Antragsfrist verlänert bis 30. Juni 2021 Kindheit im Heim: Was die Stiftung Anerkennung und Hilfe leisten soll
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08. Oktober 2020, 15:44 Uhr
Ein Leben mit vielen Entbehrungen – das war oft der Alltag von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrien. Im Westen genauso wie im Osten Deutschlands. Häufig lebten sie von der Gesellschaft abgeschottet, hinter Mauern. Viele wurden geschlagen, manche sexuell missbraucht. Selbstbestimmung und Teilhabe, wie wir sie heute kennen, waren damals für die meisten unerreichbar. Bis Ende des Juni 2021 können sie von der Stiftung Hilfe bekommen.
Noch heute leiden Hunderttausende Menschen an den Folgen von schlechter Behandlung in Behindertenheimen und Psychiatrien. Viele können nicht schlafen, sind depressiv oder wütend. Die Stiftung Anerkennung und Hilfe unterstützt diese Menschen. Sie zahlt eine Einmalpauschale in Höhe von 9.000 Euro und für geleistete Arbeit einen Rentenersatz von bis zu 5.000 Euro. Bettina Monse, Leiterin der sächsischen Beratungsstelle mit Sitz in Leipzig, bezeichnet dieses Geld nicht als Entschädigung, sondern als symbolische Entschuldigung an jede und jeden Einzelnen.
Natürlich kann man in dem Sinne nichts entschädigen. Wir können auch keine Erinnerungen auslöschen. Wir können nur versuchen, dass die Menschen mit ihren Erfahrungen anders umgehen. Und die Hilfen stellen eine Möglichkeit dar, eine neue positive Erfahrung zu machen, die sich dann versöhnlich über die alte legt.
Dieses Geld können die Betroffenen ganz individuell und selbstbestimmt nutzen. Anhand der Unterlagen und in persönlichen Gesprächen prüft die Stiftung, wer Anspruch auf Unterstützung hat.
Wie Sie sich an die Stiftung Anerkennung und Hilfe wenden können
Die Stiftung Anerkennung und Hilfe richtet sich an Menschen, die als Kinder und Jugendliche zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik Deutschland bzw. zwischen 1949 und 1990 in der DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie untergebracht waren und heute noch an den Folgen leiden.
Betroffene können sich bis zum 31. Dezember 2020 melden.
Die Stiftung hat in allen Bundesländern Beratungsstellen.
Das Infotelefon ist erreichbar unter 0800 221 2218.
"Es waren zu viele Kinder auf einem Haufen"
Einer von vielen Betroffenen, die sich bei der Stiftung gemeldet haben, ist Klaus Brünjes aus Rotenburg an der Wümme in Niedersachsen. Mit zwei Jahren erkrankte er an Kinderlähmung. 1963, im Alter von fünf Jahren, kam er in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission. Weil es damals nur wenige Einrichtungen für Kinder mit einer körperlichen Behinderung gab, wohnte Klaus Brünjes auf der Station für schwer geistig behinderte Kinder.
Auch Madlen Leuschel aus Erlau in Sachsen hat sich bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe gemeldet. 1981 kam sie mit einer Muskelerkrankung zur Welt. Sie musste eine Körperbehindertenschule in Karl-Marx-Stadt besuchen und im Internat wohnen. Ihre Familie konnte sie nur noch an den Wochenenden sehen. Diese Trennung liegt schwer auf ihrer Seele. Madlen Leuschel hat noch immer Probleme damit, fremden Menschen zu vertrauen. Ihre Familie übernimmt die Betreuung, denn Madlen möchte nie wieder in ein Heim. Und dennoch wünscht sie sich ein selbstbestimmteres Leben.
Gespräche rufen Erinnerungen wach
Vielen, die in ihrer Kindheit Leid und Unrecht erfahren haben, fällt es schwer, heute darüber zu sprechen. In Sachsen haben sich etwas mehr als 2.000 Menschen bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe gemeldet. Beraterin Bettina Monse wünscht sich, dass sich noch mehr bei ihr melden. Bis zum 30. Juni 2021 haben nun Betroffene - nach einer Verlängerung -deutschlandweit noch die Möglichkeit dazu. In ihren vielen Gesprächen merkt Bettina Monse immer wieder, wie gut es den Betroffenen tut, über das Erlebte zu reden, auch wenn sie anfangs mit sich hadern.
Wir versuchen, eine angenehme Gesprächssituation herzustellen, in der man sich fallen lassen und Vertrauen gewinnen kann. Es soll nicht schrecklich sein, die alten Geschichten 'anzufassen', sondern am Ende eine große Erleichterung sein.
Auch Elke Kittelmann hatte als Kind lange Zeit keine Vertrauensperson. Sie wurde schwerhörig geboren. Ab 1954 besuchte die damals Siebenjährige die Samuel-Heinicke-Schule für hörgeschädigte Menschen in Leipzig, 45 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort. Dort sollten die schwerhörigen Kinder in erster Linie lernen, sich der hörenden Welt anzupassen. Gebärdensprache, wie wir sie heute kennen, war damals verboten. Die Kinder sollten sprechen lernen, auch Lippenlesen wurde täglich geübt. Eine weitere Belastung: die strenge Erziehung auf dem Internat.
Mit den Jahren gewöhnte sich Elke Kittelmann immer besser an die Gegebenheiten auf dem Internat. Heute blickt sie trotz alledem dankbar auf einen Großteil ihrer Schulzeit zurück, die ihr das Studium und eine Arbeit als Ingenieurin ermöglicht hat.
Akzeptanz der Vergangenheit
Damals gab es für Kinder mit Behinderung oft keine andere Lösung als die Unterbringung in einem Heim – sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands. 30 Jahre nach der Wende und zehn Jahre nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ist die Inklusion vielerorts schon vorangeschritten. Dass sie hart erkämpft ist, zeigen die Erinnerungen von Menschen wie Elke Kittelmann, Madlen Leuchsel und Klaus Brünjes. Dass noch viel zu tun ist, zeigen die vielen Anträge, die die Stiftung Anerkennung und Hilfe zu bearbeiten hat. Mit der Aufarbeitung dieses Kapitels der deutsch-deutschen Geschichte dürfte zum Ende des Jahres noch nicht Schluss sein.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt – das Magazin | 18. Oktober 2020 | 08:00 Uhr