Dienstag, 08.10.2024: Gruppe der 20
Menschen können tun, was wir nicht von ihnen erwarten. Heute vor 35 Jahren gelang es zwei katholischen Kaplänen in einer eingekesselten Demonstration in Dresden auf Volkspolizisten zuzugehen und für einen gewaltfreien Dialog einzutreten. Die beiden Priester trugen mit anderen dazu bei, dass eine Situation entschärft werden konnte, die unter dem Eindruck der Ausreisewelle gerade um den 40. Jahrestag der DDR auf beiden Seiten von Wut und Angst aufgeheizt war.
So entstand inmitten der Demonstration am 8. Oktober 1989 die Gruppe der 20, die von den DemonstrantInnen gewählt wurden und am folgenden Tag eine Mittlerrolle zwischen den Menschen auf der Straße und der Stadtregierung von Dresden unter dem damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer einnehmen sollte. Die Ergebnisse des ersten Gesprächs wurden in vier Stadtkirchen von Dresden der Öffentlichkeit mitgeteilt. Die Gruppe der 20 bekam eine bedeutende Rolle in den kommenden Wochen und fand Nachahmung in anderen Städten der DDR. Sie hatte später sogar Einfluss auf das Neuentstehen des Freistaates Sachsen und seine Verfassung.
Menschen können tun, was wir nicht von ihnen erwarten. "Von uns selbst nicht erwartet", erklärte die Gruppe der 20, "haben wir bei vielen Bürgern der Stadt Dresden große Hoffnungen geweckt...". Gewaltfreie Interventionen können tatsächlich oft Unerwartetes erreichen. Und zwar genau deshalb, weil sie einfach in den Raum stellen, dass das unbekannte Gegenüber genauso Mensch ist wie ich, auf Vernunft und Mitgefühl ansprechbar und genauso wie ich nach Leben und Frieden sucht. Das weiß man anfangs nicht und es ist ein großes Wagnis, einem von Angst und Wut getriebenen Gegner entgegenzugehen.
Aber so verstehe ich auch das Wort von Jesus: "Wenn dich einer auf deine rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin." (Mt 5,39) Jesus lädt nicht ein zur Unterwürfigkeit. Vielmehr macht er Mut, dem Anderen aufrecht entgegenzutreten: "Willst Du mich wirklich schlagen? Fällt Dir nichts anderes ein?" Heute vor 35 Jahren hat genau das Veränderung bewirkt.