Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 19. Dezember 2022 Boykott ist keine journalistische Gattung
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19. Dezember 2022, 10:07 Uhr
Es war ein herausforderndes Jahr für deutsche Sportredaktionen: Die journalistische Arbeit wurde eingeschränkt, der Sport von komplexen Debatten überlagert. Ein Rückblick auf die Olympischen Spiele in Peking und auf den Fußball – und auf ein fröhliches Sportfest zwischendurch, das dann auffallend euphorisch begleitet wurde. Eine Kolumne von Klaus Raab.
Inhalt des Artikels:
- Es war ein ziemlich schönes Fußballturnier
- Die Männer-WM: Haltungsstress, deutsche Selbstbilder, Kritik und Kritik an der Kritik
- Abwägungsfragen für Sportreporter: Wie tariert man Kritik und Begeisterung aus?
- Warum Medien von umstrittenen Wettkämpfen berichteten
- Olympia: Journalismus in der Bubble und die Versuche, rauszukommen
- Und dann war da noch dieses fröhliche leichte, einfache Sportfest – zu Hause
Es war ein ziemlich schönes Fußballturnier
Ach, es war schön: dieses große internationale Fußballturnier in diesem Jahr, das Millionen euphorisch verfolgten. Großer Sport, volle Stadien, riesige Begeisterung vor Ort und in Deutschland. Sie erinnern sich sicher: an die Fußballeuropameisterschaft der Frauen. Durchschnittlich 17,897 Millionen sahen das Finale, womit erstmals in einem Jahr ein Länderspiel der DFB-Frauen vor allen Spielen der DFB-Männer landete.
Im Jahresrückblick scheint es einerseits, als habe der Frauenfußball endlich den Platz in der medialen Öffentlichkeit gefunden, den ihm nur vereinzelte Hartnäckige wie die "taz" schon seit Jahren zugestanden wissen wollten. Andererseits muss man nun, Monate später, in seiner Mediennutzung schon sehr originell aufgestellt sein, wenn man Frauenfußball verfolgen möchte. Von deutschen Medien gemacht war dessen "Boom", von dem 2022 die Rede war, jedenfalls nicht. Beim ZDF, das mit der ARD die Spiele der Europameisterschaft übertrug, gab es eine Dokumentation zur EM, aber sie war in der Mediathek gut versteckt. Die ARD bewarb zum Turnierstart gerade die Dokuserie "Being Jan Ullrich". Fußballzeitschriften hatten Männerfußball auf dem Titel, obwohl der gerade Pause hatte. Die Tageszeitungen behandelten die Frauen-EM im Sportteil erst einmal so groß wie den Start eines Männerhandballturniers, bevor das große Publikumsinteresse dann auch für mehr mediale Aufmerksamkeit sorgte. Irgendwann soll es sogar Eilmeldungen gegeben haben, wenn das deutsche Team wieder ein Spiel gewonnen hatte.
Aber den Gedanken, dass Frauenfußball nur im Sonder- und Erfolgsfall als medienrelevant gilt: Den konnte einem diese EM auch nicht vollständig austreiben.
Die Männer-WM: Haltungsstress, deutsche Selbstbilder, Kritik und Kritik an der Kritik
Alles in allem blieb der Männerfußball die weitaus umfassender erzählte Mediengeschichte. Genug Berichterstattungsstränge gab es freilich auch. Man denke allein an die vielen kritischen Dokumentationen, die liefen – leider praktisch alle direkt vor der WM in Katar, sodass sie sich gegenseitig auf den Füßen standen. Die Filme reicherten eine deutsche Debatte über einen Boykott des Turniers an, die auf den Höhepunkt geriet, nachdem die Fifa den europäischen Verbänden verboten hatte, ihre Kapitäne mit einer "One Love"-Armbinde auszustatten. Deutschland signalisierte in diesen Tagen, auch medial: nicht mit uns! "Schon wieder Fußball im Fernsehen" bedeutete: kritische Einlassungen am laufenden Meter.
So kritisch, dass es auch berechtigte Kritik an der Kritik gab. Differenzierungsarmut beklagte die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" im Umgang mit Katar. Die Ausbeutung von Gastarbeitern, die autoritäre Führung, LGBTIQ-feindliche Gesetze und Regeln, Korruption bei der Turniervergabe – alles wichtige Themen. Aber irgendwie mogelte sich auch hie und da das läppische Argument in die Kommentare, dass eine WM im November einfach nicht so schön sei wie eine im Juli; ein "Kulturbruch" wurde deshalb im Talk bedauert nach dem Motto: Winter-WM, sowas hatten wir ja noch nie, und wo kämen wir denn dahin? In Ländern der Welt, die 2022 ausnahmsweise mal eine Sommer-WM erlebten, sah man das doch etwas anders.
Die Diskussion über die WM war also ziemlich beladen mit Aspekten, die dann aber immer mal wieder durcheinander gerieten. Quasi typisch für den spürbaren Haltungsstress: die SPD-Sportministerin, die das Gehabe der Fifa und ihres weißen mitteleuropäischen, Dollarzeichen in den Augen habenden Vorsitzenden zu kritisieren gedachte – und dann in einem überwiegend muslimischen Land demonstrativ im oberarmfreien Shirt auftrat. Nahezu jeder Reiseführer hätte wohl abgeraten. Aber hey, die Stimmung stand auf Selbstpositionierung.
Was sich auch medial bemerkbar machte. So wurden etwa die Fußballer für Verbandsentscheidungen verantwortlich gemacht und – auf Redaktionscomputern wurde die Ausrufezeichen-Taste schwer strapaziert – zum werteorientierten Voranschreiten aufgefordert. Dass das auch wohlfeil war und die Spieler in eine kaum auflösbare Überforderungssituation brachte, wurde erst später im medialen Randbereich von Philosophie und Fußball herausgearbeitet.
Ebenfalls nicht sauber zu trennen von der Katar-Debatte: deutsche Selbstbilder. Als "verwöhnt, siegesgewiss, selbstgerecht, selbst noch in der Niederlage" beschrieb der "Spiegel" einige deutsche Medienleute, die nach dem Auftaktspiel des deutschen Teams gegen Japan im Stadion darüber empört gewesen seien, dass man gerade gegen so etwas wie den viertklassigen SV Wacker Burghausen verloren habe.
Zentrale Aussage des Texts: "Es ist eine hoch spannende, hochkomplexe Weltmeisterschaft. So viele Themen, so viele Konflikte, so viele offene Fragen." Genau.
Abwägungsfragen für Sportreporter: Wie tariert man Kritik und Begeisterung aus?
Und mittendrin statt nur dabei: Sportjournalistinnen und -journalisten, die Empörungsmanagement zu betreiben und diplomatische Verrenkungen zu kommentieren hatten. Aber doch eigentlich wegen des Sports angereist waren. Bevor etwa der ZDF-Fußballreporter Béla Réthy im Dezember bei der WM sein letztes Spiel vor dem Ruhestand kommentierte, erschien, ebenfalls beim "Spiegel", ein Porträt, das die Herausforderung gerade für Livereporterinnen und -reporter treffend zusammenfasst:
"Die Politik, die Korruption, die Fifa, kein leichtes Umfeld für einen Sportreporter. Réthy quält sich: Was sagen? Wie politisch werden? Wie den Fußball dabei gewichten? 'Draufhauen wäre das Einfachste', sagt er, 'aber das wäre auch respektlos'. Also liest er viel, trifft sich mit Amnesty International und verabredet sich noch vor dem Turnier mit Sigmar Gabriel. Der frühere SPD-Chef gehört zu denen in Deutschland, die die Katar-Kritik übertrieben finden. Réthy sagt, er wolle sich einen Weg in der Mitte ebnen. 'Am liebsten würde ich völlig unvoreingenommen hinfahren', sagt er, aber das geht natürlich nicht."
Stimmt, ging nicht. Man konnte ja schwerlich unvorbereitet anreisen, und zur Vorbereitung gehörten zwangsläufig die politischen Themen. Das war nicht nur in Deutschland so: Die britische BBC etwa blendete während der WM-Eröffnungsfeier in eine Dokumentation über Menschenrechte in Katar über, wie Golineh Atai vom ZDF in einer Schalte nebenbei bemerkte.
Und wie leicht das ebenfalls nicht gehende Draufhauen instrumentalisiert werden konnten, sah man, als CSU-Chef Markus Söder sich auf dem Höhepunkt der Kapitänsbindendiskussion unter dem Hashtag #OneLove von den "europäischen Fußballverbänden" Courage wünschte. Als hätten bemerkenswert viele Abgeordnete seiner CSU nicht ein paar Jahre zuvor gegen die Ehe für alle gestimmt. Diskurswacher, kulturell sensibler, kritischer und dabei auch für eigene Voreingenommenheiten aufmerksamer Journalismus: Das war gefragt. Der schwierige Weg der Differenzierung.
Der allerdings nicht mit Neutralität oder Haltungslosigkeit verwechselt werden durfte. Denn wie hätte das denn wiederum gehen sollen: neutral ein Spiel kommentieren? Haltungslos über Menschenrechtsfragen berichten? Ging wohl eher nicht. Die "Süddeutsche Zeitung" hielt Anfang Dezember fest, dass es entsprechende Reflexe in der Not aber durchaus gegeben habe:
"Die große allgemeine Verunsicherung hat neulich sogar den erfahrenen ARD-Kommentator Tom Bartels übermannt. In der Partie Iran gegen USA, dem Hochpolitikspiel schlechthin, rutschte ihm nach dem Siegtreffer des Amerikaners Christian Pulisic der Hauch eines Jublers ins Mikrofon. Bitte nicht falsch verstehen, entschuldigte sich Bartels in vorauseilender politischer Korrektheit beim Zuschauer, vor allem aber bei der allzeit alerten Twitter-Gemeinde, deren Shitstorm einen aus der Reporterkabine wehen kann. Das Tor sei halt sehr stark herausgespielt worden. 'Selbstverständlich verfolgen wir das hier völlig neutral!'"
Selbstverständlich! Die journalistische Stilform des neutralen Kommentars wurde allerdings auch in diesem Jahr wieder einmal nicht erfunden. Mal sehen, ob 2023 in der Hinsicht eine Überraschung bringt.
Warum Medien von umstrittenen Wettkämpfen berichteten
Es gab noch eine zweite "Nicht mit uns"-Veranstaltung im Sportjahr 2022, die Olympischen Winterspiele in Peking. Sie und die WM in Katar waren nicht die ersten weltweit beachteten Sportgroßveranstaltungen an Austragungsorten, die in der deutschen Berichterstattung mit dem Adjektiv "umstritten" versehen wurden ("Schwarzwälder Bote", "Recklinghäuser Zeitung", watson.de). Dass davon mehrere in einem Jahr stattfinden, war allerdings besonders.
Wahrscheinlich gab es seit 2008, als ARD und ZDF sich von der Übertragung der Tour de France wegen des verbreiteten Dopings zurückzogen, keine so großen Zweifel mehr an einer öffentlich-rechtlichen Sportübertragung wie an der Übertragung der Männer-WM 2022. Sie war "aufgrund von Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsvorwürfen eine der umstrittensten Sportveranstaltungen der Geschichte", wie der "Spiegel" urteilte. Hin und wieder gab es auch in der ARD vereinzelte Kommentare, in denen auch Kritik an der Beteiligung der ARD anklang.
Sie war so umstritten, dass ARD und ZDF über ihre Sportaccounts irgendwann öffentlich begründeten, warum sie dennoch nicht auf die Übertragung verzichten wollen. Genau wie auch der "Spiegel" vor dem Start des Turniers sich darzulegen bemüßigt fühlte, "wie (er) aus Katar berichtet – und warum". Aber was hätten Medien tun sollen – die Fußball-WM und die Olympischen Spiele tatsächlich boykottieren? Die Begründung aller drei Medien, warum sie nicht wegblieben, lag nahe und lautete sinngemäß: Diese WM stinke zwar zum Himmel, aber Journalismus sei dafür da, hinzusehen.
Auch die "Süddeutsche" veröffentlichte im Februar einen Artikel, in dem sie erklärte, warum sie nicht auf eine Berichterstattung verzichten würde; das war quasi ein Pflichtformat für Sportredaktionen in diesem Jahr. Bei ihr ging es um die Winterspiele in Peking:
"Wir halten die Tatsache, dass das Internationale Olympische Komitee diese Spiele in China austrägt, für falsch. Wir finden das Schweigen des IOC zu den Umerziehungslagern in Xinjiang, zum Niederschlagen der Demokratiebewegung in Hongkong, zur Menschenrechtslage insgesamt skandalös. (…) Trotzdem wird auch die SZ ausführlich über die Spiele berichten, auf täglichen Sonderseiten in der gedruckten Zeitung, in der digitalen Ausgabe, auf SZ.de. Olympische Spiele sind mehr, als China und das IOC daraus machen: Sie sind ein Menschheitsereignis."
Wegsehen jedenfalls, das war der gemeinsame Nenner, ist auch keine Lösung. Denn man kann von einem Boykott halten, was man mag – eine journalistische Gattung ist er nicht.
Olympia: Journalismus in der Bubble und die Versuche, rauszukommen
Bei den Olympischen Winterspielen im Februar 2022 in Peking kam zu den für Journalisten an sich schon schwierigen Bedingungen in China noch die Corona-Pandemie dazu. Athletinnen und Athleten, Delegationsmitglieder und auch Medienschaffende sollten, so die Vorgaben, in einer Blase, der sogenannten Olympia-Bubble, bleiben. Aber in ihr waren die Sportler noch einmal weiter abgeschirmt. Blicke ins Land, Reportagen, Interviews jenseits organisierter Presseereignisse seien so kaum möglich gewesen, wurde kritisiert.
Zwar hatte es auch bei den Sommerspielen 2021 in Tokio wegen der Pandemie schon massive Einschränkungen für Medien gegeben. Dass der autoritären Staatsführung in China die Pandemie als Begründung für scharfe Maßnahmen gegen Journalisten gerade recht kam, lag allerdings auf der Hand. Der Deutschlandfunk sandte daher schlichtweg niemanden nach China. Sportchefin Astrid Rawohl begründete das so:
"Wir berichten in unseren Sendungen vor allem über Sportpolitik und Hintergründe. Dafür muss man mit NGOs und Regimekritikern, aber auch mit der ganz normalen Bevölkerung sprechen können. Wenn das aber nicht möglich ist, ergibt es für uns wenig Sinn, jemanden nach China zu schicken."
ARD und ZDF schickten ebenfalls nur wenige Leute nach Peking. Weite Teile der Berichterstattung kamen – hier ist das Sport-Modell neben dem "MoMa-Modell" (Peer Schader) wegweisend für öffentlich-rechtliche Kooperationen – aus dem gemeinsam genutzten National Broadcast Center in Mainz. Für bis zu sechs verschiedene Livestreams. Die Präsentation der sportlichen Wettkämpfe war dadurch außergewöhnlich vielseitig – während die Berichterstattung aus dem Land des Geschehens außergewöhnlich wenig vielseitig sein konnte. Eigentlich ist das nicht die Idee, wenn öffentlich-rechtliche Anstalten Übertragungsrechte erwerben (siehe: die obige Begründung von ARD und ZDF, warum sie aus Katar berichteten – nämlich, um genau hinzusehen). Aber gewiss, es war der Pandemie und dem Schutz der Mitarbeitenden wegen auch eine außergewöhnliche Situation.
Was gut gelang: wie das ZDF versuchte, die Einschränkungen mit einer gewissen Hartnäckigkeit zu umgehen oder sie transparent zu machen. Reporter Nils Kaben etwa kommentierte die Eröffnungsfeier der Spiele so, dass sich die Chinesische Botschaft beim ZDF über "haltlose Menschenrechtsvorwürfe" beschwerte (in diesem Film etwa bei Minute 2:05), die natürlich keineswegs haltlos sind. Eines Tages machte er sich auf, den deutschen Sportler Eric Frenzel zu interviewen, der nach einem positiven Test unter intransparenten Bedingungen in einem Quarantänehotel festsaß. Man erfuhr in dem Beitrag dann ein bisschen was über Frenzel, aber vor allem einiges über die autoritäre Straffheit der Olympia-Organisation. Ja, so konnte man das machen.
Und dann war da noch dieses fröhliche leichte, einfache Sportfest – zu Hause
In der Rückschau passt es ins Bild, dass die aus deutscher Sicht schönste Sportgroßveranstaltung des Jahres eine eigene war: die European Championships in München – neun Europameisterschaften, die in erster Linie für Fernsehmedien an einem Ort gebündelt wurden und in einer Zeit im August stattfanden, in der sonst Fernsehsportflaute gewesen wäre. Die deutschen Medien verzichteten weitgehend darauf, sie tiefgehend zu analysieren. Es war super, und fertig. In München, bei der "SZ" fand man die Münchner Veranstaltung jedenfalls grandios. Und beim Bayerischen Rundfunk freute man sich auch. Über den, wie es in aller Bescheidenheit hieß, "herausragenden Erfolg für die ARD".
Es gab volle Stadien, es gab Bier, die Fifa und das Internationale Olympische Komitee machten keine absurden Vorgaben, und dann gewannen auch noch immerzu deutsche Sportlerinnen und Sportler. Hach – es war wohl ein bisschen wie Fußball von früher.