Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 29. Dezember 2022 Neutrality is over, bye bye

29. Dezember 2022, 09:00 Uhr

Russland führt einen Krieg gegen die Ukraine und die Regierung des Iran einen gegen die eigene Bevölkerung. Wie haben die Medien darüber berichtet? Welche strukturellen Probleme hat etwa die öffentlich-rechtliche TV-Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine aufgezeigt? Warum zieht die Berichterstattung aus dem Iran Kritik auf sich? Eine Kolumne von René Martens.

Kann die Diskussion über die Kriegsberichterstattung eigentlich erst jetzt richtig losgehen?

Mitte Dezember, in der Endproduktionsphase dieses Rückblick-Textes, erschien ein von der Otto-Brenner-Stiftung (OBS) mitfinanziertes Arbeitspapier, das diese unter anderem mit folgenden Worten ankündigte:

"'Gleichgeschaltete' Berichterstattung zur Ukraine? Solche Vorwürfe verhelfen zu Talkshow-Auftritten und Bestsellern. Aber wie steht es um die Fakten?"

Das Arbeitspapier trägt den Titel "Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg", und es widmet sich den Beiträgen ausgewählter Leitmedien in der Zeit zwischen dem 24. Februar und dem 31. Mai 2022 (siehe Altpapier). Die Worte "Talkshow-Auftritte" und "Bestseller" sind natürlich gemünzt auf die beiden prominenten Debattenzirkuspferde Richard David Precht und Harald Welzer, die mit einem bauchgefühlsstarken Buch zu diesem Thema reüssierten.

Die erste Einschätzung von "Übermedien": "Die Ergebnisse bestätigen Prechts und Welzers Thesen in zentralen Punkten nicht", etwa die These vom "Cursorjournalismus", der eine "'Selbstangleichung' vollzogen habe – und nur noch darauf schiele, welche Meinung andere Journalist:innen hätten, um sich dieser anzugleichen".

Der Untertitel des Arbeitspapiers lautet wohlgemerkt "Forschungsbericht zu ersten Befunden". OBS-Geschäftsführer Jupp Legrand sagt, es liege "eine solide Grundlage für die weitere Diskussion über die Qualität der Medienberichterstattung zum russischen Angriffskrieg vor, die nicht auf persönlichen Eindrücken beruht oder auf individuellen Mutmaßungen fußt".

Klaus Raab beurteilte solche aufbruchstimmungsartigen Äußerungen im bereits erwähnten Altpapier allerdings skeptisch:

"So ist die Situation nun die, dass die Diskussion über die Ukraine-Berichterstattung jetzt beginnen könnte, in allen Grautönen, die ein Röhrenfernseher einst hergab. Die Positionen sind aber längst mit Verallgemeinerungen und Abwertungen abgesteckt."

Warum waren ARD und ZDF in den ersten Kriegstagen nicht in Kiew?

Aber genug der Prophezeiungen, dieser Text ist schließlich ein Rückblick. Versetzen wir uns also erst einmal zurück in die ersten Wochen nach der russischen Invasion. Im Februar und März gab es es im Ersten 22 "Brennpunkt"-Sendungen zum Krieg gegen die Ukraine. In einem "epd medien"-Beitrag aus dieser Frühphase der Kriegsberichterstattung (den ich geschrieben habe) geht es unter anderem darum.

Der Auslandsberichterstattungs-Beobachter Marc Engelhardt konstatierte am 1. April ebenfalls bei "epd medien":

"Seit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine beherrschen Nachrichten aus einem Land die Schlagzeilen, das direkt an die EU grenzt und dessen Hauptstadt kaum mehr als eine Flugstunde von Berlin entfernt ist. Dabei zeigt sich auch, wie wenig wir in den vergangenen Jahren erfahren haben aus dem größten oder zweitgrößten Flächenstaat Europas - je nachdem, ob man Russland als (rein) europäisches Land versteht."

"Nachrichten aus Kiew" hätte es "vor dem Krieg überwiegend schlaglichtartig" gegeben, so Engelhardt. Darüber, "was seit 2014 etwa auf der Krim geschah und welche Dynamik die Besatzung auf beiden Seiten der Grenze auslöste", darüber hätten hiesige Medien nicht ausreichend berichtet. Ein Eindruck, den auf nicht unähnliche Art bereits im März 2020 Golineh Atai formulierte, die 2014 für die ARD aus der Ukraine berichtet hatte (und seit Anfang 2022 das ZDF-Studio in Kairo leitet):

"Was Men­schen­rechte angeht, ist die Krim heute eine Black­box, ein schwarzes Loch (…) Die Krim gerät zunehmend in Vergessenheit. Es war bereits ab 2017 nicht einfach, das Thema in der aktuellen Berichterstattung unterzubringen. Und heute ist es nicht anders."

Was die Praxis der Sender nach der russischen Invasion angeht, gab es deutliche Kritik von der vielfach preisgekrönten ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf. 2022 wurde sie unter anderem mit dem Grimme-Preis in der Kategorie Besondere Journalistische Leistung (Offenlegung: Ich war an der Preisfindung beteiligt) und dem Werner-Holzer-Preis für herausragenden Auslandsjournalismus ausgezeichnet. Im "Fernsehsalon" der Deutschen Kinemathek sagte Eigendorf, sie empfinde es als problematisch, dass sowohl ARD und ZDF in den ersten Tagen seit der Invasion nicht in Kiew gewesen seien. Die Situation sei zwar "brenzlig und undurchschaubar" gewesen, aber:

"Ich halte (es) für einen Fehler, dass wir die Berichterstattung nicht von dem Ort gemacht haben, wo wirklich die Welt hingeschaut hat und wo im Prinzip der Konflikt spielte, nämlich in der ukrainischen Hauptstadt. Die Russen haben mehrfach versucht, den ukrainischen Präsidenten zu ermorden, man hat damit gerechnet, dass Kiew auch eingenommen wird, und da muss ich sagen, das kann nicht sein, dass ARD und ZDF da nicht vor Ort sind, (während) die BBC, CNN, alle internationalen Sender da sind und auch eben Kollegen anderer deutscher Medien."

Dazu, dass die hiesigen öffentlich-rechtlichen Häuser ihre Entscheidung mit dem Schutz der Mitarbeitenden begründet hatten, sagt sie:

"Das ist immer der Beweggrund, wenn man entscheidet, so etwas nicht zu machen, wir waren ja auch nicht in Kabul, als die Taliban die Macht übernommen haben - aus ähnlichen Gründen."

Aber man müsse sich in so einer Situation doch damit auseinandersetzen, was das Team wolle, und unter ihren Mitarbeitenden sei es "absoluter Konsens" gewesen, dass man aus Kiew berichten müsse. Eigendorf weiter:

"Ich arbeite mit sehr erfahrenen Kollegen zusammen, die teilweise schon 20, 30 Jahre Kriegsberichterstattung machen. Und da hätte ich mir gewünscht, dass man unserer Einschätzung ein bisschen mehr vertraut."

Warum Kriegsreporter nicht neutral sein dürfen

Die Auseinandersetzung mit der Berichterstattung aus der Ukraine brachte auch einige generelle Fragen zur journalistischen Praxis auf die Agenda, die wir in ähnlicher Form aus anderen Kriegs- und Krisensituationen kennen. So entspann sich eine Debatte um eine Titelseite der "New York Times". Es ging dabei um "ein Foto, das eine tote Familie zeigt, die auf der Flucht im ukrainischen Irpin Opfer eines russischen Artillerieangriffs wurde" ("Übermedien").

Andere Bilder aus Irpin animierten die schon erwähnte Katrin Eigendorf, die Pionierhaftigkeit der CNN-Kriegsreporterin Clarissa Ward herauszustellen:

"Für mich ist Clarissa Ward eine der Journalistinnen, die im Prinzip ein klares Signal für eine andere Art des Journalismus gesetzt hat (…) Ich erinnere mich noch an dieses Bild, wo Clarissa an der Brücke von Irpin stand, das ja praktisch das Nadelöhr der Flüchtenden war, und dann auf einmal ihre Live-Schalte unterbrach."

Gemeint ist eine Szene aus dieser Schalte, in der Ward darüber berichtet, wie Bürger Irpins nach mehrtätiger Bombardierung über eine gesprengte Brücke aus der Stadt flüchten. Die besagte Unterbrechung dient Ward dazu, die Tasche einer älteren Frau zu tragen. Eigendorf sagt dazu:

"Da würden jetzt die alten Vertreter der Generation davor, die ja vorwiegend Männer waren, sagen: Das führt zu weit, ich darf mich nicht zum Teil des Geschehens machen. Ja, warum eigentlich nicht, ich bin doch Teil des Geschehens (…) Ich halte diese vermeintliche Objektivität oder Neutralität in Kriegen für eine Irreführung geradezu des Zuschauers."

Die Äußerung stammt aus einer Folge des von Jagoda Marinić moderierten Arte-Online-Gesprächsformats "Das Buch meines Lebens" (ich danke Ebru Taşdemir für den Hinweis auf das Gespräch).

Was ARD und ZDF schon ab 2014 hätten anders machen müssen

Um noch einmal auf das zurückzukommen, was Golineh Atai und Marc Engelhardt im Frühjahr 2020 bzw. Frühjahr 2022 über die unzureichende Berichterstattung über die Ukraine seit der Annexion der Krim geäußert haben: Diese Schwäche hängt möglicherweise damit zusammen, dass sich ARD und ZDF 2014 nicht dafür entschieden haben, die Ukraine auf die Landkarte ihrer Auslandsstudios zu setzen - und das Land weiterhin von den Teams in ihren Moskauer Studios betreuen zu lassen.

Das warf damals die Frage auf: Wie gut kann ein Korrespondent, der seinen Sitz in einem Land hat, das sich mit einem anderen im Krieg befindet, über beide Seiten berichten? Spätestens mit Beginn der Invasion hätte man sich von der Praxis, dass für die Ukraine das Studio Moskau zuständig ist, verabschieden und in der Ukraine eine Struktur für eine kontinuierliche Berichterstattung schaffen müssen.

"Für die ZDF-Berichterstattung über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine" waren "in den zurückliegenden Monaten" stattdessen sieben unterschiedliche ZDF-Reporterinnen und Reporter "jeweils längere Zeit vor Ort". Das teilt das ZDF selbst auf Anfrage mit. Neben Katrin Eigendorf waren das Henner Hebestreit, Dara Hassanzadeh, Jörg Brase, Luc Walpot, Anne Brühl, Torge Bode und Julia Held. Hebestreit beispielsweise ist eigentlich Skandinavien-Korrespondent, Brase (um den es später in diesem Rückblick noch ausführlich gehen wird) leitet das ZDF-Studio in Istanbul.

Die ARD schickte ebenfalls eine Zeitlang Korrespondenten aus anderen Regionen für einige Wochen an die Kriegsberichterstattungsfront, etwa den für Südasien zuständigen Oliver Mayer oder Xenia Böttcher, die das ARD-Studio in Mexiko leitet. Natürlich brauchen Journalistinnen und Journalisten, die aus dem Krieg berichten, auch mal eine Pause, weshalb man es nachvollziehbar finden kann, dass die ARD und ZDF mit wechselnden Kräften arbeitete. Aber vor allem braucht man in so einer Situation doch Leute, die die Verhältnisse im Land kennen und sich gegebenenfalls vorbereitet haben.

Warum mangelt es an derlei Vorbereitung?

Im April sagte "ein erfahrener ARD-Krisenreporter" gegenüber "Übermedien", in der ARD fehle etwa das Gespür dafür, "internationale Krisen rechtzeitig zu erkennen und sie richtig einzuschätzen".

Die ARD hat bis Anfang September, also mehr als ein halbes Jahr seit Beginn der Invasion, gebraucht, um zwei feste Ukraine-Korrespondenten zu installieren. Beim ZDF steht eine solche Maßnahme noch aus.

Die strukturellen Schwächen der Auslandsberichterstattung von ARD und ZDF wären eine ausführliche Debatte wert. Sie würde aber erheblich dadurch erleichtert werden, wenn in den öffentlich-rechtlichen Sendern ein Klima entstünde, das es beispielsweise einem "erfahrenen ARD-Krisenreporter" ermöglichte, seine Kritik auch unter seinem Namen zu formulieren.

Die iranische Führung kann ihre Ideologie nach wie vor über westliche Medien verbreiten

Nachdem die sogenannte Sittenpolizei des Iran durch die Ermordung von Jina Mahsa Amini am 16. September Proteste ausgelöst hatte, die das Land bis dahin noch nicht gesehen hatte, berichteten hiesige Medien zunächst eher zurückhaltend.

Die Gewichtung der Proteste in der "Tagesschau" um 20 Uhr war Gegenstand der Kritik im Altpapier vom 4. Oktober. "Wieso wird so wenig über die Iran-Proteste berichtet?" lautete zwei Tage später der Titel eines "Übermedien"-Podcasts mit der ARD-Journalistin Natalie Amiri, die einst selbst aus dem Iran berichtet hatte. "Es gab noch nicht einen 'Brennpunkt'", kritisierte Amiri in dem Podcast. Ungefähr drei Wochen später gab es dann den ersten - und bisher einzigen. Immerhin lief zwischendurch, am 10. Oktober, ein "Weltspiegel Extra" nach den "Tagesthemen".

Eine im Auftrag des "Medieninsiders" entstandene Datenanalyse, veröffentlicht Ende November, zeigt auf, dass die Proteste im Iran "in der Berichterstattung zwar stattgefunden haben, ihr Nachrichtenwert allerdings insgesamt als gering angesehen wurde". Von Mitte September bis Mitte November hatten die Datenanalysten dafür "die Top-20-Positionen" auf der Homepage von RND, "Tagesschau", "Zeit", "Spiegel", FAZ, SZ, N-TV, "Stern", "Welt", "Bild" und "Focus" ausgewertet.

Ein Ergebnis:

"Die Unterschiede zwischen den Publishern sind teilweise sehr groß (…) Zeit Online veröffentlicht während des Untersuchungszeitraums (…) 157 Artikel zu diesem Thema auf seiner Startseite, zehn davon als Aufmachern (…) Focus Online hat die Proteste bei 38 Artikeln nur zwei Mal in den Aufmacher gehoben."

Es gab aber auch Kritik an der Qualität bzw. fehlender "konzertierter, journalistischer Tiefenrecherche" (Altpapier vom 10. Oktober). Als frappantes Beispiel für das Versagen hiesiger Redaktionen nannte die deutsch-iranische Journalistin Gilda Sahebi (siehe unter anderem dieses Altpapier) am 6. Oktober in einem Gespräch mit dem DLF-Magazin "@mediasres" die Berichterstattung über Attacken von Sicherheitskräften und Milizen auf Studierende der Elite-Universität Sharif in Teheran:

"Ich war da in einem Twitter Space von zwischenzeitlich 8.000 bis 10.000 Exil-Iraner*innen", und da sei es ab sieben bis ein Uhr nachts darum gegangen, "wie man Aufmerksamkeit erregen kann, denn bis um elf gab es überhaupt keine Berichte".

In der taz schrieb Sahebi dazu:

"Die Szenen, die sich an der Uni abspielten, glichen denen in einem Kriegsgebiet. In den sozialen Medien verglichen Menschen vor Ort das Vorgehen der Sicherheitskräfte mit der Brutalität der Terrormiliz Islamischer Staat. Es hat der stundenlangen Anstrengung tausender Twitter- und Instagram-Profile und Multiplikator*innen bedurft, bis westliche Medien überhaupt richtig hinschauen."

Oder anders gesagt: bis Redakteurinnen und Redakteure anfingen, ihre Arbeit zu machen.

Eine andere Erklärung für Schwächen in der Iran-Berichterstattung lieferte Mina Khani Ende Oktober ebenfalls in der taz:

"Viele der westlichen Beobachter*innen (können) mangels Sprache und Zugang weder die Propagandazeitungen des Staats noch die Texte der oppositionellen Ak­teu­r*in­nen lesen (…) Das ist ein Grund, weshalb die iranische Führung ihre Ideologie nach wie vor im Westen verbreiten kann."

Die Kritik, Narrative der iranischen Regierung zu übernehmen, richtete sich in den vergangenen Wochen vor allem an den ZDF-Korrespondenten Jörg Brase. Er konnte als bisher einziger deutsche Korrespondent während der Proteste direkt aus dem Iran berichten. Kritik an seiner Arbeit fand unter anderem Niederschlag Anfang November in einem "Übermedien"-Beitrag ("Wie sich deutsche Medien von iranischer Propaganda einlullen lassen") und Mitte November in einer Schwerpunkt-Sendung des Magazins "Zapp".

Besonders scharf kritisiert wurde Brase von Daniela Sepehri (die als Social-Media-Managerin für die SPD-Zeitung "Vorwärts" arbeitet) in einem Instagram-Video. Immerhin war die Redaktion der ZDF-Sendung "Markus Lanz" einige Wochen später so souverän, Sepehri zu einer Diskussion zum Thema Iran einzuladen.

Die Kritik an Brases Berichterstattung habe ich in einer Kolumne für die kurz vor Weihnachten erschienene aktuelle Ausgabe des "Medium Magazins" zum Anlass genommen, einen grundsätzlichen Blick auf die Bestellung der Korrespondentenstellen beim ZDF zu werfen.

Bei "Zapp" im Gespräch mit Omid Rezaee sagt Brase zu seiner Verteidigung:

"Ich mache mich weder mit dem iranischen Regime gemein noch mit der Protestbewegung."

Dieser Satz ist eine journalistische und moralische Bankrotterklärung. Das ist ungefähr so, als hätte er (oder ein anderer Journalist) vor einigen Jahren gesagt, er mache sich weder gemein mit dem Islamischen Staat noch mit Menschen, die vom Islamischen Staat terrorisiert werden. Man könnte, angelehnt an Katrin Eigendorfs Würdigung der Arbeit von Clarissa Ward, sagen, dass sich der Iran in einer Situation befindet, in der man sich als Berichterstattender nicht neutral verhalten darf.

In Omid Rezaees Beitrag ist auch ein Ausschnitt aus einem "ZDF Spezial" zum "Aufstand gegen die Mullahs" zu sehen, in dem sich Brase mit folgenden Worten gegen die Kritik an seiner Arbeit wehrt:

"Zu sagen, dass die Teilnehmerzahlen der Proteste stagnieren oder Politiker und Geistliche Reformen fordern (…) - für solche Aussagen werden wir von der iranischen Auslandsopposition angegriffen. Für sie sind wir Handlanger des Mullah-Regimes."

Dass sich Mitarbeitende des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in einem eigenen TV-Bericht zu rechtfertigen versuchen bzw. auf Medienkritik reagieren - das ist recht ungewöhnlich.

Auf die Sinnhaftigkeit der Begriffe "Reformen" und "Reformer" im Kontext der Iran-Berichterstattung lässt sich mit einem Artikel von Golineh Atai entgegnen. Sie würde natürlich nie Brase direkt kritisieren, schließlich ist sie ja, wie oben bereits erwähnt, ebenfalls Leiterin eines ZDF-Auslandsstudios. Wie auch immer: In der November-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" (siehe auch Altpapier) schrieb Atai:

"Wir haben zu lange nicht verstanden, wer die alles entscheidende Macht im Iran verkörpert. Wir haben die Etiketten zur Kennzeichnung der 'Reformer' und ihnen nahestehender Kreise von Anfang an falsch interpretiert. Wir haben die zunehmende Bedeutungsleere dieser Kategorie nicht erkannt. Reformer zu sein bedeutet nicht, sich hinter den Volkszorn auf der Straße oder hinter marginalisierte Minderheiten zu stellen. Reformer zu sein bedeutet, es sich’ des Regimes zu fungieren, wenn der Druck im System irgendwo zu groß ist."

Und:

"Wir tun immer noch so, als ob unsere Unterstützung der Reformer die Demokratisierung des Iran herbeiführen würde (…) Mittlerweile bin ich der Überzeugung, dass die typischen Kategorisierungen in unserer Berichterstattung über den Iran schon lange ins Leere laufen."

Zu Brases Formulierung "Auslandsopposition" merkt Omid Rezaee bei "Zapp" noch an, das sei "ein Begriff, den auch das Regime verwendet, um zu suggerieren, jeglicher Protest würde vom Ausland gesteuert".

Zumindest die Quantität der Berichterstattung über die Protestbewegung hat sich im Laufe der Zeit verbessert. Annika Schneider schrieb jedenfalls Mitte Dezember an dieser Stelle:

 "Es fällt auf, wie konstant weiterhin über die iranischen Proteste berichtet wird, auch wenn vor einigen Wochen noch viel darüber diskutiert wurde, ob die Medien hierzulande das Thema ernst genug nehmen."

Wo die Gründe für die Schwächen der Iran-Berichterstattung liegen

Die Quantität und Qualität der Beiträge beeinflusst auf seine ganze eigene Weise natürlich auch das iranische Regime.

Katharina Willinger aus dem ARD-Studio Istanbul könne nicht aus Teheran berichten, weil ihr "seit Wochen die Einreise verwehrt" wird, sagte zum Beispiel Moderator Christian Nitsche im bereits erwähnten einzigen "Brennpunkt" zum Iran. Jörg Brase wies bei zdf.de Ende Oktober darauf hin, dass er außerhalb Teherans keine Drehgenehmigung erhalte. Im "Zapp"-Schwerpunkt sagte er zudem, er müsse bei seiner Berichterstattung darauf achten, die Iranerinnen und Iraner in seinem Team nicht zu gefährden. Shazad Eden Osterer vom BR wies ebenfalls in besagter "Zapp"-Sendung auf die Gefahr hin, denen sich Menschen aussetzen, die mit westlichen Fernsehsendern lediglich reden. In einem Altpapier wiederum kam zur Sprache, dass das Regime Druck auf Familienmitglieder von Mitarbeitenden der Deutschen Welle ausübt.

In dem bereits zitierten Interview mit dem Deutschlandfunk geht Gilda Sahebi darauf ein, inwiefern die hiesige Berichterstattung dadurch beeinflusst wird, dass "es im Iran keinen unabhängigen Journalismus gibt". Dies erschwere es deutschen Journalistinnen und Journalisten, sich jene Informationen zu beschaffen, die in der Regel Basis der Auslandsberichterstattung sind. Sie müssten daher andere Wege gehen, um an solche Informationen zu gelangen. 

Der Iran hat in diesem Jahr wesentlich dazu beigetragen, dass die Zahl der insgesamt weltweit inhaftierten Journalisten einen neuen Höchststand erreicht hat (siehe Reporter ohne Grenzen). Zum Stichtag 1. Dezember saßen demnach "mindestens 533 Journalistinnen und Journalisten wegen ihrer Arbeit im Gefängnis". "The record number of journalists in jail is a crisis that mirrors an erosion of democracy globally", sagt Jodie Ginsberg, die Präsidentin des Commitee to Protect Journalists gegenüber CNN. Ihr sei das Schlusswort dieses Rückblicks überlassen:

"Die diesjährige Zählung macht deutlich, wie weit Regierungen gehen werden, um Berichterstattung zum Schweigen zu bringen, die versucht, Macht zur Rechenschaft zu ziehen. Die Kriminalisierung des Journalismus hat Auswirkungen weit über die Person im Gefängnis hinaus: Sie erstickt die wichtige Berichterstattung, die zum Schutz, zur Information und zum Empowerment der Öffentlichkeit beitragen."

Und wie die Iran-Berichterstattung hiesiger Medien zeigt, hat sie auch Auswirkungen darauf, wie Menschen jenseits der Länder, die Journalisten einsperren, informiert werden.

[Anm.: Produktionsschluss für diesen Rückblick war der 19. Dezember 2022.]

Der Altpapier-Jahresrückblick 2022

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