Kolumne: Der Altpapier-Jahresrückblick am 23. Dezember 2022 Plötzlich Prinzessin
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23. Dezember 2022, 09:00 Uhr
2022 war das Jahr der fiktiven und echten Royals. Durch Geschichten, Dokumentationen und die aktuelle Berichterstattung floss auffällig viel blaues Blut. Eine Kolumne von Jenni Zylka.
Vergiftet und mit Schwanzflosse
Prinzessinnen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Verrieten sie sich einst unmissverständlich durch Ballkleid, Krone und glänzende Augen im schneeweißen Antlitz, so kann man sich dessen heute nicht mehr sicher sein. Sogar der große Werteschützer und Bewahrer des Konservativismus, der US-amerikanische Disney-Konzern, unterwandert mittlerweile seine teilweise selbst erstellten Kriterien: In "Ralph reicht’s 2" lungerten 2018 die überschlanken, katzenäugigen, jungen Prinzessinnen diverser animierter Disney-Abenteuer gelangweilt in ihren Roben in einem Wartezimmer herum. Bis sie auf die Heldin des Films, die Rennfahrerin (und Prinzessin) Vanellope treffen, die ihnen erst mal T-Shirts und Jeans verpasst, und später das nicht nur für Disney-Prinzessinnen geltende Prinzip des männlichen Retters in Frage stellt. Hier ist ein Ausschnitt aus der großartigen Szene:
Vanellope: I’m a princess too! (…)
Pocahontas: What kind of princess are you?
Vanellope: What kind?
Rapunzel: Do you have magic hair?
Vanellope: No.
Elsa ("Frozen"): Magic hands?
Vanellope: No.
Cinderella: Do animals talk to you?
Vanellope: No.
Schneewittchen: Were you poisened?
Vanellope: No!
Tiana ("Küss den Frosch") und Aurora ("Dornröschen"): Cursed?
Vanellope: No!
Rapunzel und Belle ("Die Schöne und das Biest"): Kidnapped or enslaved?
Vanellope: No! Are you guys okay? Should I call the police?
Arielle, die Meerjungfrau: Then I have to assume you made a deal with an underwarter sea witch, where she took your voice in exchange for a pair of human legs?
Vanellope: No! Good lord! Who would do that?
Schneewittchen: Have you ever had true love’s kiss?
Vanellope: Eeew! Barf!
Jasmine ("Aladdin): Do you have daddy issues?
Vanellope: I don’t even have a mum!
Numerous princesses: Neither do we!
Rapunzel: And now for the million dollar question: Do people assume all your problems got solved because a big strong man showed up?
Vanellope: Yes! What is up with that?
All princesses: She’s a princess!
Pikante Eskalationen
Man sieht: Prinzessin als Thema geht immer. Als Harry und Meghan, akronymisch so sinnig wie missverständlich abkürzbar mit H&M, Anfang Dezember ihre lang erwartete Netflixserie veröffentlichten, publizierte die britische Daily Mail innerhalb von 24 Stunden satte 65 Artikel über die beiden, twitterte der Autor Edwin Hayward. Auch die deutschen Medien, hier zum Beispiel die ARD, spekulierten wie wild:
"Viel wurde im Vorfeld gemunkelt: Wie privat werden die Einblicke in das Leben der Ex-Royals? Wie pikant die Geheimnisse, die sie über das Königshaus ausplaudern?"
Pikant oder dann vielleicht eher fade war allerdings, dass dann – nach Meinung zum Beispiel der dpa, hier als Meldung im Tagesspiegel - die ganze Chose bislang doch nicht so eskalierte wie man es anscheinend schon genüsslich antizipierte:
"Die bereits in der vergangenen Woche drei veröffentlichten Folgen lösten bisher nicht die erwartete Eskalation aus. An diesem Donnerstag sollen drei weitere Episoden veröffentlicht werden, die womöglich mehr Zündstoff enthalten."
Uhhh, endlich, Zündstoff! Dem dann endlich veröffentlichten zweite Teil wurde damit von vorneherein antizipiertes Konfliktpotential untergeschoben. Die FAZ jedoch fand es dann nicht überzeugend, und mutmaßte eine schon Diana unterstellte Egozentrik als Grund jeglicher Eskalationen:
"Beim zweiten Schub der sechsteiligen Dokumentation geht es der königlichen Familie stärker an den Kragen als in den ersten drei vor einer Woche freigegebenen Folgen. Meghan stellt sich, wie einst Prinzessin Diana, als Opfer des Neides dar, weil sie eine Zeit lang prominenter in den Medien gestanden habe als andere Familienmitglieder, die Königin eingeschlossen."
Weiterhin wurde konstatiert, dass die ganze Serie eh nur der Imagepflege der Beteiligten diene. Was auch stimmt. Wozu sollte sie sonst gut sein?
"Harry aber – so soll uns weisgemacht werden – will es nicht wahrhaben. Er würde lieber zerstört werden, als das Spiel mitzuspielen. Wie David kämpft er gegen den Goliath der 'Mail', die unter anderem die Fehlgeburt Meghans auf dem Gewissen habe, und gegen die titanische Institution seiner Familie, deren Kälte ihn frieren lässt. Vor allem aber kämpft dieser verlorene Sohn um sein Glück. Er meditiert, er macht Yoga, er spielt mit seinen Kindern und fährt zu den Klängen von Xavier Rudds Lied 'Follow the Sun' an der kalifornischen Küste entlang, um sich und der Welt glauben zu machen, er sei jetzt frei wie ein Vogel."
Royale Besessenheit
Und das glaubt tatsächlich weder er noch die Welt. Dennoch ist die Serie, Imagepflege hin oder her, nicht uninteressant – "Es schreiben Menschen Bücher über mich, die ich noch nie getroffen habe", bringt Meghan Markle das eigentlich unverschämte Verhalten der royal Besessenen auf den Punkt, während ihr Mann das Verhalten der Presse seiner Familie gegenüber mit den Erlebnissen seiner Mutter vergleicht. Dazu werden Bilder von Lady Diana gezeigt, die nach einer langen Fotosession mit ihren noch kleinen Söhnen beim Skifahren essen geht, und auch dabei weiterhin von den Linsen der Fotograf:innen verfolgt und beobachtet wird. Diana nähert sich einem der Fotografen, und probiert, ihm ins Gewissen zu reden: "Als Elternteil versuche ich, meinen Kindern ein entspanntes Mahl zu gewährleisten – würden Sie ihnen bitte ein wenig Raum geben? Wir haben doch gerade lange für Sie posiert". "Da war ich nicht dabei", sagt der Fotograf, "und ich gehe nur weg, wenn ich noch ein exklusives Foto bekomme!".
So oder so ist H&Ms Selbstdarstellungscoup die Bilanz und die Quintessenz eines royal obsessiven Jahres auf allen Ebenen: Soviel Prinzessin und Königin wie im Jahr 2022 war schon lange nicht mehr. Faktische und fiktionale Darstellungen hielten sich dabei die Waage.
Zunächst steckte einem eh noch das Staatsbegräbnis von Prinz Philip im April 2021 in den Knochen, insbesondere der einsame Dudelsack und die faszinierend anstrengend wirkende Fingertechnik der Sargträger, mit der sie das Erdmöbel aus dem vom Prinzen designten Landrover fingerten (hier ab 0.25).
Bulimische Blaublüter
Schwer blaublütig ging es im neuen Jahr weiter: Im Januar 2022 kam das Drama "Spencer" von Pablo Larrain in die Kinos, ein – wie ich finde und auch hier in der taz beschreiben durfte – sehr bedrohliches Schlossspiel ("Kammerspiel" wäre im Falle des königlich-trutzigen Landsitzes Sandringham Estate das falsche Wort), in dem wenige psychologische Fakten über die traurige und mutmaßlich körpergestörte Prinzessin als Grundlage für ein solides Drama reichten. Dass sich am 31.8. der Todestag von Diana zum 25. Mal jährte, zog darüber hinaus einen ganzen Rattenschwanz an Verarbeitungsstücken mit sich (auch darüber durfte ich mir einen Überblick verschaffen und ihn hier in der taz kundtun).
Im September starb Queen Elizabeth II, und ihr an das alte Ägypten erinnerndes Staatsbegräbnis verstopfte die mediale Berichterstattung wochenlang mit Fakten über Pferde, Corgis und Kolonialzeiten (siehe AP hier, hier und hier). Und wenn nach den vielen vor der Kamera schniefenden und weinenden Inselbewohnerinnen und -bewohner jetzt noch jemand behauptet, die Briten und Britinnen seien zugeknöpft, und könnten ihre Gefühle nicht zeigen, dann irrt er: Der Tod ihrer langjährigen Königin schien als kollektive sentimentale Eruption die gesamte Insel zu erschüttern. Gemeinsam und wehmütig trauerte man um eine vage "bessere" Vergangenheit, in der all die modernen Probleme noch keinen Platz hatten.
Zeitgleich regte man sich über "The Crown" auf, Peter Morgans Historien-Serie, die sämtliche royalen Elisabeth-Geschichten (bis auf ihren Tod) fiktionalisiert und hervorragend gespielt als Häppchen anbietet, und damit ungemein erfolgreich ist – auch wenn sie quotenmäßig netflixintern von H&Ms eigener Dokuserie getoppt wurde, wie die Abendzeitung München berichtet:
"Laut Medienberichten sahen 2,4 Millionen Menschen in Großbritannien 'Harry & Meghan' bereits am ersten Tag der Veröffentlichung (8. Dezember 2022) auf dem Streamingdienst. Zum Vergleich: Die erste Folge der fünften Staffel der Royal-Serie 'The Crown' verfolgten am 9. November 'nur' 1,1 Millionen Zuschauer. Am 8. Dezember hatte Netflix die ersten drei Teile von 'Harry & Meghan' auf einen Schlag veröffentlicht. Teil 2 verfolgten an dem Tag immerhin noch 1,5 Millionen Menschen. Part 3 zog noch 800.000 an."
Aber kann man das Interesse an einer von den Dargestellten selbst produzierten Dokuserie überhaupt mit dem Interesse an einer gut gemachten, horizontal erzählten, auf wahren Tatsachen basierenden Dokufiktion vergleichen? "The Crown" sah sich jedenfalls immer wieder einerseits dem angeblichen Desinteresse des Palasts gegenüber, andererseits wollten anscheinend schon mehrere Mitglieder des Königshauses die Serie verklagen, unter anderem Prinz Philip, wie der Spiegel hier nachberichtete und damit die Sunday Times zitiert. (Was die Popularität der Serie selbstredend steigerte.) Eine so interessante wie absurde Diskussion um sogenannte "Disclaimer" folgte, die ahnungslosen Zuschauenden vermitteln, dass sie gerade Fiktion gucken, dass im Palast nicht 24 Stunden am Tag die Kameras laufen, und dass Charles eigentlich ganz anders aussieht, berichtet der Spiegel.
"Erst vor wenigen Tagen wurden erneut Forderungen gegen Netflix laut, die Serie mit einem Disclaimer zu versehen. Viele Zuschauer würden die gezeigten Geschichten als komplett wahr hinnehmen, so schrieb Oscar-Preisträgerin Judi Fench noch vor Start der Serie in einem offenen Brief. Sie forderte Netflix dazu auf, vor jeder Folge einen Hinweis anzubringen, dass es sich bei den gezeigten Szenen nicht um wahre Ereignisse handelt."
Ulkig. Dabei gibt es doch bereits einen bunten Disclaimerstrauß, aus dem man sich bedienen könnte, vielleicht auch alle zusammen: "Dieser Film basiert auf wahren Ereignissen", "Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist reinzufällig" und "Für diesen Film kam kein Rennpferd zu Schaden".
Kein Franzl, nur Sisi
Auch andere echte Prinzessinnen haben bekanntlich echte Probleme: 2022 war ein Sisi-Jahr. Marie Kreutzers Film "Corsage" kam im Juli in die Kinos, und zog einen Preisregen mit sich: Allein Hauptdarstellerin Vicky Krieps konnte sich über jede Menge Schauspielpreise (u.a. in Cannes und bei den Europäischen Filmpreisen) freuen. Die an Narzissmus grenzende Eigenwilligkeit der österreichischen Kaiserin lässt sich eben gut darstellen, und passt zu einer modernen Auseinandersetzung mit den Themen weibliche Selbstermächtigung und Fremdbestimmung. Und wurde sowohl in Ernst Marischkas 50er-Jahre-Träumen mit einer bezaubernden und perfekt ondulierten Romy Schneider…
Sissi (Romy Schneider) zu Franzl (Karlheinz Böhm):
"Immer sitzt du da an deinem Schreibtisch und… regierst. Ich weiß schon gar nicht mehr wie du ausschaust!"
… als auch in der gegen die authentische Steifheit und schauspielerischen Qualität der 50er Jahre-Darstellenden stark abfallenden modernen deutschen Serienproduktion "Sisi" weitgehend ignoriert.
Im März nächsten Jahres kommt eine weitere Abrechnung mit dem bulimisch-bemitleidenswerten kaiserlichen Freigeist in die Kinos: Frauke Finsterwalders aus der Sicht einer Hofdame erzähltes Drama "Sisi und ich".
Feudalistische Narrative
Festzustellen ist also, dass die (Liebes-)Geschichten über Adlige sich längst über den Groschenheft-Status erhoben haben, und auf einem ganz anderen Niveau als in den Goldenen Blättern und "Bunte"-Magazinen dieser Welt stattfinden. Denn eigentlich geht es nie nur um zwei, die sich kriegen (sollen), und von denen der (oder die) eine sein blaues Blut aus unschuldiger, reiner Liebe mit dem bürgerlichen Blut des (oder der) anderen verpanscht.
Stattdessen bestehen genau daraus unsere ältesten Narrative. Auf der einen Seite nutzen wir Märchen als vom Feudalismus geprägte, moralisch-dramatische Unterhaltung. Andererseits bieten Theaterstücke, Romane und Historien über arme, reiche Adlige Möglichkeiten zum Eskapismus. Darum beißen wir bei solchen Dramen, selbst wenn wir die schlichte Struktur durchschauen, auf geradezu archaische Weise an. Die Geschichten über Aristokratinnen und Aristokraten und ihre problematischen Coming-of-Age- oder Souveränitäts-Bestreben stehen schon sehr lange sinnbildlich für Selbstbefreiung (siehe Prinzessin Vanellope). Dass man Menschen, die vermeintlich keine finanziellen Probleme haben, damit dennoch ein Recht am Leiden und am Ausbruch zuspricht, das ist die große Herausforderung moderner royaler Erzählungen. Und ist darüber hinaus romantisch – und hübsch humanistisch.