verlieren.
In dieser Konstellation gibt es nur eine Möglichkeit, größere Änderungen zu erreichen. Das ist öffentlicher Druck. Erst wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einem so großen politischen Thema wird, dass er Wahlen entscheidet, wird der Druck sich in den Länderrunden entfalten, und von dort gibt man ihn an die Sender weiter. Das passiert bereits. Anfang Dezember sagte Rainer Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt": "Ich halte eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags in den nächsten Jahren im sachsen-anhaltischen Landtag für undenkbar."
So leicht wird das allerdings nicht möglich sein, den Sendern das Geld zu verwehren, das sie brauchen, um ihren Auftrag zu erfüllen. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon beim letzten Versuch klargestellt, als Sachsen-Anhalt die Beitragserhöhung nicht abnicken wollte.
Im Moment fragt die Finanzierungskommission die Sender wieder nach ihrem Bedarf. Daraus wird sie die Beitragshöhe ermitteln. Was wird passieren, wenn herauskommt: Der Beitrag muss steigen? Blockiert der Anhalt in Sachsen-Anhalt die Medienpolitik dann an anderen Stellen? Um Druck zu machen?
Gibt es ein Momentum?
Den Druck von außen erhöhen Affären und Skandale, vorübergehend sogar enorm. Das zeigte sich etwa in der Maskenaffäre vor anderthalb Jahren, als sich plötzlich Transparenzregeln durchsetzen ließen, die über Jahre blockiert worden waren. Wichtig dabei ist etwas, das man im Sport das Momentum nennt: die günstige Gelegenheit, in der Dinge möglich werden, die eigentlich unmöglich sind. Aber gibt es jetzt ein solches Momentum? Haseloff sagt in dem Interview: "Die Gesellschaft ist dort angekommen, dass keiner mehr bestreitet, dass es Änderungsbedarf gibt."
Von diesem Punkt ist es allerdings noch ein Stück zur tatsächlichen Bereitschaft zu Änderungen. In der letzten Reformrunde sprach man über den Programmauftrag, bald soll es um Geld gehen. Und der Druck wächst. Am 12. Dezember meldete die Nachrichtenagentur epd im Überblick ihrer Medienmeldungen: "HR-Rundfunkrat genehmigt Haushalt 2023 mit 44 Millionen Euro Defizit". Über der Meldung darunter stand: "SWR rechnet 2023 mit 100 Millionen Euro Verlust". In einer weiteren Überschrift ging es um einen Bericht der "Welt am Sonntag". Sie lautet: "RBB gab 2021 rund 2,5 Millionen Euro für Sonderrenten aus".
Die Zeitung hatte mit einer Arbeitsrechtlerin gesprochen, die Ruhegelder in der vereinbarten Höhe für "mit den Prinzipien des öffentlich-rechtlichen Dienstwesens nicht vereinbar" hält und für "sittenwidrig". Bedeutet das, sie sind anfechtbar?
Das kann sein. Schnell wird sich an der Praxis aber wohl nichts ändern, denn – das erwähnt die "Welt am Sonntag" nicht – in Deutschland müssen einmal zugesagte Versorgungsansprüche gezahlt werden. Darauf wies das NDR-Medienmagazin "Zapp" in einem Twitter-Thread hin, wie auch auf einige weitere Ungenauigkeiten.
In einem anderen Punkt hätte sich im Dezember schon etwas ändern können. Eigentlich wollte der RBB-Rundfunkrat im Dezember einen Gehaltsdeckel für zukünftige Intendantinnen und Intendanten beschließen. Doch dazu kam es nicht. Ein Mitglied des Rats sagte laut der Süddeutschen Zeitung nach der Sitzung, das sei "eine Nummer zu groß, um das hier mal eben nebenbei zu machen".
Wieder eine Runde Ping Pong?
Am Dienstag darauf trafen die ARD-Intendantinnen und -Intendanten sich in Potsdam, um über die Reformen zu sprechen. In einer Pressemitteilung hieß es später, man wolle nicht nur in der Verwaltung, Technik und Produktion Synergien schaffen, also Doppelstrukturen beseitigen, man wolle auch im Programm die Kräfte bündeln.
Konkret sollte das bedeuten: Einzelne Spartenkanäle und Hörfunkangebote werden nicht mehr linear verfügbar sein, sondern nur noch digital. Überhaupt sollen Ressourcen für digitale Angebote frei werden. Man werde Social-Media-Accounts reduzieren und fokussieren. Am Ende soll ein regional verankertes Inhalte-System stehen, an dem sich alle Anstalten beteiligen. Die ARD werde 150 Millionen Euro in Richtung Mediathek umschichten, sagte Programmdirektorin Christine Strobl. Und das sei erst der Anfang.
Am Tag darauf, dem 14. Dezember, stellte Tom Buhrow sich in Berlin den Fragen von Abgeordneten. Man hatte ihn zu einer Anhörung eingeladen. Buhrow verwies darauf, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk schon begonnen habe, sich zu reformieren. Dass der Rundfunkbeitrag nicht mehr steigen werde, das sei allerdings mathematisch nicht möglich. Die Preise steigen, auch die Gehälter, alles wird teurer. Wenn die Sender ihrem Auftrag nachkommen wollen, werden sie mehr Geld brauchen, um das Gleiche anzubieten wie bisher. Möchte man das nicht, muss man den Auftrag anpassen. War es wieder eine Runde Pingpong? Buhrow forderte eine "ehrliche Debatte über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es gehe hier um "essenziell politische Fragen".