Montag, 07.10.2024: Was wir nicht von Menschen erwarten
Menschen können tun, was wir nicht von ihnen erwarten. Wie konnte der unvorstellbare Angriff der Hamas vom Gazastreifen aus heute vor einem Jahr mitten ins ungeschützte Leben hineinschneiden? Am Fest der Freude über die Tora ereilte die Nachricht viele jüdische Menschen in Israel und in aller Welt. Ein schwarzer Schabbat. Erst Raketen, dann Kämpfer, die Grenzzäune an achtzig Stellen durchbrochen und in den folgenden Stunden über 1200 Menschen ermordet, viele Hunderte verletzt und mehr als 240 Geiseln entführt, viele noch bis heute gefangen. Menschen haben das getan. Als wären sie keine Menschen mehr. Müssen wir das Unmenschliche von Menschen erwarten?
"Denn siehe deine Feinde toben, und die dich hassen, erheben das Haupt" heißt es in Psalm 83. "Wohlan", sprechen sie. "Lasst uns sie ausrotten, dass sie kein Volk mehr seien und des Namens Israel nicht mehr gedacht werde!" Jahrtausendealte Worte, die beschreiben, was immer wieder geschieht. Was an Juden immer wieder geschieht, auch in ihrer Heimstatt Israel.
An diesem Jahrestag will ich das beklagen zusammen mit dem unvorstellbaren Leid, das in Israel, im Gazastreifen, im Westjordanland und überall daraus erwachsen ist und das zum Himmel schreit. Ich will das Leid beklagen, das wie Mehltau auf den Seelen von Menschen lastet, die nichts mehr ersehnen als Gerechtigkeit und Frieden. Ich will Gott meine Klage entgegenrufen. Und ich will sie auch denen entgegenschreien, die durch ihr Tun und ihr Nichtstun für diese Katastrophe Schuld tragen. Aber da stehe ich wohl schnell zwischen anderen, die auch mich anschreien!
Menschen können tun, was wir nicht von ihnen erwarten. Es ist realistisch, mit dem Bösen und mit dem Schlimmsten zu rechnen. Aber ist es nicht ebenso berechtigt, selbst bei meinen Feinden, mit dem Verletzbaren und mit dem Menschlichen zu rechnen? Auch wenn ich es nicht von ihnen erwarte? Müssen wir es nicht von ihnen erwarten? "Wieviel Blut muss noch vergossen werden," fragt der Israeli David Grossman, "bis wir einsehen, dass Frieden die einzige Option ist." Ich glaube und bete, dass Menschen tun, was wir noch nicht von ihnen erwarten!